Haftung des Leistungsempfängers für die schuldhaft nicht abgeführte Umsatzsteuer

Das „Kennenmüssen“ i.S. des § 25d Abs. 1 UStG muss sich im Rahmen eines konkreten Leistungsbezugs auf Anhaltspunkte beziehen, die für den Unternehmer den Schluss nahelegen, dass der Rechnungsaussteller bereits bei Vertragsschluss die Absicht hatte, die Umsatzsteuer nicht abzuführen.

Haftung des Leistungsempfängers für die schuldhaft nicht abgeführte Umsatzsteuer

§ 25d Abs. 1 UStG führt zur Haftung des Unternehmers aus einem vorangegangenen Umsatz, soweit der Aussteller der Rechnung entsprechend seiner vorgefassten Absicht die ausgewiesene Steuer nicht entrichtet hat und der Unternehmer bei Abschluss des Vertrags über seinen Eingangsumsatz davon Kenntnis hatte oder nach der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns hätte haben müssen. Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der Merkmale des § 25d Abs. 1 UStG trägt das Finanzamt[1].

Selbst wenn man die Kenntnis der Leistungsempfängerin von steuerstrafrechtlichen Ermittlungen gegen den Geschäftsführer der Lieferantin unterstellt, folgt hieraus nicht, dass sie von dessen Absicht wusste, die Umsatzsteuer aus dem Liefergeschäft mit ihr nicht abzuführen. Zum einen gilt bis zur Verurteilung des Beschuldigten die Unschuldsvermutung. Zum anderen folgt selbst aus steuerstrafrechtlich bedeutsamen Verhalten bei anderen Geschäftsvorfällen nicht der sichere Schluss auf die Absicht, auch bei zukünftigen Umsätzen die Umsatzsteuer zu hinterziehen.

Ferner trafen die Leistungsempfängerin selbst bei Kenntnis von steuerstrafrechtlichen Ermittlungen gegen die Lieferantin keine Sorgfaltspflichten hinsichtlich einer Hinterziehungsabsicht der Lieferantin. Denn an das Kennenmüssen i.S. des § 25d Abs. 1 UStG sind, wenn -wie hier- die Regelvermutung des § 25d Abs. 2 UStG nicht eingreift, strenge Anforderungen zu stellen.

§ 25d Abs. 1 UStG muss den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, die Teil der Gemeinschaftsrechtsordnung sind und zu denen u.a. die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Verhältnismäßigkeit gehören, genügen[2]. Die Regelung darf also nicht über das hinausgehen, was erforderlich ist, um die Ansprüche des Staates möglichst wirksam zu schützen. Zudem dürfen Wirtschaftsteilnehmer, die alle Maßnahmen treffen, die vernünftigerweise von ihnen verlangt werden könnten, um sicherzustellen, dass ihre Umsätze nicht zu einer Lieferkette gehörten, die einen mit einem Mehrwertsteuerbetrug behafteten Umsatz einschließt, für die Zahlung der von einem anderen Steuerpflichtigen geschuldeten Steuer nicht gesamtschuldnerisch in Anspruch genommen werden[3].

Die Annahme, dass einem Steuerpflichtigen bereits bei bloßer Kenntnis von steuerstrafrechtlichen Ermittlungen gegen einen Vertragspartner erhöhte Sorgfaltspflichten obliegen, würde trotz der dem Unternehmer zukommenden Aufgabe, öffentliche Gelder als „Steuereinnehmer für Rechnung des Staates“[4] zu vereinnahmen, gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoßen[5].

Denn eine am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientierte Auslegung des § 25d Abs. 1 UStG führt dazu, dass sich das Kennenmüssen i.S. des § 25d Abs. 1 UStG auf Anhaltspunkte bezieht, die für den Unternehmer im Rahmen eines konkreten Leistungsbezugs den Schluss nahelegen, dass der Rechnungsaussteller bereits bei Vertragsschluss die Absicht hatte, die Umsatzsteuer nicht abzuführen. Hierfür gibt es vorliegend in Bezug auf die konkreten Eingangsleistungen, die haftungsbegründend sein sollen, aber weder nach den Feststellungen des Finanzgericht noch nach Aktenlage oder nach dem Vortrag des Finanzamt irgendwelche Anhaltspunkte.

Da die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25d Abs. 1 UStG nicht vorliegen, braucht der Bundesfinanzhof nicht darüber zu entscheiden, in welchem Verhältnis eine Haftung nach § 25d Abs. 1 UStG zu einer Versagung des Vorsteuerabzugs nach den Grundsätzen der vom BFH übernommenen Rechtsprechung des EuGH[6] steht und ob überhaupt eine Kumulation von Vorsteuerversagung und Haftung nach § 25d Abs. 1 UStG in Betracht kommen kann[7].

Bundesfinanzhof, Urteil vom 10. August 2017 – V R 2/17

  1. BFH, Urteil vom 28.02.2008 – V R 44/06, BFHE 221, 415, BStBl II 2008, 586, unter II. 4.a; Schwarz in Schwarz/Widmann/Radeisen, UStG, § 25d Rz 35; Mann in Küffner/Stöcker/Zugmaier, UStG, § 25d Rz 31; Zugmaier/Kaiser in Offerhaus/Söhn/Lange, § 25d UStG Rz 64; Schuska, Zeitschrift für das gesamte Mehrwertsteuerrecht -MwStR- 2015, 323, 324[]
  2. EuGH, Urteil Federation of Technological Industries u.a. vom 11.05.2006 – C-384/04, EU:C:2006:309, Rz 29[]
  3. EuGH, Urteil Federation of Technological Industries u.a., EU:C:2006:309, Rz 33[]
  4. dazu EuGH, Urteile Balocchi vom 20.10.1993 – C-10/92, EU:C:1993:846, Rz 25, und Netto Supermarkt vom 21.02.2008 – C-271/06, EU:C:2008:105, Rz 21; BFH, Urteil vom 24.10.2013 – V R 31/12, BFHE 243, 451, BStBl II 2015, 674, Rz 21[]
  5. vgl. EuGH, Urteile Farkas vom 26.04.2017 – C-564/15, EU:C:2017:302, Rz 59 f.; Maya Marinova vom 05.10.2016 – C-576/15, EU:C:2016:740, Rz 44[]
  6. vgl. hierzu z.B. EuGH, Urteile Italmoda u.a. vom 18.12 2014 – C-131/13, – C-163/13, – C-164/13, EU:C:2014:2455; Optigen u.a. vom 12.01.2006 – C-354/03, – C-355/03, – C-484/03, EU:C:2006:16; Kittel und Recolta Recycling vom 06.07.2006 – C-439/04, 440/04, EU:C:2006:446; BFH, Urteile vom 12.08.2009 – XI R 48/07, BFH/NV 2010, 259; vom 19.04.2007 – V R 48/04, BFHE 217, 194, BStBl II 2009, 315[]
  7. vgl. hierzu z.B. Drüen, UR 2016, 777; Grube, MwStR 2013, 8; Heuermann, DStR 2015, 1416; Treiber, MwStR 2015, 626; Wäger, UR 2015, 81[]