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Kein Regen, keine Ernte Hunger auf Madagaskar: "Mit eurem Geld bringt ihr uns um"

Helfer von Ärzte ohne Grenzen untersuchen ein unterernährtes Mädchen. Das von Hunger geplagte Kind nuckelt an einer Tüte mit der Proteinpaste "Plumpy Nut", die ihm helfen soll, rasch zu Kräften zu kommen
Helfer von Ärzte ohne Grenzen untersuchen ein unterernährtes Mädchen. Das von Hunger geplagte Kind nuckelt an einer Tüte mit der Proteinpaste "Plumpy Nut", die ihm helfen soll, rasch zu Kräften zu kommen
© Jonas Wresch / stern
Madagaskar gilt als Sehnsuchtsort. Doch im Süden der Insel hungern Kinder. Jahrelange internationale Hilfe hat die Not der Menschen verschärft. Nun trifft sie auch noch die Klimakrise.

Vormittags um 10.34 Uhr bricht die Dunkelheit über Ambatomainty herein, bei 42 Grad Hitze. Aus dem Nichts heben Sturmwinde an. Sie treiben Sand in mächtigen Windrosen vor sich her. Der Himmel, vor einem Wimpernschlag noch hellblau, färbt sich dunkelrot durch den wirbelnden Staub. Dann wird die Düsternis nahezu vollkommen, weil der Sturm riesige, pechschwarze Gewitterwolken herantreibt.

Es ist Regenzeit im Grand Sud, dem großen Süden Madagaskars, doch es fällt kein einziger Tropfen. "Bei uns hat es seit drei Jahren so gut wie nicht geregnet", sagt Jean de Dieux Tanandava, der Dorfchef von Ambatomainty. "Früher kam der Wind von den Bergen und brachte Regen. Jetzt kommt der Tropensturm aus dem Süden und bläst die Wolken weg, bevor sie sich entladen."

Tanandava steht auf seinem Feld am Rande des 1000-Einwohner-Dorfs, in etwa so groß wie ein Fußballplatz. Der rötliche Sand hat sich in einer feinen Schicht über sein schwarzes Hemd gelegt. Dort, wo früher Maniok, Süßkartoffeln und Wassermelonen gediehen, hat er nur noch steinharten, windgepressten Sand unter seinen Schlappen. Die fruchtbare Krume hat der Wind längst abgetragen "Schon seit drei Jahren hab ich keine Saat mehr ausgebracht", sagt der Bauer.

In einem einzigartigen Projekt suchen der stern und die Welthungerhilfe gemeinsam mit den Menschen aus dem Dorf Kinakoni in Kenia nach neuen Lösungen gegen den Hunger. Hier finden Sie alle Infos. Die Arbeit vor Ort wird unter anderem unterstützt von der Deichmann Stiftung, der Wilo Foundation, der Stiftung Block und im Bereich des Schulneubaus von der Regine-Sixt-Kinderhilfe-Stiftung. Die Ernährungslage in Kinakoni ist vor allem aufgrund von Dürre und Preissteigerungen kritisch, das Projekt ist weiterhin auf Spenden angewiesen. Helfen Sie uns, den Menschen von Kinakoni beim Kampf gegen den Hunger zu helfen – bitte unterstützen Sie unsere Initiative. Jeder Euro geht vor Ort ins Projekt. Hier können Sie direkt spenden.
In einem einzigartigen Projekt suchen der stern und die Welthungerhilfe gemeinsam mit den Menschen aus dem Dorf Kinakoni in Kenia nach neuen Lösungen gegen den Hunger. Hier finden Sie alle Infos. Die Arbeit vor Ort wird unter anderem unterstützt von der Deichmann Stiftung, der Wilo Foundation, der Stiftung Block und im Bereich des Schulneubaus von der Regine-Sixt-Kinderhilfe-Stiftung. Die Ernährungslage in Kinakoni ist vor allem aufgrund von Dürre und Preissteigerungen kritisch, das Projekt ist weiterhin auf Spenden angewiesen. Helfen Sie uns, den Menschen von Kinakoni beim Kampf gegen den Hunger zu helfen – bitte unterstützen Sie unsere Initiative. Jeder Euro geht vor Ort ins Projekt. Hier können Sie direkt spenden.

"Es ist die weltweit erste klimabedingte Hungersnot"

Der Grand Sud, etwas größer als Bayern, ist das Armenhaus der Tropeninsel Madagaskar. Fast 90 Prozent der Bevölkerung müssen von weniger als zwei Dollar am Tag überleben. Hier im trockenen Süden ist die Lage besonders dramatisch: Knapp die Hälfte der fast drei Millionen Menschen im Grand Sud sind aktuell vom Hungertod bedroht, 500.000 Kinder leiden an akuter Unterernährung, 110.000 davon extrem. Der Grand Sud ist ein Krisengebiet an der Schwelle zur Katastrophe, die ungleich größere Ausmaße anzunehmen droht als der Tropensturm "Batsirai", der am vorvergangenen Wochenende an der Ostküste Dutzende Todesopfer forderte, ungezählte Häuser zerstörte und 60.000 Menschen obdachlos machte.

Jean de Dieux Tanandava ist der Dorfchef von Ambatomainty. Seine Hilferufe finden bei der Regierung kaum Gehör
Jean de Dieux Tanandava ist der Dorfchef von Ambatomainty. Seine Hilferufe finden bei der Regierung kaum Gehör
© Jonas Wresch

Es war der zweite Sturm binnen drei Wochen. Erst Ende Januar hatte "Ana" rund 70 Menschenleben gefordert, Felder geflutet und Ernten verwüstet. Die Klimaerwärmung ist schuld an der Häufung und am Ausmaß dieser Stürme, die großes Leid anrichten. Aber all das verblasst gegen die Tragödie in dem von Dürre geplagten Süden des Landes. "Es ist die weltweit erste klimabedingte Hungersnot", sagt David Beasley, der Direktor des Welternährungsprogramms (WFP). "Dies ist eine Region der Welt, die nichts zum Klimawandel beigetragen hat."

Solche Sätze sind geeignet, um Geld bei Spendern lockerzumachen, denn sie befeuern das schlechte Gewissen der Menschen in den Industrienationen. Andry Rajoelina, dem Präsidenten des Inselstaats, gefallen sie aber auch aus einem anderen Grund. Für seine Regierung ist die Klimakrise eine willkommene Erklärung für das Leid der Menschen. Denn die These vom Klima als Auslöser des Elends hilft den Mächtigen, sich von der Mitverantwortung für die Lage der Menschen freizusprechen.

Opfer ihres eigenen korrupten Staates

Der Präsident hat andere Prioritäten. Er möchte sein Land weiter als Idyll für Individualtouristen vermarkten, als Hort der Biodiversität mit Regenwald, Lemuren und duftender Vanille. Hunger-Schlagzeilen stören nur das Geschäft mit dem Tourismus, das nach den Einbrüchen durch die Pandemie bald wieder anziehen soll.

Vieles spricht aber dafür, dass der Klimawandel nur eine untergeordnete Rolle bei dieser Hungersnot spielt. Das ist das Ergebnis einer Studie des renommierten Expertenkollektivs "World Weather Attribution", Partner der Universität Oxford. Zwar trügen regionale Wetterschwankungen zur aktuell extremen Dürre bei. Entscheidend für die verzweifelte Lage aber sei, dass die Machthaber in der Hauptstadt Antananarivo den Süden des Landes von jeher seinem Schicksal überlassen hätten, statt die regionale wirtschaftliche Infrastruktur zu fördern.

Aus Löchern im ausgetrockneten Flussbett schöpfen Bauern brackige Brühe – ihre einzige Wasserquelle
Aus Löchern im ausgetrockneten Flussbett schöpfen Bauern brackige Brühe – ihre einzige Wasserquelle
© Jonas Wresch

Hunger ist im Süden des Landes kein neues Phänomen. Jahrzehntelange Kriseneinsätze von Hilfsorganisationen aus aller Welt haben die Not nicht gelindert. Madagaskar ist ein Paradebeispiel dafür, wie Nothilfe für Menschen im globalen Süden verpuffen kann, wenn die Helfer den dortigen Regierungen die Verantwortung abnehmen, selbst für das Wohl ihrer Bürger zu sorgen.

Nun, so steht zu befürchten, wird hier im Süden von Madagaskar genau das ein weiteres Mal passieren. Weil es einfacher ist, Spenden für hungernde Kinder einzutreiben als für Brunnenbau oder landwirtschaftliche Projekte. Zumal, wenn man die Hilfsbedürftigen als Opfer der Klimakrise darstellt, obwohl sie vor allem Opfer ihres eigenen, korrupten Staates sind.

Kaktus wurde zum Hauptnahrungsmittel

In einer Hütte gleich neben dem Feld des Dorfchefs füttert eine Mutter ihre Tochter mit einer Suppe aus Wasser und Kakteen. Das Mädchen liegt apathisch am Boden, unfähig, sich aufzurichten, unfähig zu sprechen. Ihr Blick geht ins Nirgendwo. Gleich daneben, unter einem Tamarindenbaum, liegt der Nachbarssohn neben einem Fetzen Karton auf der roten Erde. Arme und Beine des Vierjährigen sind dünn. Der Junge scheint mit offenen Augen zu schlafen.

Ein kleiner Junge pflückt Kakteen, mit denen er seinen Hunger stillen will; wenn die Stacheln abgerubbelt sind, ist die Mahlzeit fertig
Ein kleiner Junge pflückt Kakteen, mit denen er seinen Hunger stillen will; wenn die Stacheln abgerubbelt sind, ist die Mahlzeit fertig
© Jonas Wresch

Ein paar Schritte weiter, in der Dorfmitte, steht ein Zelt, das Nothelfer von Ärzte ohne Grenzen aufgestellt haben. Alle zwei Wochen dient es ihnen als mobile Klinik. Der nächste staatliche Gesundheitsposten ist acht Kilometer entfernt. An den Kliniktagen sitzen mitunter 700 mangelernährte Kinder mit ihren Müttern im Staub und warten stundenlang darauf, aufgerufen werden. Manche sind zehn Stunden hierher zu Fuß unterwegs. Bedürftige Kinder werden mit "Plumpy-Nut" versorgt, einer klebrigen, kalorienreichen Paste mit Erdnussgeschmack und viel Protein, die die Helfer in kleinen Tüten zum Aussaugen verteilen.

Der Wind hat die leeren Plumpy-Nut-Tütchen auch auf das Feld von Dorfchef Tanandava herübergeweht. Dort haben sie sich in den Kakteen verfangen. Früher dienten die Stachelpflanzen als eine Art Zaun, der die grasenden Zebu-Rinder vom Acker fernhielt. Als wegen der Dürre kein Gras für die Rinder mehr wuchs, begann der Dorfchef, seine verbliebenen Tiere mit Kakteen zu füttern. Inzwischen ist Kaktus zum Hauptnahrungsmittel in Ambatomainty geworden. Für alle: die Zebus und die Menschen.

An diesem Morgen macht sich ein gutes Dutzend Kinder über die Pflanzen her. Sie brechen die frischen, hellgrünen Triebe ab und rubbeln mit einem Hölzchen die Stacheln ab. Dann essen sie die Triebe. Der Nährwert der Pflanze ist gering, sie sorgt für Verstopfung. Doch der Hunger lässt den Menschen keine andere Wahl.

"Die meisten haben das Geld längst aufgebraucht"

Der Dorfchef sagt, er habe schon im März vergangenen Jahres die lokalen Behörden um Hilfe angefleht. Vor einer Woche endlich kamen Angestellte des staatlichen Fonds d’Intervention pour le Développement (FID), der von der Weltbank mit 36 Millionen Dollar ausgestattet ist. Sie verteilten Bargeld an die Bedürftigen. Jede Familie im Dorf bekam 100.000 Ariary, rund 20 Euro.

Der Dorfchef hat mit einem Teil des Gelds Mais gekauft. Seine Frau hat ihm und ihren vier Kindern davon den ersten Brei seit Monaten gekocht. "Die meisten haben das Geld längst aufgebraucht", sagt Tanandava. Er hat noch knapp die Hälfte übrig. Damit das Geld möglichst lange reicht, leistet sich die Familie weiter nur eine Mahlzeit am Tag. Eigentlich sollen die Helfer vom FID alle 14 Tage Geld verteilen. "Aber ich weiß ja nicht, wann sie wiederkommen", sagt Tanandava. Und ob überhaupt.

Die Mitarbeiter des FID sind mit der Organisation der Hungerhilfe überfordert. Und die Versuchung, sich an den vollen Kassen selbst zu bedienen, so internationale Hilfskräfte vor Ort, scheint für viele zu groß. Immerhin: Nach Ambatomainty kamen sie, bevor jemand verhungert war.

Im 200 Kilometer nördlich gelegenen Ort Manevy gab es bereits im August Hungertote. Gerade sind wieder 18 Menschen verhungert. Der Gouverneur ist mit dem Hubschrauber eingeschwebt, hat eine Rede gehalten, Besserung versprochen. Doch gebessert hat sich nichts.

Verbessert hat sich nichts

Manevys gibt es viele. "Es verschwindet viel Geld auf dem Weg von der Hauptstadt in den Süden", sagt ein hoher UN-Beamter vor Ort. Auch von den Reislieferungen, die das Welternährungsprogramm aus den USA einführt, um den Hunger zu lindern, kommt nur ein Teil bei den Not leidenden Menschen an. Mal, so heißt es, zweigen korrupte Beamte direkt am Hafen tonnenweise Hilfsgüter ab, mal die Transporteure, mal eigennützige Dorfchefs.

In Erwartung einer neuen großen Hungersnot hat das Welternährungsprogramm seine lokalen Lager mit Reis gefüllt
In Erwartung einer neuen großen Hungersnot hat das Welternährungsprogramm seine lokalen Lager mit Reis gefüllt
© Jonas Wresch

Statt zu helfen, hat die Elite des Landes die Krise längst als Geschäft entdeckt. Gerade wurde in Fort-Dauphin, der Hauptstadt des Grand Sud, eine Fabrik für Plumpy-Nut-Paste eröffnet. Die wird von der Stiftung der Präsidentengattin sowie privaten Partnern betrieben und beliefert nun Hilfsorganisationen eifrig mit Nachschub.

"Wir wundern uns, dass bislang nicht mehr Menschen gestorben sind", sagt Dorothée Deslandes, 38, die Medizin-Koordinatorin von Ärzte ohne Grenzen, die auf der Kinderstation der Klinik im Nachbardistrikt Ambovombe mitarbeitet. An die Wände sind Comicfiguren gemalt, ein lachender Tintenfisch, ein prustender Elefant und ein Clown. Schon im März hat ihre Organisation ein gutes Dutzend Hütten mit 180 Betten für akut lebensbedrohliche Hunger-Notfälle ausgestattet. Doch derzeit sind nur zwei davon belegt – mit Tuberkulose-Patienten. "Dass nicht weit mehr verhungern, kann nur daran liegen, dass die Menschen hier seit Langem an absolute Mangelernährung gewohnt sind", sagt Deslandes. "In anderen Gegenden der Welt würden die Kinder reihenweise sterben."

Keré, das Wort für Hunger, ist fest im Sprachgebrauch der Bauern des Grand Sud verankert. Immer schon gab es Jahre, in denen es die Wolken kaum über die Berge schafften. Auch früher kam Suppe aus Rinde vom Tamarindenbaum oder mit Gras auf den Tisch. Die Hungersnot von 1928 ging in die Geschichte ein, die von 1991 wieder. Nothilfe von außen gab es immer, verbessert hat sich nichts.

Von 900 Rindern im Ort sind noch 40 übrig

Der Spuk am Himmel über Ambatomainty hat sich nach nur zehn Minuten in nichts aufgelöst. Der Sturm hat sich gelegt, die Finsternis verzogen. Dorfchef Tanandava steht wieder in der prallen Sonne auf dem brachliegenden Feld. Reislieferungen des WFP haben auch ihm mehrfach über Dürreperioden hinweggeholfen. Doch viel mehr würde es ihm nützen, wenn der Staat ihn gegen die Viehdiebe, Dahalos genannt, schützte. Die haben sich seit dem Putsch von 2009, der Präsident Rajoelina ins Amt brachte, zu kriminellen Organisationen entwickelt, skrupellosen Banden, bewaffnet mit Kalaschnikows. Sie haben Tanandava seiner wichtigsten Lebensgrundlage beraubt: der Rinder.

Einmal schickte die Regierung das Militär zu Hilfe. "Doch wir mussten die Soldaten durchfüttern. Und als die Dahalos kamen, rannten sie weg", sagt Tanandavas 91-jähriger Vater. Viele hier glauben, die Sicherheitskräfte vermieteten ihre Waffen an die Banditen – um im Gegenzug einen Teil der Beute zu erhalten.

Normalerweise müssen die Dorfbewohner es mit Ochsenkarren aus 13 Kilometer Entfernung heranschaffen
Normalerweise müssen die Dorfbewohner es mit Ochsenkarren aus 13 Kilometer Entfernung heranschaffen
© Jonas Wresch

"Es hält sich hartnäckig das Gerücht, dass die Regierung den Grand Sud entvölkern will, weil er reich an Bodenschätzen ist", sagt Juvence Ramasy, Dozent für Verfassungsrecht an der Universität Toamasina. Unter den kargen Böden des Grand Sud liegen Gold, Nickel und Saphire. Vieles davon wird illegal abgebaut. Da stört das eigene Volk. Es könnte Besitzansprüche anmelden.

Davon ist Dorfchef Tanandava weit entfernt. Er beklagt nur, dass er über die Jahre nahezu seine gesamte Herde verlor. "Früher hatte ich 80 Zebu-Rinder. Heute sind es noch vier", sagt er. Die Tiere, die ihm nicht gestohlen wurden, musste er verkaufen, um Geld für Lebensmittel zu bekommen. Den anderen Bewohnern von Ambatomainty geht es ähnlich. Von einst 900 Rindern im Ort sind noch 40 übrig. Die Gatter sind leer. Das Bassin für die Tränke ist trocken und mit Bastmatten abgedeckt. Seine vier verbliebenen Zebus braucht der Dorfchef zum Wasserholen. "Mit weniger kann ich nicht überleben."

Jeden zweiten Tag ziehen die Tiere den Ochsenkarren 13 Kilometer weit bis zum sandigen Bett des Mandrare. Früher war der Fluss zur Regenzeit ein breiter Strom. Jetzt müssen die Menschen tiefe Löcher ins Flussbett graben, um noch an Wasser zu kommen. Mit Kanistern voll brauner, brackiger Brühe geht es dann zurück in das Dorf, das sich immer mehr entvölkert. Über 100 junge Familien sind in den vergangenen Jahren weggezogen aus Ambatomainty und den zwölf Nachbargemeinden. Windschief stehen ihre Hütten da, halb zerfallen, das Holz von Termiten zerfressen.

"Wenn es so weitergeht, ist in fünf Jahren alles weg"

Manche suchten ihr Glück in der Stadt. Andere sind nur näher an den Wald gezogen. Besser gesagt: an das, was vom Wald noch übrig ist. Rings um Ambatomainty steht so gut wie kein Baum mehr, die Bauern haben alles abgeholzt.

Ein Vater hält sein Baby im Arm. Auf dem Bett dahinter liegt die unterernährte Mutter. Sie ist zu schwach zum Stillen
Ein Vater hält sein Baby im Arm. Auf dem Bett dahinter liegt die unterernährte Mutter. Sie ist zu schwach zum Stillen
© Jonas Wresch

"Ich weiß, dass wir auch unser eigenes Grab geschaufelt haben", sagt Jean de Dieux Tanandava und schweigt lange. Er weiß, dass es vor allem da regnet, wo noch Wald steht. Das hat er schon von seinen Großeltern gelernt. Allein in den vergangenen 20 Jahren hat Madagaskar ein Viertel seiner Waldfläche verloren – auch weil jede Familie von Jahr zu Jahr mehr Bäume für Brennholz und für den Hausbau schlägt.

Tanandavas Schweigen wird von den Axthieben des Dorfschreiners durchbrochen. Der bearbeitet im Schatten eines Tamarindenbaums frisch geschlagene Holzstämme. "Wenn es so weitergeht, ist in fünf Jahren alles weg", sagt Tanandava. "Wenn kein Holz mehr da ist, bleibt nur der Tod."

Das versucht die humanitäre Gemeinschaft mit großer Kraftanstrengung zu verhindern – wieder einmal. Das WFP rüstet gerade seine Lagerbestände auf, wie immer in Krisen. Seit 1991 werden die Kapazitäten bei jeder extremen Trockenheit verdoppelt, zuletzt 2016. Jetzt ist es wieder so. Arbeiter entladen riesige Lastwagen, schleppen die 50 Kilo schweren Reissäcke auf ihren Schultern in die neu errichte-ten Hallen. Inzwischen lagern dort 9,6 Millionen Tonnen Reis. Im vergangenen Jahr wurden sieben Millionen Tonnen verteilt.

"Leben retten, Leben ändern", steht auf großen Aufklebern, die an den Lastwagen prangen. Nichtregierungsorganisationen aus der ganzen Welt stehen bereit.

"Bisher blieb der nachhaltige Effekt bei null"

Doch je größer der Auflauf der humanitären Helfer wird, umso mehr wachsen bei erfahrenen Experten wie dem Franzosen Jean Philippe Jarry, 54, die Zweifel an diesem Tun.

Auch er ist natürlich froh, dass durch den internationale Einsatz das große Sterben bislang verhindert wurde. "Doch meine Sorge ist, dass wir wieder das Gleiche wie immer machen. Bisher blieb der nachhaltige Effekt bei null", sagt er. Jarry war mal Landesdirektor der Welthungerhilfe, seit 20 Jahren ist er in Madagaskar im Einsatz. "Wenn man etwas ändern will, muss man mit der Regierung arbeiten, statt ihr die Verantwortung abzunehmen. Sonst geht in zwei Jahren das Gleiche von vorn los."

Frauen streiten sich um Wasser, das Ärzte ohne Grenzen gerade angeliefert hat
Frauen streiten sich um Wasser, das Ärzte ohne Grenzen gerade angeliefert hat
© Jonas Wresch

Stark steigende Geburtenzahlen sind ein Teil des Problems – zumal viele Kinder aufgrund von Mangelernährung bereits mit körperlichen oder geistigen Defiziten zur Welt kommen. Auch Dorfchef Tanandava hofft, dass die Schar seiner Kinder bald von vier auf zehn wächst. Möglichst viele Nachkommen sollen seine Versorgung im Alter sichern.

Agraringenieur Jarry spricht – wie die Experten der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) – von einem Teufelskreis aus Krise und Nothilfe, den es zu durchbrechen gelte. "Wir müssen auf Bildung und Infrastruktur setzen, um dem ein Ende zu machen", sagt er. Wer Bargeld an Bedürftige verteile, wie es inzwischen selbst namhafte Organisationen tun, verschlimmere deren Lage nur. "Damit macht man aus den Menschen tatsächlich arme Kreaturen", sagt Jarry. Er zitiert die Alten des Grand Sud, denen er in den letzten Jahrzehnten häufig begegnet ist: "Die sagen: Mit Geld bringt ihr unsere jungen Menschen um." Die Almosen der reichen Welt nähmen den Menschen des Grand Sud nicht nur die Würde, sondern auch den Antrieb, sich selbst zu helfen.

Beten für Regen

Jarry ist inzwischen im Rahmen eines Landwirtschaftsprojekts der EU tätig, an dem auch die GIZ beteiligt ist. Das fördert die Eigeninitiative der Menschen und fordert diese auch ein. Es hilft Bauern, sich mit einfachen Mitteln auf die Klimaveränderungen einzustellen: Hecken gegen Winderosion, Blätterabdeckungen auf den Feldern gegen die Hitze, Neuzüchtungen von stachelfreien Kakteen als Tierfutter. Im Hintergrund werden Wertschöpfungsketten analysiert. Ziel ist es, von Not- auf Strukturhilfe umzuschalten. Die Menschen müssten merken, dass "das Arbeiten sich wieder lohnt", sagt die GIZ-Programmleiterin Linh Feldkötter. "Man kann Entwicklung nicht von außen diktieren." In Jahren mit ergiebigem Regen, sagt auch Jean Philippe Jarry, könne der Grand Sud die ganze Insel mit Früchten und Gemüse versorgen.

Auf solche Jahre hofft auch Dorfchef Jean de Dieux Tanandava. Gerade kommt sein Neffe mit den Zebus vom Wasserholen zurück. Er spießt Kaktusblätter auf eine Lanze, fackelt die Stacheln ab. Tanandava trägt sie in die ausgetrocknete Tränke seines Gatters und hackt die Blätter mit einer Machete klein, um sie dann zu verfüttern. Dabei spricht er leise vor sich hin.

Der ausbleibende Regen? Überfälle von Viehdieben? "Das alles ist in Gottes Hand", sagt der Dorfchef. In seinen Gebeten bittet er den Allmächtigen um Regen. Doch die Prognose der Meteorologen verheißt nichts Gutes. Bis April soll es im Grand Sud trocken bleiben. Normalerweise geht dann die Erntesaison allmählich zu Ende.

Erschienen in stern 8/2022

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