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Ausstellungseröffnungen Blöd rumstehen, klug aussehen: 16 Wahrheiten über den Vernissage-Besuch

Mann sitzt in Museum auf Bank
Die hohe Kunst der Vernissage: dumm rumstehen, klug aussehen (Symbolbild)
© KatarzynaBialasiewicz / Getty Images
Wer heute etwas auf sich hält, ist abends auf einer Vernissage zu finden. Alle trinken Champagner, alle gucken konzentriert, alle nicken wissend. Denn das ist die wahre Kunst einer Ausstellungseröffnung: rumstehen und trotzdem klug aussehen. 
Von Lars Weisbrod

1. Damals im 19. Jahrhundert

Hach, damals im 19. Jahrhundert, als man noch genau wusste, was Kunst ist: fette Gemälde in goldenen Rahmen, mit Schlachten drauf und Äpfeln und Frauen. Und bevor der Maler ein paar neue Brummer in die Ausstellungshallen hing, ging er noch mal mit dem Lack drüber. Der sogenannte Firnis musste aufgetragen werden. Damit die schönen Apfel- und Schlachtfarben später nicht verlaufen und alles so richtig glänzt. "Le jour du vernissage", der Tag, an dem der Firnis draufkommt, war dann ein besonderer. Die Künstler trafen sich und tranken, später luden sie noch Freunde ein, noch später auch die Lokalpresse, und es gab Häppchen und Weinschorle. Die Vernissage war geboren.

2. Vernissage – ausgesprochen wie 'Visage'

Die Vernissage, laut Duden im Deutschen ausgesprochen wie Visage , also so, als seien wir hier alle zu blöd, noch die einfachsten französischen Wörter zu sagen, gehört heute völlig selbstverständlich in den Kulturkalender der Metropolen genauso wie in den der Mittel- und Oberzentren (Rostock, Pirmasens, Hamburg). Nicht nur die 700 professionellen Galerien, die es in Deutschland geben soll, laden zum Firnis-Tag; auch Off-Spaces, Kunstvereine, Konzepträume, Ateliers, Kreativwerkstätten, Pop-up-Läden, Mehrzweckhallen, ungenutzte Bunker und Kirchen und Kreissparkassen. Wo noch ein Haken an der Wand frei ist und jemand einen Servierwagen mit Schnittchen reinfahren kann, da ist Vernissage. Vorausgesetzt …

3. Die geladenen Gäste

...es kommen Gäste, und die Praktikantin hat nicht wieder vergessen, die Einladungen zu verschicken. Wer ist auf einer Vernissage anzutreffen? Alle, die schon länger den Gang in den Club scheuen und inzwischen nicht mehr verstehen, warum in Bars die Musik so laut ist. Die Vernissage ist eine Art Goldstandard unter den Abendbeschäftigungen des mittelalten mittelbürgerlichen Milieus, das gerade den langen Marsch durch die Institutionen marschiert, vom Rave bis zum Golfplatz. Zwischenhaltestelle: Kunst angucken.

4. So geht's dem Künstler

Ganz anders geht's dem Galeristen und dem Künstler. Spaß und Kunst sind für sie eher zweitrangig, denn sie müssen heute Abend vor allem: verkaufen, verkaufen, verkaufen. Die wahren Kunstwerke in Galerien sind deswegen die kleinen roten Klebepunkte, die der Galerist stolz unter ein Bild klebt. Roter Punkt, das heißt: Kunstwerk schon verkauft! Der rote Punkt, das ist: der Beifall des Künstlers. Wer zu früh ist auf einer Vernissage, hat auch schon erleben müssen, wie Künstler die Punkte selbst unter ihre Pieces kleben.

5. 640 000 Euro verdient eine Galerie

Im Durchschnitt macht eine Galerie in Deutschland 640 000 Euro Umsatz im Jahr, die allermeisten aber deutlich weniger, da wird nicht mit den ganz großen Zahlen jongliert, sondern überlegt, wie man die Kosten des Caterers drückt. So oder so: Ein guter Teil der Deals dürfte bereits am ersten Abend ausgehandelt werden. Alte Galeristen-Weisheit: Eigentlich reicht die Vernissage, danach kann man alles gleich wieder abhängen.

6. Verwechslungsgefahr: Lasst die Jacken an!

Tipp: Jacke und Mantel anlassen. Wer seinen Mantel aufhängen will, könnte schlimmstenfalls eine Installation mit einem Kleiderständer verwechseln. Klischee? Kommt wirklich vor.

7. So erkennt ihr den Künstler

Wie erkennt man den Künstler auf seiner Vernissage? Er ist immer der, der mit dem Rücken zu den Bildern steht. Wie erkennt man andere Künstler, die zur Vernissage ihres Kollegen gekommen sind? Das sind die mit der Nase fünf Millimeter vor dem Bild; die, die Skulpturen befingern und Installationen befühlen. So hat das der Kunstkritiker Jerry Saltz einmal beschrieben. Künstler in Ausstellungen würden versuchen herauszufinden, woraus etwas ist, wie es gemacht wurde. Anders gesagt: Sie stehlen.

8. Die Einladung

Wer sich über die seltsame Sprache in der Einladung zur Vernissage gewundert hat, wird später feststellen, dass er bei den Gesprächen mit Gästen und Kuratoren gar nicht mehr mitkommt. Es gibt einen Namen dafür: "International Art English". So nennt die Soziologie den Soziolekt, der sich in der Kunstwelt festgesetzt hat. Wichtigste Merkmale: möglichst viele Substantivierungen (aus "visual" wird "visuality") oder komplette Überdrehungen wie "experiencability" statt "experience". Wem das zu kompliziert ist, der kann auch möglichst oft das Wort "space" in seine Redebeiträge einbauen der Kunstwelt ist alles space. Nein, Entschuldigung: Ihr ist alles spaciability. So muss es heißen.

9. Streng codierte Betrachtungs-Regeln

Auch das Betrachten der Kunst ist streng codiert. Die Hüften nach vorne geschoben, den Kopf so weit nach hinten gezogen wie möglich, weiß Kritiker Jerry Saltz dazu. So stehe er immer, weil er einmal Jasper Johns in einer Galerie so hat stehen sehen. Ihnen sagt Jasper Johns nichts? Ah, ein Anfänger. Machen wir es also einfacher: Beim Gucken den Kopf leicht nach links oder rechts geneigt halten, Winkel zwischen zehn und 30 Grad. Ab 40 Grad sieht es so aus, als hätte man sich in den Toilettenkabinen am falschen Pulver bedient.

10. Bloß nicht zu kurz betrachten

Mindestens so wichtig wie die Frage, wie man guckt,  ist natürlich, wie lang man guckt. Leider hat noch kein Soziologe mit Stoppuhr die Vernissagen abgeklappert. In Museen ist die Forschung weiter: Im Metropolitan Museum of Art in New York, so eine Studie, schauen die Besucher im Schnitt 32,5 Sekunden auf ein Bild. Wer also wesentlich kürzer guckt, wirkt, als sei er nur wegen der Freigetränke gekommen.

11. Wichtige Sonderregel: nicht stehen bleiben

ACHTUNG, ES GIBT NOCH EINE WICHTIGE SONDERREGEL! Wenn es auf der Vernissage eine Performance oder eine Videoinstallation gibt, dann darf man der auf keinen Fall von Anfang bis zum Ende beiwohnen. Es gilt: Kunst ist es nur, wenn man selbst bestimmt, wann Schluss ist. Oder wie der Kunstkritiker Jonathan Jones schreibt: "If it ain’t on a loop, it ain’t art."

12. Ein Kulturevent ohne Dramaturgie

Das gilt übrigens auch für die Vernissage. Sie ist wohl das einzige Kulturevent, das überhaupt keine Dramaturgie kennt. Theater ist irgendwann aus, die Zugabe im Konzert gespielt, und die Architektur hat einen Ausgang. Bei der Vernissage ist höchstens die Perlage irgendwann aus dem Champagner. Dann heißt es: Schnell los, wer teilt sich ein Taxi?

13. "The artist is present"

Ganz früher galt: Der Künstler kann leider nicht anwesend sein, er ist vor ein paar Tagen verhungert. Heute gilt: "The artist is present." Eine der schärfsten Drohungen der Kunstwelt. Puh, was redet man bloß mit dem, wenn man ihn vor der Toilette trifft? Auf jeden Fall Ruhe bewahren. Und immer dran denken, dass die Vernissage ein Event der Widersprüche ist, gleichzeitig geistig-moralische Bildungsstätte und Hinterhofbasar, weshalb es auch …

14. Unhöflichkeit

… besonders unhöflich ist, länger als zehn Minuten mit dem Künstler zu reden, wenn man gar nicht plant, etwas zu kaufen.

15. Soll man etwas kaufen?

Soll man denn etwas kaufen? Hier gilt die gleiche Regel wie auf der Pferderennbahn: Nein, es sei denn, Geld ist einem egal oder man hat ein todsicheres System („Wertsteigerung garantiert, das habe ich in der Herbstausgabe des ‚Artcollector‘ gelesen“).

16. Die richtige Vorbereitung

Wem diese Liste als Vorbereitung für die nächste Vernissage nicht reicht, kann sich auch mit Kunst aufs Kunstangucken einstimmen. Die Berlinische Galerie zeigt als Teil der Ausstellung "Kunst in Berlin 1880-1980" die Installation "The Art Show", die Edward und Nancy Kienholz in den Sechzigern und Siebzigern angefertigt haben. Die Künstler stellen eine Vernissage nach, die Besucher sind aus Gips gefertigt, und statt Mündern tragen sie Belüftungsklappen aus Autowracks, aus denen heiße Luft strömt. Wer sich "The Art Show" anguckt, kann beruhigt feststellen: Auch wenn sich in der Kunstwelt ständig alles ändert und die Trends im Fünfminutentakt die Klinke der Galerietür in die Hand geben die Vernissage, ihre Gespräche und ihr Personal haben sich seit 40 Jahren nicht verändert. Der Lack hält. Beruhigend.

Dieser Artikel ist erstmals in der NEON-Ausgabe 01/2017 erschienen.

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