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Mars: Endstation Sehnsucht im All

Foto: DPA / NASA / ESA / Hubble

Mars Der zauberhafte Angstplanet

Ist er von freundlichen Intelligenzlern oder brutalen Monstern bewohnt? Besitzt er Kanäle und Wälder? Kein Planet hat bei Menschen solche Ängste und Sehnsüchte ausgelöst wie der Mars. Forscher glauben, dass er eines Tages sogar zur zweiten Heimat der Menschheit werden könnte.
Von Karlheinz und Angela Steinmüller

Am Abend des 30. Oktober 1938, einem Sonntag, überfallen die Marsianer die Vereinigten Staaten. Der New Yorker Rundfunksender CBS berichtet live. Tentakelbewehrte Wesen mit riesigen Augen, V-förmigen triefenden Mündern steigen aus Raumschiffen, dann kreist ein gleißender Todesstrahl ins Rund, trifft die gaffende Menge. Autos explodieren - die Übertragung bricht zusammen. General Montgomery Smith stellt die ganze Region unter Kriegsrecht.

Mars

Offensichtlich verfügen die Marswesen über marschierende Maschinen mit Hitzestrahl-Kanonen. Ein Reporter berichtet vom CBS-Hochhaus mitten in New York: wie die -Maschinen über den Hudson River heranmarschieren, über das Verkehrschaos auf den Brücken, Menschen, die sich in den Fluss stürzen. Und über eine schwarze Giftwolke, die sich dem Dach des Sendehauses nähert...

Orson Welles

Die Sendung wird unterbrochen. , der Regisseur, weist darauf hin, dass es sich nur um ein Hörspiel handelt. Dennoch löst die Sendung unter den rund 32 Millionen Zuhörern eine Massenpanik aus. Tausende laufen auf die Straßen, weil sie glauben, das Ende der Welt sei gekommen. Auf den Straßen spielen sich dramatische Szenen ab, weil viele gleichzeitig mit dem Auto aus den Großstädten fliehen wollen, die Telefonleitungen sind überlastet, und selbst Gottesdienste werden abgebrochen. Die ganze Nacht hindurch hält die Panik an.

Freilich würde in besonneneren Minuten ein Durchschnittsamerikaner die Attacke von Marsianern durchaus als Ausgeburt einer Science-Fiction-Spinnerei erkennen. Und Orson Welles hat mehrfach an diesem Abend erklärt, all dies sei nur "fiction", "Theater im Radio", frei nach dem Roman von H. G. Wells "Der Krieg der Welten" von 1898 gestaltet. Wie tief müssen die Zukunftsängste sitzen, wie hoch die Anspannung, dass man diese klaren Signale überhört?

Projektionsfläche und Fernziel der technischen Phantasie

Der Mars nimmt einen ganz besonderen Ort ein in der Phantasie der Menschheit. 55 Millionen Kilometer trennen uns im günstigsten Fall vom roten Planeten, dem erdnächsten Wandelstern. Dennoch haben ihn die Menschen immer wieder besucht: Zuerst nur mit ihren Blicken und Gedanken, dann mit astronomischen Instrumenten, schließlich mit Erkundungsrobotern. Insbesondere seit der Moderne gilt er als gleichzeitig messbar und doch ungreifbar, Projektionsfläche und Fernziel der technischen Phantasie: Warte nur, Mars! Bald kommen wir selbst!

Die Geschichte beginnt mit Verleumdung und übler Nachrede. Als Verkörperung des Kriegsgottes hatte Mars seit der Antike einen ausgesprochen schlechten Ruf. "Er blitzt mit rotem Scheine, und mit feurig rotem Lichte speit er drohende Flammen aus", schreibt noch im 17. Jahrhundert der Jesuitenpater Athanasius Kircher. Mit rauchenden Vulkanen, Lavaströmen und einem arsenikgeschwängerten Boden erschien der Mars feindselig.

Dies änderte sich vor anderthalb Jahrhunderten, als immer bessere Fernrohre neue Details enthüllen: helle Flächen an den Polen: mutmaßlich Eis. Dunkle Flächen: mutmaßlich Meere.

Rätselraten über die Marskanäle

Dann kamen die Marskanäle: 1877 entdeckte der italienische Astronom Giovanni Schiaparelli feine Linien auf der Marsoberfläche, hunderte Kilometer lang. Er nannte sie auf seinen Marskarten - den besten seiner Zeit - "canali". Italienisch hieß das kaum mehr als Rillen, doch so genau hielten es die Übersetzer damit nicht: die Marskanäle waren geboren. Wie sonst hätten riesige geometrische Strukturen auf der Marsoberfläche entstehen können, wenn nicht durch die Hand vernunftbegabter Wesen?

Diese filigranen Strukturen entzogen sich bisweilen den Blicken, um später wieder deutlicher hervorzutreten. Handelte es sich also um einen jahreszeitlichen Wandel? Wucherte im Marsfrühling eine üppige unirdische Vegetation links und rechts der künstlichen Wasserläufe, um am Ende des Marssommers zu verdorren? Denn so viel war klar: Wasser musste auf dem stets rötlich gefärbten Planeten rar und kostbar sein.

Also war anzunehmen, dass die Marsbewohner gigantische landwirtschaftliche Bauwerke errichten, mit denen sie das Schmelzwasser von den Polen in äquatoriale Regionen führen - und diese Kanäle sprachen zugleich für die hohen technischen Fähigkeiten ihrer Konstrukteure. Da nach den damals gängigen astronomischen Theorien der Mars um Jahrmillionen älter als die Erde war, sollten auch seine Bewohner uns weit, weit voraus sein... Wieviel würden wir Menschen von ihnen lernen können!

Der Mars geht zum Angriff über

An Vorschlägen, mit den Marsbewohnern zu kommunizieren, mangelte es nicht. Vielleicht sollte man Gräben in der Sahara ziehen, lang wie die Marskanäle, in Gestalt des Pythagoreischen Lehrsatzes, sie mit Petroleum füllen, anzünden - ein Flammenzeichen aussenden! Oder besser riesige Schneisen in die sibirische Taiga schlagen? Hier sind wir, die Erdbewohner, beherrschen a2 + b2 = c2! Oder vielleicht sollten wir doch lieber mit gigantischen Scheinwerfern Lichtdepeschen senden? Um 1900 hieß es, Guglielmo Marconi hätte mit seinen funkentelegrafischen Apparaten Signale der Marsbewohner aufgefangen.

Damals gelten die Marsianer als eine überlegene Zivilisation, die die Menschheit vor einem nahenden Kometen warnt, wie der französische Astronom Camille Flammarion in einem Roman erzählt.

1897/98 war es aus mit dem Austausch von freundlichen Grußbotschaften. Der Mars geht zum Angriff über. Überall in England und auch auf dem Kontinent schlagen die zylinderförmigen Geschosse vom Mars ein, spucken riesige dreibeinige Kampfmaschinen aus, die mit Hitzestrahl und Gas die Menschen niedermetzeln, die Städte in Schutt und Asche legen. Der erste Krieg der Welten hat begonnen, anderthalb Jahrzehnte vor dem Ersten Weltkrieg - die Vorlage für die Radiosendung, die am Vorabend des Zweiten Weltkriegs in den USA für Panik sorgen sollte.

Herbert G. Wells

Der Planet des Kriegsgottes macht Ernst im Roman von : Höchstentwickelte Intelligenzwesen vom Mars saugen den Menschen das Blut aus! Der Menschheit droht die Ausrottung. Doch Wells gibt uns noch eine Chance: Bakterien, längst ausgestorben auf dem Mars, infizieren die außerirdischen Blutsauger. Bald fand Wells Nachahmer diesseits und jenseits des Ärmelkanals. Urteilt man nach den Schaufenstern der Buchläden jener Zeit, dann fürchteten die Briten drei Invasorenheere: die der Franzosen, der Preußen und der Marsianer.

Endstation Sehnsucht für Forscher

Der Mars dient als Projektionsfläche für die Ängste und die Hoffnungen einer wissenschaftlichen Zivilisation. Alexander Bogdanow schildert 1908 einen "Roten Planeten", der seinem Namen politisch alle Ehre macht: Auf ihm herrscht eine kommunistische Gesellschaft. Auch Alexei Tolstoi, frisch zurückgekehrt aus dem Pariser Exil, lässt 1922 einen russischen Ingenieur und einen Rotarmisten auf den Mars fliegen. Sie platzen gerade rechtzeitig in eine Revolution, die Ausgebeuteten drohen zu unterliegen; sollte da nicht das Proletariat der Erde eingreifen? Tolstois "Aëlita" wird zum Ausgangspunkt der sowjetischen Science Fiction - und vieler Romane um die "interplanetarische Revolution".

Kein Gestirn ist so dicht mit Phantasiewesen besiedelt worden wie der Mars. Doch irgendwann schrumpfte die fiktive Bevölkerung. Ray Bradburys Erzählungszyklus "Marschroniken" von 1950 kann als der lyrische Abgesang auf das Goldene Zeitalter der Marsianer gelten. Bald darauf sind sie nur noch eine romantische Erinnerung. Oder Witzfiguren in Gestalt kleiner grüner Männchen.

In der Zwischenzeit aber hatte sich die Wissenschaft mehr und mehr des Mars bemächtigt. Er wird zu einer Wüste mit endlosen Sand- und Geröllflächen, mit den Resten riesiger Einschlagkrater, mit gewaltigen Gebirgen - wasserlos, leblos, trostlos. Und dennoch bleibt er die Endstation Sehnsucht für Forscher. 1952 entwirft Wernher von Braun ein grandioses "Marsprojekt". In einem Disney-Animationsfilm fliegt eine Flottille eleganter, kreiselförmiger Raumschiffe zum Roten Planeten. Kühne Forscher in staubdichten Raumanzügen stapfen unter einem schwarzen Taghimmel über die roten Sanddünen des Mars.

Ein gutes Jahrzehnt später schickt die Sowjetunion die ersten unbemannten Sonden Richtung Mars, wenig später zieht die Nasa nach. Doch die Geschichte der Marsforschung ist von Anfang an auch eine Geschichte von Pleiten, Pech und Pannen, von Sonden, die am Roten Planeten vorbeischießen, von Landekörpern, die beim Eintritt in die dünne Marsatmosphäre verstummen oder auf dem Boden zerschellen. Und selbst wenn sie ihr Ziel erreichen, bricht allzu oft nach den ersten Signalen der Kontakt ab. Fast möchte man glauben, dass die Marsmännchen alles daran setzen, nicht entdeckt zu werden.

Die technische Eroberung des Mars bedeutet nicht seine Entzauberung

Immer wieder blüht die Mythenbildung: Angeblich zuckeln die Marsmonde Phobos und Deimos ein winziges Stück hinter den berechneten Positionen her. Sind sie hohl, also künstlichen Ursprungs? 1976 entdeckt der "Viking Orbiter 1", der den Mars wie manche Sonde vor ihm fotografiert und kartographiert, das "Marsgesicht" - eine Formation auf der Marsoberfläche, die verblüffend an ein menschliches Gesicht erinnert. Eine Botschaft an uns? Wie die Marskanäle löst sich auch das Marsgesicht bei schärferer Beobachtung in wenig spektakuläre Details auf.

Was die "Viking"-Sonden, die 1976 im Marsboden graben, ermitteln, klingt zunächst trist: kein Hinweis auf organisches Leben, eine dünne, kalte, saure Atmosphäre, die im Wesentlichen aus Kohlendioxid besteht. Kurzum: eine grandiose, allerdings lebensfeindliche Welt. Doch die technische Eroberung des roten Planeten bedeutet nicht seine Entzauberung - im Gegenteil. Die Hoffnung auf ein Schwestergestirn der Erde erlischt nicht, sondern wird durch die Raumsonden erst recht befeuert: Vielleicht hat es früher ja auf dem Mars günstigere Bedingungen gegeben, bevor ein Großteil der Atmosphäre und das meiste Wasser in den Kosmos entwich? Uralte Gräben und Flusstäler sprechen dafür, dass der Mars einst eine feuchte Lufthülle hatte.

Als zwei Jahrzehnte nach "Viking" das Roboterauto "Sojourner" über die Marsoberfläche rollt, befinden wir uns schon im Internet-Zeitalter. Millionen verfolgen die Fahrt des von Sonnenenergie betriebenen Rovers - die Fortsetzung der Science Fiction mit technischen Mitteln. Was für ein Drama, was für ein Cliffhanger: Uns stockt der Atem, als sich unsere Vorhut beinahe an einem Stein festfährt. Die Bilder sind in der Zwischenzeit so genau geworden, dass wir, wenn auch nur in der Simulation, über die steinige und sandige Marsoberfläche spazieren und den höchsten Berg des Sonnensystems bestaunen können: Olympus Mons mit seiner Höhe von 22.000 Metern - fast dreimal so hoch wie der Mount Everest.

Terraforming heißt das Zauberwort

Trotz aller Enttäuschungen geht die Suche nach verborgenen Oasen des Lebens fort. Vielleicht verbergen sich primitive Lebensformen im Methaneis an den Polen oder unter der Oberfläche? Wird uns der Rover "Curiosity", den die Nasa 2011 auf den Roten Planeten transportieren will, mehr Aufschluss bringen?

Um 2030 könnten endlich Menschen erstmals den Fuß auf einen fremden Planeten setzen. Pläne und Absichtserklärungen gibt es genug. Vielleicht wird ein erneutes Space Race, diesmal mit den Chinesen, Astronauten oder Taikonauten auf den Mars befördern?

Vielleicht sollten wir froh sein, wenn auf dem Mars kein Leben entdeckt wird: Dann gibt es auch keine Probleme mit dem Naturschutz, wenn wir den Roten Planeten dereinst einmal besiedeln wollen. Terraforming heißt das Zauberwort: Wir verwandeln den Mars in eine zweite Erde! Der Science Fiction-Autor Kim Stanley Robinson hat es in der Romantrilogie "Roter Mars", "Blauer Mars", "Grüner Mars" beschrieben, einschließlich der Konflikte unter den interplanetarischen Kolonisten.

Der Mars befindet sich noch in der habitablen Zone um die Sonne. Zwar gefriert im eisigen Marswinter Kohlendioxid, doch mit sommerlichen Tageshöchsttemperaturen über dem Nullpunkt ist der Mars fast eine zweite Erde. Für die Pionierzeit bieten die Marshöhlen Schutz. Alle notwendigen Ausgangsstoffe für eine Atmosphäre finden wir im Marsboden. Mikroorganismen könnten die Umwandlungsarbeit für uns erledigen. Ein wenig Treibhauseffekt könnte dabei wohl auch nicht schaden. Wir müssten lediglich einige Jahrtausende Geduld aufbringen. Als eine Ersatz-Erde, für den Fall, dass wir irgendwann die gute alte Terra ausgepowert haben, stünde der Mars allerdings erst reichlich spät zur Verfügung.

Aus: "Mekkas der Moderne - Pilgerorte der Wissensgesellschaft" , eine Kooperation zwischen SPIEGEL ONLINE und der Jungen Akademie der Wissenschaften Berlin-Brandenburg.