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Glaubenssache Wunder geschehen – zu Gast bei Menschen, die Unerklärliches erlebt haben

Birthe Krabbes hat heilende Hände. Und ihr Mann Carsten überlebte Unfall und Koma
Birthe Krabbes hat heilende Hände. Und ihr Mann Carsten überlebte Unfall und Koma
© Hardy Mueller/stern
Weihnachten feierten die Christen ihr Mysterium. Diese wiederkehrende Geschichte nährt die Sehnsucht, dass im Leben Großes geschehen kann. Zu Gast bei Menschen, die Unerklärliches sammeln, einordnen, bewerten und auch selbst erlebt haben.

Und was, wenn sie stimmt? Diese unglaubliche Geschichte? Vom großen Gott, der klein wird? In Windeln gewickelt, zu Bethlehem geboren? Der Mensch wird und Wunder wirkt? Blinde sehend und Lahme gehend macht?

Carsten Krabbes lächelt. Er ist evangelischer Pastor. Alle Jahre wieder erzählt er vom Christuskind. Und vom Walten Gottes in der Welt. Es gelingt ihm mal mehr, mal weniger gut. "Aber wirklich irre ist", sagt Krabbes, "wenn man nicht nur von Wundern spricht. Sondern selbst welche erlebt hat."

"Miraculum"

Der Pfarrer sitzt auf einem Sofa, es gibt Kaffee und Kuchen. Neben ihm seine Frau, die auch viel erzählen kann, aber nicht jetzt. Carsten Krabbes ist sofort beim Du; sein heiteres Wesen passt so gar nicht zu dem Wahnsinn, den er hinter sich hat.

Da war dieser Autounfall. Nach Blitzeis gegen einen Baum. Frontal. Keine Chance. Sein Körper lag über der Mittelkonsole, wie tot. Und doch war ihm wohlig warm, so ist seine Erinnerung. Er sah sich in einem strahlend schönen Licht, wie noch nie in seinem Leben. Wäre der Fahrer hinter ihm nicht Feuerwehrmann gewesen und geistesgegenwärtig, Carsten Krabbes wäre innerlich verblutet. Sein Retter rief die Kameraden. Sie werden sehr große Schmerzen haben, wir ziehen Sie nun aus dem Wagen; Krabbes schrie fürchterlich, alle Rippen waren gebrochen. Dann hob ein Hubschrauber ab in den Himmel, in dem er sich kurz zuvor noch wähnte. Meine Seele, sagt Krabbes, hatte den Körper schon verlassen.

Am Ostrand der Vogesen erhebt sich das Kloster der Heiligen Odilie hoch über der Rheinebene. Zu Füßen des Felsens entspringt eine Quelle. Ihr Wasser soll heilen.
Am Ostrand der Vogesen erhebt sich das Kloster der Heiligen Odilie hoch über der Rheinebene. Zu Füßen des Felsens entspringt eine Quelle. Ihr Wasser soll heilen.
© Hardy Mueller/stern

Die Milz konnten die Ärzte nicht retten, Krabbes' Abwehr blieb schwach. Die Hirnhaut entzündete sich. Die Krankheit kroch in seinen Kopf, der Pfarrer fiel ins Koma. Und wieder überlebte er. Ein Wunder, sagten die Leute.

Wunder. Es ist eines unserer schönsten Wörter. Wir nehmen es in den Mund, wenn es uns die Sprache verschlägt und wir vor einem Rätsel stehen. "Miraculum", wie die Römer sagten. Wenn möglich wurde, was als unmöglich galt. "Wunder", sagte der Kirchenvater Augustinus, "geschehen nicht im Widerspruch zur Natur. Sondern im Widerspruch zu dem, was uns über die Natur bekannt ist."

Nun wissen die Menschen, bei aller angebrachten Bescheidenheit, mittlerweile ziemlich viel über die Natur der Dinge. Gerade erst ist es uns gelungen, einen Roboter auf den Mars zu schicken und aus bis zu 400 Millionen Kilometer Entfernung zu steuern. Menschen können in die Sterne schauen und Tunnel schaufeln unter dem Meer. Was da passiert zwischen Himmel und Erde, haben sie in mathematische Formeln gepackt und in physikalische Gesetze. Im Großen und Ganzen gibt es für ziemlich viel eine Erklärung.

Für Christen sind Wunder göttliches Wirken

Aber dann kommen Tage, an denen wir wollen, dass die Hoffnung über die Erfahrung siegt. Dass etwas passiert, was über uns hinausweist. Dass, wenn wir uns am Ende unserer Kraft fühlen, doch ein neuer Anfang gelingen kann. Gegen jedes Wissen, gegen jedes Messen, gegen jede Logik. Jenseits des Verstands berührt zu werden – diese Sehnsucht macht uns zu Menschen. "Der Mensch, der die Fähigkeit verloren hat, sich zu wundern und in Ehrfurcht aufzugehen", sagte der Naturwissenschaftler Albert Einstein, "ist so gut wie tot."

Glaube, Liebe, Hoffnung, diese drei lassen uns träumen, dass der Schöpfer, das Schicksal, wer und was auch immer, Barmherzigkeit walten lässt und Ausnahmen gewährt vom Regelwerk. Dass mal ein Mirakel möglich wird, ein Zauber; ach wie schön das wäre, bitte, bitte, lieber Gott. Wenn wir nur genug beten und betteln.

"Wuntar", das alte deutsche Wort für Wunder, ist vermutlich verwandt mit "Verlangen" oder "Wunsch".

Für Christen sind Wunder Zeichen göttlichen Wirkens. Ein Fingerzeig. "Sie sind", sagt Prälat Wilhelm Imkamp, "der Aperitif des ewigen Lebens." Das da kommen soll für den, der glaubt.

Die Statue der Heiligen Maria von Akita in Japan soll mehrfach Tränen vergossen haben
Die Statue der Heiligen Maria von Akita in Japan soll mehrfach Tränen vergossen haben
© hfr

Der Geistliche empfängt seine Gäste in einer alten Zelle des ehemaligen Klosters Sankt Emmeram in Regensburg, dem heutigen Schloss derer von Thurn und Taxis. In einem herrschaftlichen Zimmer mit hoher Decke und Vorhängen aus schwerem Brokat. Es ist seine Privatbibliothek mit in Schweinsleder gebundenem Wissen. Alte Bücher aus alter Zeit, als die Menschen wundergläubig waren und gottergeben. Kann man heute so nicht mehr sagen; nur mehr jeder dritte Deutsche glaubt, dass Gott die Welt erschaffen hat. Wunder aber halten weit mehr für möglich, mehr als 50 Prozent.

Die katholische Kirche verfügt seit Jahrhunderten über eine Fachabteilung für Wunder. Es ist die Selig- und Heiligsprechungskongregation des Papstes. Hier prüfen Mediziner, Naturwissenschaftler und Theologen, welche Menschen in den Heiligenstand befördert werden sollen. Die Hall of Fame der Kirche. Einlass erhalten Männer und Frauen, die "über Gebühr geliebt und geglaubt haben", sagt Prälat Wilhelm Imkamp. Aufnahmebedingung ist in der Regel, mindestens ein Wunder bewirkt zu haben. Ohne dieses keine Karriere zur "Ehre der Altäre".

"Supra"

Das kann kompliziert werden. Was ist ab wann ein Wunder? Und wie, bitte, soll es bewiesen werden? Wer nichts weiß, muss alles glauben. Also, was kann man wissen über Wunder? "Sie sind vor allem eine Ausnahme in der natürlichen Ordnung", sagt Imkamp. 30 Jahre lang war er einer der rund 80 Konsultoren, die in Rom kirchenhistorisch wie auch theologisch einzuordnen versuchten, ob die Geschichten für wahr galten, die da erzählt wurden über womöglich Heilige. Oder ob im Laufe der Zeit das Blaue vom Himmel gelogen wurde. "Das erste Wunder", sagt Imkamp, "mit dem ich zu tun hatte, hielt ich für einen Betrug. Aber später wurden uns zahlreiche Ereignisse bekannt, welche uns das Geschehen verständlich erscheinen ließen."

Manchmal sei der Versuch unternommen worden, die Beförderung mit einer großherzigen Spende ein wenig zu beschleunigen. Es wurden zuletzt viele Leute heilig gesprochen in Rom. Fides ecclesiae, dem Glauben der Kirche, kann mitunter nachgeholfen werden.

In der Jerusalemer Grabeskirche feiern die Christen zu Ostern das Wunder der Auferstehung
In der Jerusalemer Grabeskirche feiern die Christen zu Ostern das Wunder der Auferstehung
© EPD

Der Prälat stopft seine Pfeife, es gibt Kuchen mit bester Sahne, serviert von der freundlichen Haushälterin in Schürze. Die Diskretion verbiete, Namen zu nennen. Imkamp macht keinen Hehl daraus, dass ihm so manche Heiligsprechung arg übertrieben vorkommt. Das sogenannte Martyrologium Romanum, das "Who is who" katholischen Spitzenpersonals, umfasst derzeit – gut 8500 Selige und Heilige und mehr als 8000 Märtyrer. "Ich bin nicht wunderfixiert", sagt Imkamp. "Aber mich interessiert die Möglichkeit des Wunders."

Er zieht ein Buch aus dem Regal, einen schönen Druck auf kräftigem Papier, leicht wasserrandig. So steht es auf der Rechnung, Imkamp hat es für ein paar Hundert Euro erworben. Dieses Werk war der erste systematische Versuch, abseits mirakulöser Fantasien so etwas wie eine Begriffsbestimmung für Wunder zu wagen. Geschrieben hat es im 18. Jahrhundert Kardinal Prospero Lorenzo Lambertini, der spätere Papst Benedikt XIV. Sehr lange Sätze stehen darin, auf Latein, und die wichtigsten sind übersetzt wohl diese: "Zum Zeitpunkt der Heilung muss die Krankheit noch anhalten … Die Heilung muss augenblicklich und ohne Rückfall erfolgen." Er folgt dem Kirchenlehrer Thomas von Aquin, wenn er Wunder unterscheidet zwischen: "supra" oder "praeter" oder "contra naturam".

Bis ein Wunder als Beweis, dass der Geist Gottes in den Leib eingreifen kann, wie es heißt, aktenkundig werden kann, können Jahrhunderte vergehen. Papst Franziskus zum Beispiel sprach 800 Männer aus dem 15. Jahrhundert heilig.

Yes, we can

Heilig werden geht so: Ein Antragsteller muss im Vatikan erst einmal eine Unbedenklichkeitserklärung für das Verfahren einholen. Wenn nichts gegen den Kandidaten spricht – nihil obstat –, wird ein Postulator beauftragt, Zeugnisse zu präsentieren: Schriften, Berichte, Dokumente. Dann prüft die Kongregation, ob Leben und Wirken des zu Ehrenden bedeutend genug war. Ein, so wird er genannt, "Förderer des Glaubens" soll dann in einem dialektischen Verfahren alle eingereichten Belege und Argumente anfechten. Ihn nennt man daher einen Advocatus Diaboli, den Anwalt des Teufels. Die Fürsprecher müssen diesen widerlegen. Stimmen mindestens zwei Drittel der versammelten Mitglieder für eine Heiligsprechung, entscheidet am Ende der Papst.

In der Frühzeit der Kirche bestimmte noch das Volk, wer ein Heiliger war und anbetungswürdig. Ein Fürsprecher beim Chef. Denn "unrettbar religiös" sei der Mensch, befand schon der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewskij. Es bleibt unser tiefes Sehnen, dass da etwas anderes sein kann als das, was wir kennen. Ein Trost gegen den Schrecken. Eine Hoffnung auf mehr. Etwas Großes, das unsere Herzen erhebt.

Durch den Wallfahrtsort Lourdes zieht eine Prozession von Marienverehrern
Durch den Wallfahrtsort Lourdes zieht eine Prozession von Marienverehrern
© Eric Martin/Laif

Darf man an Wunder glauben? Diese Frage beschäftigt Klaus Berger sein Leben lang. Berger ist zum zweiten Mal verheiratet und zweifacher Vater, wurde fast katholischer Priester und ist doch bekannt geworden als Professor für neutestamentliche Theologie an der evangelischen Fakultät der Heidelberger Universität. Er weist das Unerklärbare dem Wesen einer jeder Religion zu. Für ihn ist ein Wunder auch ein Zeichen von Zusammenhalt und der Versuch, die Einheit jenseits aller Gegensätze zu beschreiben.

Berger lehrt, die Wunder der Bibel, die der Brotvermehrung zum Beispiel oder des Wassers zu Wein, nicht wörtlich zu nehmen, als frommes Flunkern vielleicht zwischen Fälschung und Enttäuschung. Sondern den Geist des Gesagten zu fassen und diesen als Ermunterung und Gleichnis zu begreifen. Dass Menschen über sich hinauswachsen können und so vieles möglich sei, yes, we can. Wenn man nur genug glaubt. "Wir sollten sensibel auf das hören, was sein kann", sagt er. "Und nichts ausschließen."

Dass auch jede Liebe ein Wunder sei, gibt der Professor noch mit auf dem Weg. Die Liebe, meinte einst die heilige Katharina von Siena, trage die Seele, wie die Füße den Leib trügen.

Meister und Mönche

Auf so einen Satz würde Steffen Lohrer auch gern einmal kommen, um seinem Empfinden über die Welt Ausdruck zu verleihen. Lohrer ist Unternehmensberater und denkt analytisch. Der Wirtschaftsingenieur berät Firmenchefs, ihre Nachfolge zu regeln. Derzeit sucht er für einen mittelständischen Automobil-Zulieferer, Jahresumsatz 30 Millionen Euro, geeignete Kandidaten. Lohrers Geschäft läuft gut. Aber noch mehr beschäftigt ihn die wahre Natur des Menschen. Und wie das Göttliche in uns sich Gehör verschafft.

Ein Drama war es, das sein Denken veränderte. Einem Freund, an Krebs erkrankt, gaben die Ärzte nur noch wenig Zeit. Die erfreulichste Nachricht blieb noch die, dass eine Chemotherapie das Wachstum des wuchernden Geschwürs für eine Zeit verlangsamen würde; eine Heilung jedoch sei ausgeschlossen. Als der Freund sagte: Du, ich flieg nach Brasilien, dort soll es jemanden geben, der noch etwas tun kann, vielleicht nützt es was, setzte sich Lohrer mit ins Flugzeug. Für eine vielleicht letzte gemeinsame Reise. Er hatte keine Erwartungen, er glaubte nicht an höhere Wesen, er war mehr als skeptisch. Einer von denen, die es schwarz auf weiß sehen wollen.

Im portugiesischen Fátima beten die Menschen Maria an, die 1917 drei Hirtenkindern erschienen sein soll
Im portugiesischen Fátima beten die Menschen Maria an, die 1917 drei Hirtenkindern erschienen sein soll
© David Klammer/Laif

Zwei Wochen blieben die Freunde in Südamerika. 300 Menschen standen täglich Schlange, um vom Heiler berührt zu werden. Einem Mann, des Lesens und Schreibens nicht mächtig, der Jünger um sich geschart hatte, Menschen ganz in Weiß, sie meditierten den ganzen Tag. Es war ein Szenario wie aus der Zeit gefallen, wie vielleicht in jener Geschichte aus Evangelien, als eine Frau, die an Blutungen litt und Jesu Gewand berührte, augenblicklich geheilt worden sein soll. Zitternd vor Furcht, so steht es geschrieben, habe sie vor ihm gestanden, als Jesus sagte: "Dein Glaube hat dich geheilt."

So ähnlich lief es wohl auch in Brasilien, es muss eine Zeit wunderbarer Begegnungen gewesen sein. Zurück in Deutschland, bildeten sich bei seinem Freund die Metastasen zurück, eines Tages waren sie endgültig verschwunden. Es sind, zugegeben, knappe Sätze für eine Sensation. Die einer spontanen Heilung. Steffen Lohrer fand das unglaublich.

Der Regensburger Prälat Wilhelm Imkamp wachte auch in Rom über Wunder 
Der Regensburger Prälat Wilhelm Imkamp wachte auch in Rom über Wunder 
© Hardy Mueller/stern

Er konnte es sich nicht erklären. Die Freunde fragten, wie es geschehen konnte, er wusste keine Antwort. Er war Zeuge gewesen und konnte nur die Schulter zucken. Dieses Nichtwissen spornte ihn an. Er, der für nachvollziehbare Antworten gutes Geld nimmt, wollte nun mehr erfahren über Kräfte, die nicht zu fassen und nicht zu sehen sind. Der Gedanke, einem großen Abenteuer auf der Spur zu sein, einer Herausforderung, die es zu meistern galt, ließ ihn nicht los. Lohrer flog um die Welt, er konnte es sich leisten, andere Heiler zu treffen, Meister und Mönche. Er traf auch auf Typen, denen er von Anfang an nicht traute, Scharlatane. Doch mit der Zeit wichen seine Zweifel dem Eindruck, dass sein Bild von der Welt eher von Argwohn geprägt war und Zerrissenheit – und weniger vom befreienden Gefühl, vertrauen zu können, statt kontrollieren zu wollen. Und so beschloss er, sich anzufreunden mit der Möglichkeit, dass da eine Energie ist zwischen Himmel und Erde, die er nicht einordnen kann, welche die einen Gott nennen und andere die höhere Weisheit. Und er spürte zunehmend, "dass ich Teil war dieser Wirklichkeit".

Türöffner

So kam es, dass Lohrer in ein neues Leben geriet. In jene Sicht auf die Dinge, die der Dichter Matthias Claudius in seinem Abendlied besang: "Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen. Und ist doch rund und schön. So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsere Augen sie nicht sehn."

Lohrer ließ sich zum Therapeuten ausbilden. Immer mehr Menschen kamen, um von ihm Ermutigung zu erfahren, in Krisen und Krankheiten der Kraft des eigenen Körpers zu vertrauen. Der Mann der Zahlen sprach plötzlich von der Liebe als dem Wesenhaften des Menschen und der Welt. Lohrer traut sich, das mittlerweile wie selbstverständlich auch ihm fernstehenden Geschäftspartnern zu sagen. "Da ist eine große Energie. Und diese gebe ich weiter. Ich weiß immer noch nicht, wie das funktioniert. Aber Hokuspokus ist das nicht." Der Wirtschaftsmann ist überzeugt, "von Wundern umgeben zu sein". Er hat eine Stiftung gegründet, die chronisch kranke Kinder unterstützen und Menschen zu innerer Gelassenheit verhelfen will. Und Leute kommen, die ihn einen Heiler nennen. Von sich selbst sagt er das nicht. "Ich bin nur ein Türöffner. Dass sich vielleicht neue Räume auftun."

Glaube, heißt es im Brief des Paulus an die Hebräer, sei "ein Feststehen in dem, was man erhofft. Und ein Überzeugt-Sein von Dingen, die man nicht sieht." Was ist Wirklichkeit? Und was Einbildung? Ist die Welt so, wie wir sie sehen? Oder sehen wir nur, was wir wollen? Wer definiert die Grenze des Sagbaren?

Ein Himmel für den Glauben: die farbenprächtig ausgemalte Basilika von Kevelaer am Niederrhein
Ein Himmel für den Glauben: die farbenprächtig ausgemalte Basilika von Kevelaer am Niederrhein
© Hardy Mueller/stern

Einen Ort gibt es in Deutschland, wo man außerhalb der Kirche Wunderliches sammelt. Geschichten, selbst erlebt oder nur gehört, von Wahrsagern, Medien und Magiern. Walter von Lucadou, Leiter der "Parapsychologischen Beratungsstelle" in Freiburg, versucht sie einzuordnen. Dass da Spuk sei im Haus oder Wände wackelten, Engel unterwegs seien oder Stimmen zu hören. 3000 Menschen melden sich jährlich bei dem Physiker und Psychologen, weil sie sich Rechenschaft über Rätselhaftes geben möchten. Oder einen guten Ratschlag suchen.

55 Jahre, sagt von Lucadou, sei er nun "hinter diesen Dingen her". Ob es eine Wahrnehmung gibt außerhalb der Sinne. Und psychische Vorgänge, die sich "in physikalischer Realität manifestieren". Von Lucadou ist in der Lage, über Stunden die Gesetzmäßigkeiten psychomotorischer Mechanismen und experimenteller Physik zu referieren, über die Erkenntnisse der Neuroimmunologie und der Selbstsuggestion, von Spontanheilung und Schlaf-Paralyse zu sprechen. "Alles immer noch nicht genügend erforscht", sagt er. Dem menschlichen Geist traut er eine Menge zu: "Viele Menschen träumen zum Beispiel voraus, was später passiert."

Unverstandene Phänomene

In seinem Büro stapeln sich die Ordner voll wundersamer Berichte. Bei allen Erzählungen interessiert von Lucadou vor allem die Frage, ob die Vertrauenswürdigkeit der Zeugen größer ist als die Glaubwürdigkeit des Beschriebenen. "Als Wissenschaftler", sagt er, "schließe ich nichts aus. Es ist ein großer Irrtum zu glauben, wir wüssten alles." Was Leute als Wunder erlebten, seien allerdings oft "natürliche, aber teilweise unverstandene Phänomene".

Aber die Menschen möchten wissen, die Menschen wollen Erklärung. Den Unterschied zwischen dem einen und dem anderen möglichst genau zu bestimmen ist eine der Aufgaben von Rolf Theiß. Der Unfallchirurg gehört zu den 26 Ärzten einer Kommission, die in Lourdes angezeigte Heilungen untersuchen, dem in der christlichen Welt berühmtesten Wallfahrtsort. In der südwestfranzösischen Stadt soll sich im Jahr 1858 die Muttergottes gleich mehrere Male der damals 14-jährigen Bernadette Soubirous gezeigt haben. In wogendem Licht und weißem Schleiermantel, blau gegürtet und mit einer gelben Rose auf jedem Fuß. Diese "Dame", wie das Mädchen später sagte, wies den Weg zu einer Quelle. Dessen Wasser gesund machen soll.

Birthe Krabbes hat heilende Hände. Und ihr Mann Carsten überlebte Unfall und Koma
Birthe Krabbes hat heilende Hände. Und ihr Mann Carsten überlebte Unfall und Koma
© Hardy Mueller/stern

Seitdem ist Lourdes Geschichte. Und Sehnsuchtsziel von Millionen Menschen. Rolf Theiß kommt gerade von dort zurück. In diesem Jahr wurden seiner Kommission 39 Heilungen gemeldet. Sechs davon stuft sie als außergewöhnlich ein und einer weiteren Untersuchung wert. 70 ähnliche Sensationen wurden in über 100 Jahren bisher von der Kirche als Wunder anerkannt. Ein solches wäre nach der Definition der Gutachter eine Genesung – "plötzlich und unerwartet und nicht ausgelöst durch Medikamente, nach einer Krankheit gesichert organischen Ursprungs, schwerwiegend und lebensbedrohend". Und nach "derzeitigem wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht zu erklären".

Hat wer hier Wunder gewirkt? "Für diejenigen, die an Gott glauben, ist keine Erklärung nötig. Für diejenigen, die nicht an Gott glauben, ist keine Erklärung möglich." Das schrieb der Autor Franz Werfel, nachdem er auf seiner Flucht vor den Nazis Unterschlupf gefunden hatte in Lourdes, in seinem Roman vom "Lied von Bernadette". Dieses Lied wollte er so gern singen. Es blieb erhalten und wurde ein Weltbestseller.

Vor wenigen Tagen war Weihnachten. Besonders zu dieser Zeit sehen wir uns nach Licht und nach Wärme und wollen uns wieder wundern dürfen, Welt verloren, Christ geboren. Klein werden, dem Großen einen Raum zu bereiten. Und staunen dürfen, über alle Backen.

Spooky

Es ist Wunderzeit. Carsten Krabbes, der Pastor, genießt es, die Geschichte von Gott zu erzählen. Von dem, der Mensch wurde, in Windeln gewickelt, zu Bethlehem geboren. Dieses Märchen aus uralter Zeit.

Steffen Lohrer war ein Zahlenmensch. Dann erfuhr er eine Verwandlung.
Steffen Lohrer war ein Zahlenmensch. Dann erfuhr er eine Verwandlung.
© Hardy Mueller/stern

Aber das ist, mit Verlaub, zum Schluss nicht die beste Story. Es gibt da was Neues. Birthe Krabbes, die Frau des Herrn Pfarrer, hat auch noch was zu sagen. Wie sie eines Tages merkte, dass ihre Hände "kribbelten", und in ihren Fingern eine Kraft spürte, "die ich vorher so noch nie wahrgenommen hatte". Legte sie Freundinnen die Hand auf die Schulter, fühlten die einen warmen Strom durch ihren Körper fließen. Und wollte sie in die Disco und die anderen plagte Kopfschmerz, hatte Krabbes wieder ihre Hände im Spiel. Und gut war. Es glich einer Wette, dieses Gesundmachen, und später waren auch Warzen weg oder Gürtelrosen oder Flechten. Wie im Vorübergehen.

Die gelernte Erzieherin, "vom Typ her komplett nüchtern", fand das "ziemlich spooky". Mit so etwas wie übernatürlichen Kräften hatte sie gar nichts zu tun, sie hörte Heavy Metal und war froh, wenn die Kinder ihr nicht auf den Geist gingen. Sie spielte Hockey oder guckte Fußball, FC St. Pauli. Und fragte ihre Hausärztin, was das denn sein könnte, da in den Händen. Was Gutes sei das, sagte Frau Doktor, eine Gabe. Damit könne sie anderen prima helfen. Seitdem nennt Birthe Krabbes sich eine Heilerin. Und ihre Ärztin, wenn sie nicht mehr weiterweiß, schickt ihr Patienten.

Walter von Lucadou berät in Freiburg Menschen, die Unerklärliches erlebt haben
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© Hardy Mueller/stern

Birthe Krabbes sitzt in ihrem Schaukelstuhl in einem Reihenhaus im Hamburger Norden und zeigt das Lächeln einer Frau, die viel mehr weiß. Neben ihr ein Mann, der noch mehr erzählen könnte, aber nicht jetzt. Sie fragt ihn, ob sie sagen soll, was noch passiert sei. Sie fürchtet, die Leute könnten sie für verrückt halten. "Mach doch", sagt ihr Mann. Und zu seinem Besuch: "Es ist wirklich abgefahren."

Erwacht

Und dann berichtet Birthe Krabbes, wie in seiner siebten Koma-Nacht, als sie fertig war mit den Nerven und nur noch weinte, morgens um zwei Uhr ihre Freundin bei ihr anrief. Hey, sagte die Freundin, ich denke gerade an deinen Mann, er liebt dich sehr und möchte gern einen Schokoladenpudding essen. "Du hast einen Knall", hat Birthe Krabbes da gesagt. "Der Carsten liegt im Koma, lass mich in Ruhe damit." Ob dies genau ihre Worte waren, weiß sie heute nicht mehr, zu skurril das alles. Die Freundin sagte so etwas wie, dass Birthe viel Kraft habe in den Händen und dass sie diese nun über den Hörer halten solle. Sie ihrerseits sei dabei, sich selbst einen Pudding zu kochen und diesen für Birthes Mann zu essen. Krabbes lacht laut, ihr Stuhl schaukelt, als sie diese Szene erklärt. "Krass, oder?" Ihr Mann nickt.

Klaus Berger liebt kleines Puppentheater. Und denkt über die großen Fragen nach
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© Hardy Mueller/stern

Aber was macht man nicht alles in seiner Not! Am nächsten Morgen dann ein Anruf. Aus dem Krankenhaus. Ihr Mann sei aus dem Koma erwacht. Und habe um einen Schokoladenpudding gebeten. Der erste habe so gut geschmeckt. Und was, wenn das stimmt?

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