Neue Taschenbücher:Eine Mischsprache als Star

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Taschenbuch­neuerscheinungen, unter anderen mit Norbert Scheuer, Maria Stepanova und David Whish-Wilson.

Jonas Hassen Khemiri: Montecore, ein Tiger auf zwei Beinen. A. d. Schwed. v. Susanne Dahmann. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 400 Seiten, 14 Euro. (Foto: N/A)

Eine Mischsprache als heimlicher Star

"Rinkeby Schwedisch" wird der Jargon genannt, den man in Stockholms gleichnamigem Bezirk spricht, ein Gewirr aus Schwedisch und den Sprachen der Einwanderer. Jonas Hassen Khemiri, hier als Sohn eines Tunesiers und einer Schwedin aufgewachsen, macht diesen Slang zum heimlichen Star seines zweiten Romans, für den er 2006 mit dem Per Olov Enqvist Preis ausgezeichnet wurde. Darin lässt er sein gleichnamiges alter ego auf Kadir treffen, einen Jugendfreund seines Vaters Abbas. In einer E-Mail schlägt Kadir dem Schriftsteller eine gemeinsame Biografie über Abbas vor, einen weltbekannten Fotografen, der seit Jahren abgetaucht ist. In Briefen tauschen die beiden Erinnerungen an Abbas aus, an die Kindheit im Waisenhaus, Pokerturniere und das neue Leben in Schweden. Kadir erzählt in überkandidelt-gebrochenem Schwedisch, Jonas im poetischen Singsang aus Rinkeby, amerikanischem Gangster-Rap und einem vom Vater entwickelten Idiom, das Kadir liebevoll "Khemirisch" nennt - "eine Sprache mit 'Einmal Alles', eine Sprache, die arabische Flüche, spanische Fragewörter, französische Liebeserklärungen, englische Fotografenzitate und schwedische Wortwitze ist." Die Abweichung von der Hochsprache ist für beide identitätsstiftend.

Im Durcheinander aus Registern und Wortschätzen prallen Kultur- und Generationsunterschiede aufeinander und decken Tieferliegendes auf. Susanne Dahmann bewahrt die Verschiebungen und Wortverknotungen vorm Chaos und überträgt die Denkräume voller Falschwörter und Missverständnisse leichtfüßig ins Deutsche. Der sprachliche Drahtseilakt macht jedoch deutlich, dass die Posen beider immer auch Rüstung sind - gegen Rassismus und Hass, die Kehrseite der vermeintlich erfolgreichen Einwanderergeschichte, die auch Wortwitz nicht überspielen kann. Umso herzzerreißender ist es dann, wenn Kadir feststellt: "In des Schreibens Stunde sehe ich ein, dass 'komisch' eher durch 'tragisch' getauscht werden sollte (die Grenze zwischen beiden scheint mir immer grauer)." Sofia Glasl

Coolness und andere Anständigkeiten

Alexander von Schönburg: Die Kunst des lässigen Anstands. Piper Verlag, München 2020. 368 Seiten, 12 Euro. (Foto: N/A)

Entspannt euch mittels Anstand! Ausgefuchster Buchtitel - Lässigkeit plus Anstand ist gleich Kunst. Oder bloß Kunstfertigkeit, cool ausgerufen? Zu den rund 30 hier erörterten Werten und Tugenden des Zusammenlebens gehört in der Tat: "Coolness". Alexander von Schönburg, Spross eines Adelsgeschlechts, streift mit Belesenheit durch die ertragreichsten Felder der Kulturgeschichte. Und kommt, nachdem er Disziplinen wie Humor, Demut, Treue oder Keuschheit, Geduld, Sportlichkeit oder Gehorsam, Milde, Maß wort- und zitatenreich - und in persönlicher Bezogenheit - abgehandelt hat, mit der Coolness, zum gefühlten Hauptkapitel. "Die vielleicht coolste Person, der ich je begegnet bin, ist William Burroughs". Vom Beatnik-Dichter geht es über den "Habitus der Teilnahmslosigkeit" des Dirck Linck und den alten stoischen Leidpropheten Seneca bis hin zu modernen "Heldenfiguren" wie Janusz Korczak oder Dietrich Bonhoeffer und der Definition: "Die Synthese von Coolness und Kindness ist die Ritterlichkeit". Schönburg lässt danach Fleiß, Zucht, Mut und Toleranz folgen - so lässig wollen seine Anstandsregeln offenbar gar nicht sein. Wolfgang Schreiber

Wie Bienen als Retter dienen

Norbert Scheuer: Winterbienen, dtv, München 2020. 329 Seiten, 11,90 Euro. (Foto: N/A)

Es ist ein gefährliches Geschäft: Immer wieder verhilft der Imker Egidius Arimond während des Zweiten Weltkriegs Juden zur Flucht; während die Kinder und Erwachsenen in präparierten Bienenkästen kauern, Schwärme von Bienen um sich, bringt er sie von der Eifel aus zur belgischen Grenze. Es sind nicht nur humanitäre Gründe, die den aus dem Schuldienst entlassenen Lehrer antreiben. Dringend braucht er das Geld, das er als Schleuser verdient, um Medikamente zu besorgen; als Epileptiker muss er selbst befürchten, von den Nationalsozialisten als lebensunwert aussortiert, vernichtet zu werden. Es ist eine spannungsreiche Versuchsanordnung, die Norbert Scheuer in seinem mehrfach ausgezeichneten, bewegenden Roman "Winterbienen" aufgebaut hat. In Form eines Tagebuchs Arimonds aus den Jahren 1944/45 beleuchtet er in zunehmend fiebrig wirkenden Einträgen schlaglichtartig die Wirren und Grausamkeiten der letzten Kriegsmonate. Friedfertig dagegen erscheinen in diesem Roman die Bienen: Sie seien nicht aggressiv, betont Arimond, sie würden niemals andere Völker erobern und unterjochen. Gefährlich wirkt allein der Mensch. Antje Weber

Arbeit wie in der Hölle

Anonym: Das Sägewerk. Aus dem Französischen von Konstantin Meisel. Wagenbach Verlag, Berlin 2020. 159 Seiten, 12 Euro. (Foto: N/A)

"Ich bekomme eine Ahnung vom stillen und erbarmungslosen Krieg, den die Arbeiter gegen ihren Boss führen und den ich auch später an jedem Arbeitsplatz erlebt habe." Der anonyme Erzähler erinnert sich an die Zeit, als er durch die Abiturprüfung fällt und eine Arbeit sucht, um nicht zu verhungern. Er findet sie in einem maroden Sägewerk, der einzigen Erwerbsmöglichkeit in seinem Dorf in den fünfziger Jahren. Bald ringt er nicht nur mit den unmenschlichen Arbeitsbedingungen, sondern kämpft mit einem älteren Arbeiter ums nackte Überleben. Wie in einer Psychostudie beobachtet der Neunzehnjährige, fasziniert und gleichzeitig abgestoßen, seine eigene Veränderung zu einem gefühlskalten, brutalen Menschen, der so die Achtung seiner Umgebung gewinnt. Am Schluss, nach dem Aufbau eines neuen Sägewerks, fühlt er sich wie "in der Hölle", stolz auf seine physische Kraft, aber seelisch verzweifelt. In dieser Ambivalenz liegt die Faszination der Geschichte: "Gewiss haben der brutale Kontakt mit der Realität und die Strapazen ... meinen Charakter verhärtet, und zwar mehr, als ich es mir gewünscht hätte. Sei's drum. Es ist zu spät." Roswitha Budeus-Budde

Die schönen Morgen von Perth

David Whish-Wilson: Das große Aufräumen. Kriminalroman. Aus dem Englischen v. Sven Koch. Hrsg. Thomas Wörtche. Suhrkamp, Berlin 2020. 327 S., 10 Euro. (Foto: N/A)

Ein verschrumpeltes, aprikosenfarbenes Stück Fleisch kommt aus der Papiertüte des Besuchers. Ein Ohr, aber der Mann dazu fehlt. Dies ist eine der Überraschungen, mit denen Frank Swann in seinem neuen Job konfrontiert wird - er soll das Büro des neuen Premiers von Westaustralien abhörsicher machen, und sonst anfallenden Schmutz beseitigen. Auch den Vater des Premiers ruhig stellen, der wirre Sachen macht. Im ersten Swann-Roman von David Whish-Wilson war Swann Polizei-Superintendent, im dritten kämpft er nun, geschasst, privat weiter gegen die Korruption im Polizeiapparat, gegen Drogendealer, Biker, Immobilien-Spekulanten, tut sich dafür mit Des Foley zusammen, dem "Good Morning Bandit", einem der meistgesuchten Männer von Perth. Es gibt viele schöne Morgen für Swann und seine Frau Marion, einmal kommt er morgens heim, nimmt sich ein Glas Matusalam-Rum, drei Finger breit. "Die Sonne ging auf. Vor dem Haus begann ein Flötenvogel zu singen, in der Ferne ratterte ein Zug zum Hafen ..." Ein angenehmes Erschöpfungsgefühl. " Er stellte die Flasche zurück auf den Kühlschrank und ging langsam ins Schlafzimmer." Fritz Göttler

Tiefenbohrung in Familiengeschichte

Maria Stepanova: Nach dem Gedächtnis. Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 524 Seiten, 14 Euro. (Foto: N/A)

Eigentlich wollte sie bloß die Erinnerungen "bergen", die sich aus den Überbleibseln ihrer Groß- und Urgroßeltern zusammensetzten, also Fotos, Notizen oder Briefe. Dann hat sie die Daten der hinterlassenen privaten Dokumente mit der großen Historie abgeglichen und zu ihr in Bezug gesetzt. Allein das wäre schon ein Modell, wie man mit der Familiengeschichte umgehen könnte, besonders in einem Land wie der Sowjetunion und dann Russlands, wo die Geschichte von der Obrigkeit gestaltet wurde und wird. Aber Maria Stepanovas Interesse reicht weiter, sie befragt ihre eigene Haltung - herausgekommen ist ein romanhafter Essay über den Umgang mit der Privatgeschichte, über das mögliche Spannungsverhältnis zwischen den Interessen der Generationen; über die an ein Publikum gerichteten Memoiren, die nach der russischen Revolution von 1917 in großer Menge verfasst wurden; und über die ungezielten Botschaften der Ahnen an ihre Nachgeborenen. So ergibt sich am Beispiel Russlands ein Vexierbild konkurrierender Gedächtniswelten, die in ihrer Summe spiegeln, wie "es" vielleicht tatsächlich war. Rudolf von Bitter

© SZ vom 08.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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