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Umkämpfte Hafenstadt Moskau meldet die volle Kontrolle über Mariupol. Eine Eroberung könnte richtungsweisend für Russlands Krieg sein

Russische Soldaten in der unkämpften südostukrainischen Hafenstadt Mariupol
Russische Soldaten in der unkämpften südostukrainischen Hafenstadt Mariupol (Foto vom 12. April 2022)
© Alexander NEMENOV / AFP
Moskau behauptet, Mariupol unter seine Kontrolle gebracht zu haben. Die umkämpfte Hafenstadt am Asowschen Meer ist von strategischer und symbolischer Bedeutung – und könnte entscheidend für Russlands Krieg sein.

Möglicherweise wird Mariupol eines Tages für diesen Krieg stehen, für all das Grauen und das Leid, das sich seit nunmehr acht Wochen in der belagerten und bombardierten Hafenstadt zu ballen scheint. Schon jetzt ist die umkämpfte Metropole am Asowschen Meer ein Symbol des Schreckens: Kaum ein Ort in der Ukraine dürfte so unter dem russischen Angriffskrieg gelitten haben – die Bilder, die der kaltblütige Kriegszug des Kreml produziert hat, sind allgegenwärtig. Nun behauptet Russland, Mariupol eingenommen zu haben. 

Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu sagte über die Lage in Mariupol: "Die verbliebenen ukrainischen Kampfeinheiten haben sich auf dem Industriegelände der Fabrik Azovstal verschanzt."

Rund 2500 Kämpfer haben sich in dem für die Region symbolträchtigen Betrieb zurückgezogen, darunter 400 Söldner, wie das russische Verteidigungsministerium am Montag mitteilte. Nach ukrainischen Medienberichten sollen dort aber auch bis zu 1000 Zivilisten, darunter viele Kinder, Zuflucht gesucht haben.

Die strategische und symbolische Bedeutung von Mariupol

Präsident Wladimir Putin ordnete an, das Stahlwerk nicht zu stürmen. Ein entsprechender Befehl solle zurückgenommen werden. Die Kämpfer in den Katakomben sollten die Waffen niederlegen. "Die russische Seite garantiert ihnen das Leben", sagte Putin. Er sprach von einem Erfolg und der "Befreiung Mariupols". Nach Darstellung von Verteidigungsminister Schoigu sind die ukrainischen Einheiten vollständig blockiert. Der Minister sagte, dass die Fabrik in drei bis vier Tagen ebenfalls eingenommen werden solle.

Die Schlacht um die Hafenstadt Mariupol gilt als richtungsweisend für Russlands Krieg in der Ukraine, eine tatsächliche Eroberung wäre sowohol von strategischer als auch symbolischer Bedeutung.

  • Mariupol ist der letzte Punkt an der Küste des Asowschen Meeres, der noch nicht komplett von den russischen Kräften kontrolliert wird. Sollten die von Russland anerkannten Separatisten-Republiken Luhansk und Donzek formal eigenständig bleiben, dann hätten sie mit Mariupol den Zugang zu den Weltmeeren. Sie könnten über den gut ausgebauten größten Hafen am Asowschen Meer ihre Produktion unabhängig von russischen Landrouten auf dem kostengünstigen Wasserweg selbst exportieren.
  • Viel diskutiert wird auch der Landweg von Mariupol zu der seit 2014 von Russland annektierten Halbinsel Krim. Die Straßenverbindungen dürften jedoch wegen ihres schlechten Zustands für Russland kaum von Interesse sein. Als wichtig auch im militärischen Sinne gelten vielmehr die weiter nördlich verlaufenden Eisenbahnverbindungen über das kürzlich von den russischen Truppen eroberte Wolnowacha in Richtung des bereits seit Ende Februar von Russland kontrollierten Melitopol und von dort zur Krim.
Umkämpfte Hafenstadt: Moskau meldet die volle Kontrolle über Mariupol. Eine Eroberung könnte richtungsweisend für Russlands Krieg sein
  • Vor dem Krieg stellte die nach der Separatistenhochburg Donezk zweitgrößte Stadt des Gebietes einen großen Teil des ukrainischen Exports. "Die Werke von Mariupol tragen zu mehr als einem Drittel der Stahlproduktion der Ukraine bei", sagte der Generaldirektor des Konzerns Metinvest, Jurij Ryschenkow, Ende März. Allein durch die Zerstörungen dürfte der Verlust dieses Devisenbringers sich negativ auf den Kurs der Landeswährung Hrywnja und damit auf das allgemeine Wohlstandsniveau der Ukraine nach dem Krieg auswirken.
  • Mariupol hat aber vor allem auch für das von Neonazis und Nationalisten gegründete und bis heute von ihnen dominierte Nationalgarde-Regiment "Asow" eine große symbolische Bedeutung. Dem Gründungsmythos der Einheit nach befreite die Anfang Mai 2014 von Freiwilligen gegründete Einheit knapp einen Monat später die damals von Separatisten kontrollierte Hafenstadt. Mittlerweile aber hat "Asow" bereits seine Basis bei der benachbarten Hafenstadt Berdjansk verloren. Sollte Mariupol nun auch noch fallen, wäre das die Niederlage des Kerns der von den russischen Truppen mit besonderer Härte bekämpften Einheit. Russland dürfte das als einen großen Teilsieg in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine feiern.
  • Der beharrliche Widerstand in Mariupol gegen die russische Invasion sorgt bisher dafür, dass nach ukrainischen Angaben eine russische Gruppierung von etwa 14.000 Soldaten mit schwerer Technik gebunden ist. Mit dem Fall der Hafenstadt würden diese frei werden. Die russischen Soldaten könnten für die seit langem erwartete russische Offensive in Richtung Slowjansk und Kramatorsk das entscheidende Übergewicht bringen.

Ukraine fordert humanitären Korridor für Mariupol

Unterdessen hat die ukrainische Regierung von Russland für das eingekesselte Stahlwerk Azovstal einen humanitären Korridor gefordert. "Dort befinden sich gerade etwa 1000 Zivilisten und 500 verwundete Soldaten. Sie müssen alle heute aus Azovstal herausgeholt werden!", schrieb Vizeregierungschefin Iryna Wereschtschuk am Donnerstag im Nachrichtenkanal Telegram.

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Die Hafenstadt ist kurz nach Beginn des seit zwei Monaten dauernden russischen Angriffskrieges von russischen Truppen eingeschlossen. Mehrere Versuche einer geordneten Evakuierung von Zivilisten ins Regierungsgebiet schlugen fehl.

fs DPA

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