Eine uralte Sennenkultur

„Wenn aus dem Tal die Bergnacht steigt, in Gold die Firnen glühn, des freien Älplers Betruf schallt, nach seines Tages Mühn. Und kräftig widerhallt die Wand ‚Gott schütze unser Heimatland“*. Ein Blick auf eine uralte Tradition – und auf jene, die sie ausüben.

Ein stimmungsvoller Abend. Das Bild wurde vor ein paar Jahren auf der Meglisalp aufgenommen.
Ein stimmungsvoller Abend. Das Bild wurde vor ein paar Jahren auf der Meglisalp aufgenommen.

Schon vor Hunderten von Jahren, wohl seit der Bestossung der Alpen, riefen an Sommerabenden Hirten und Sennen Gott um den Schutz für Mensch und Vieh an. Das Leben war damals hart. Gefahren und Ungemach lauerten überall. Ein Blick auf den Betruf des Sarganserlandes zeigt dies. Nach einem «Bhüets Gott», in dem unter bekannten Heiligen wie Gallus, Martin, Sankt Jöri und die Mutter Gottes erwähnt werden, heisst es unter anderem: «Bschlüss wohl dem Bären synen Gang, dem Wolf der Zahn, dem Luchs der Chräuel, dem Rappen der Schnabel, der Flug dem Greif, dem Stei der Sprung – Bhüots Gott vor einer solchen böüsen Stund. Bhüets Gott!».

Erstmals schriftlich erwähnt wird der Betruf (oder Alpsegen) um 1565 von einem Stadtschreiber aus Luzern. Er berichtet, wie um die Zeit des Ave-Maria-Läutens die Älpler die Himmelskönigin bitten würden, Vieh und Mensch unter Gottes Schirm zu stellen und das Böse sowie Unfälle abzuhalten. Bereits im Jahr 1609 wurde dieser sogenannte heidnische Viehsegen von der Luzerner Obrigkeit verboten. Später wandelte ein Obwaldner Jesuitenpater den alten Viehruf auf christliche Art um. Anstatt Loba (Bezeichnung der Kuh) benutzte er die Worte «Gott ze lobe» (Gott zu loben).

Auf katholischen Berggebieten

Der Ausdruck Lobe, das alemannische Wort für Kuh, wird in der Schweiz an verschiedenen Orten immer noch gebraucht «Chömed Lobe, chömed wädli, wädli!» rufen einige Appenzeller Bauern. Auch in Kuhreihen im Welschland wie zum Beispiel im «Ranz des vaches – Lyôba, lyôba», ist die Kuh gemeint. Der Alpsegen, Betruf oder das Ave Maria jedoch wurden während langer Jahre nur auf Alpweiden der katholischen Berggebiete gerufen. In Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern, Appenzell Innerrhoden, im Oberwallis, im st. gallischen Sarganserland und im Toggenburg. Auch das benachbarte Liechtenstein kennt und liebt diesen uralten Brauch sowie auch das Vorarlberg. Längst lauschen auch Touristen andächtig diesem melodischen Wortgesang, der den Abend auf einer Alp mitunter verzaubern und zum Nachsinnen bewegen kann.

Betruf im Grossmünster Zürich

Einer, der sich mit dem Betruf besonders gut auskennt, ist Roland Bischof aus dem st. gallischen Stein. Während Jahren rief er ihn auf seiner Alp Hoor unterhalb vom Neuenalpspitz, wo schon sein Vater Bernhard jede Alpzeit neben dem grossen Kreuz beim Schlafsein dieses Ritual pflegte. Bereits als Bub hatte dieser den Betruf erlernt. Ein Lehrer Mauchle aus Stein brachte damals drei ausgewählten Bauernbuben mit einer guten Stimme diesen uralten Sprechgesang bei. Einer von ihnen war Bernhard, Rolands Vater. Während jener Zeit war der Alpsegen im Toggenburgischen beinahe in Vergessenheit geraten. Dank eines Kaplans, der von 1961 bis 1966 im Kloster Alt St. Johann tätig war, kam der Alpsegen wieder zu Ehren. Der Kaplan war der spätere Bischof Othmar Mäder. Seither wird der Alpsegen auf verschiedenen Alpen im Toggenburg jeden Sommerabend, solange das Vieh oben ist, gerufen. Früher noch durchs Milchsieb, heute durch den Betruf-Trichter. Dieser erzeugt einen stärkeren Ton.

Ein niedergeschriebener Betruf, fotografiert vor Jahren in der Alphütte Oberchellen.
Ein niedergeschriebener Betruf, fotografiert vor Jahren in der Alphütte Oberchellen.

Vom Alpsegen durch Roland Bischof inspiriert, wurde Christoph Sigrist evangelischer Pfarrer im Grossmünster in Zürich. Während der Zeit, als wegen Corona die Gottesdienste nicht besucht werden durften, rief er vom Turm des Münsters den Menschen mit einem eigens geschaffenen Betruf Mut zu. Scharenweise lauschten sie ihm, auch von Dächern und aus offenen Fenstern von Altersheimen. Pfarrer Sigrist sprach jeden Abend um etwa 18 Uhr die multikulturelle Gesellschaft an, Junge und Alte, Einheimische und Fremde: «Bhüet eus Gott, Chranki und Gsundi, die wo glaubed und die wo nöd glaubed.» Er schuf keinen Alpsegen, sondern einen Stadtsegen. Während der Osterwoche behielt dieser auch nach Corona seinen Platz.

Mit Respekt und Ehrfurcht

Lange war der Betruf eine Männersache. Inzwischen wird er auch von Frauen gerufen. Für Sonja Lieberherr aus Ebnat-Kappel ist er ein tragendes Element ihres Lebens. Sie kannte ihn seit ihrer Kindheit als Bauernmädchen aus dem st. gallischen Stein. Als Frau und Mutter verbrachte sie während ein paar Jahren die Sommerferien als Hirtin im Fürstentum Liechtenstein am Triesenberg/Steg. Jeden Abend rief sie, wie man dort sagt, das Ave Maria. Nicht nur bei schönem Wetter, auch bei Sturm und Regen. Im Nebel, so schien ihr, spüre man das Sakrale, das uralte Gebet zu einer göttlichen Macht, noch tiefer. Als Witwe und Mutter von drei kleinen Buben, verbrachte sie den ersten Sommer auf der Alp und fand dort Ruhe und Frieden. Sie liebte die Arbeit mit den Tieren, Galtkühen, Rindern, Kälbern und ein paar Eseln. Morgens früh, wenn die Kinder noch schliefen, flickte sie die vom Wild und Steinen getrennten Häge rund um die ihr anvertrauten Weiden. Bei anderen Arbeiten durften die Buben immer dabei sein. Gerne denkt Sonja Lieberherr an diese Zeit zurück. Die Alpzeit und der Alpsegen sind Leidenschaften, die ihr immer wieder Ruhe, Vertrauen und ein tiefes Verständnis schenken.

Sonja Lieberherr mit ihrem Betruf-Trichter. Bei schlechtem Wetter wirkt der Betruf besonders eindrücklich.
Sonja Lieberherr mit ihrem Betruf-Trichter. Bei schlechtem Wetter wirkt der Betruf besonders eindrücklich.

Die gelernte Marketingplanerin arbeitet inzwischen im Verkauf Innendienst einer Produktionsfirma im Tal. Die Buben wohnen noch daheim. Als Jodlerin wurde sie mehrmals von Christoph Sigrist eingeladen, ihn beim Stadtruf vom Grossmünster herunter stimmlich zu begleiten. Das macht ihr Freude, wie auch, wenn sie hin und wieder als Aushilfe auf einer Alp einen Sennen vertreten oder in einer Kirche den Alpsegen durch den Trichter rufen darf: «Bhüets Gott!». Sie möchte nie an einem Anlass auftreten, wo er nur zur Schau getragen wird. Sie müsse bei Anfragen spüren, ob der ursprüngliche Sinn des Alpsegens auch wirklich verstanden wird. Zur Schau tragen möchte sie ihn nie. Er kommt für sie aus tiefem Herzen. Das Mystische, Schamanische, das sie dabei empfindet, und das sie auf ihren etlichen Reisen zum Beispiel auch beim Ruf zum Gebet des Muezzins jeweils spürte, ist für sie ein Zeichen, dass die Menschen im Innersten das Gleiche suchen: Schutz, Sicherheit, Verständnis und Geborgenheit.

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