Schwere Jungs, ganz fügsam

Die Ostschweizerin Annina Sonnenwald inszeniert mit Gefangenen der Strafanstalt Lenzburg Theaterszenen unter dem Titel «Wild im Herz». Heute ist Premiere: Begegnung mit einer aussergewöhnlichen jungen Frau. Rolf Hürzeler

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Lenzburger Strafgefangene spielen Theater – und verarbeiten so auch ihre Aggressionen. (Bild: JVA)

Lenzburger Strafgefangene spielen Theater – und verarbeiten so auch ihre Aggressionen. (Bild: JVA)

Sie sagt nicht viel. Aber manchmal verdreht sie die Augen in leichter Verzweiflung. Die junge Ausserrhoder Regisseurin Annina Sonnenwald versucht sieben Häftlinge der Strafanstalt Lenzburg professionell zu führen. Die schweren Jungs sollen in einer Probe «Verhör» spielen – möglichst organisiert und nicht chaotisch. Manchmal gelingt es ganz gut – manchmal weniger.

Ort des Geschehens ist eine unterirdische Turnhalle, die zu einer Bühne umgebaut ist: Fünf Vorstellungen mit maximal hundert Zuschauern sind vorgesehen, morgen ist Premiere.

Von einem Motor getrieben

Die 30jährige Regisseurin Annina Sonnenwald ist auf einem umgebauten Bauernhof in Rehetobel aufgewachsen. Sie besuchte das Lehrerseminar Kreuzlingen. Später die Zürcher Schauspielschule. Sie ist die Tochter einer typischen 68er-Familie, die Mutter Sozialarbeiterin, der Vater Künstler. Annina Sonnenwald ist kleingewachsen, sie scheint gedanklich wie körperlich laufend Pirouetten zu drehen. Bei der Begegnung hat man den Eindruck, ein innerer Motor treibe die junge Frau ununterbrochen an. Ideen sprudeln, Gedankensprünge jagen sich, Assoziationen springen auf – und verschwinden.

Volker Hesse als Mentor

Ihr beruflicher Mentor war der renommierte Regisseur Volker Hesse, mit ihm hat sie als Schauspielerin bei den Wettinger Festspielen zusammengearbeitet. Und er würdigt ihre Arbeit als Regisseurin mit den Worten: «Sie kann aus Körpern, aus Raum und Licht, aus Musik dichte geheimnisvolle Visionen beschwören.»

Annina Sonnenwald hat das einstündige Theaterstück «Wild im Herz» mit den Häftlingen zusammen entwickelt. Sie will die Straftäter dem Publikum näherbringen, «um Vorurteile abzubauen», wie sie erklärt. Entsprechend ist der Aufbau des Stücks gewählt: Am Beginn der Vorstellung steht die Bedrohung durch die Gesetzesbrecher, dann entwickelt sich eine zunehmende Nähe zwischen den Schauspielern und dem Publikum. Das geschieht mit Witz – und akrobatischen Einlagen.

Etwa wenn der Nigerianer A. wie ein Gummiball mit einer Reihe von Rückwärtssaltos quer durch die Turnhalle springt. Ein zirkusreifer Auftritt, bei dem seine Zellengenossen jedesmal anerkennend klatschen. Der junge Afrikaner kennt sein gymnastisches Potenzial: «Ich halte mich fit und hoffe, nach meiner Freilassung damit Geld zu verdienen», sagt er. Man hofft mit ihm, es möge gelingen.

Der «Gangsta-Rap»

Der Libanese A. wiederum besticht durch eine Art selbstgeschriebenen «Gangsta-Rap»: «Tausendmal wollte ich essen, hatte kein Geld, musste Leute erpressen», schleudert er dem Publikum entgegen.

Und man bezieht als Zuschauer innerlich Stellung – für den Rapper, ohne an die Erpressten zu denken. Eine muntere Truppe lockerer Burschen also? Nicht ganz, manchmal blitzen plötzlich unbehagliche Momente auf, etwa als die Rede auf einen Kollegen kommt, der die Probe schwänzt.

Das «Kollegenschwein»

Das unschöne Wort «Kollegenschwein» fällt mit bedrohlichem Unterton. Ein anderer sagt, dass der Abwesende was zu hören bekommt, «wenn ich ihn am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit sehe». Und man hat den leisen Eindruck, dass der möglicherweise nicht nur etwas zu hören bekommt. Solche Aggressionen verarbeiten die Schauspieler auch in ihrem Stück. So schreien sie sich in einer Szene gegenseitig an. Und der Zuschauer merkt schnell, dass sie diesen Part nicht allzu häufig üben mussten.

Zuerst Stärke markiert

Annina Sonnenwald hatte letztes Jahr die Idee zu diesem Stück. Sie setzte sich mit der Direktion der Justizvollzugsanstalt Lenzburg in Verbindung, wie das Gefängnis auf Amtsdeutsch heisst, und fand Unterstützung. Seit Oktober probt sie mit den Häftlingen und freut sich über ihre Erfahrungen. Wie zu sehen ist, hat sie sich als junge Frau den Respekt der Gefangenen verschafft: Sie folgen den Anweisungen, ohne dass sie laut werden muss.

«Zuerst mussten sie etwas Stärke markieren», sagt sie, «aber das hat sich schnell gegeben.» Sie habe auch niemals eine bedrohliche Situation erlebt. Zumal sie mit den Häftlingen nicht allein ist. Annina Sonnenwald arbeitet mit der Choreographin Simona Hofmann, mit einem Schlagzeuger und einer tadschikischen Sängerin, die persische Lieder singt, etwa das herzzerreissende Klagelied eines zum Tode Verurteilten. Nicht ganz passend im zeitgemässen Strafvollzug, aber dafür umso eindrücklicher.

Ungewiss bis zuletzt

Auf die heutige Premiere hin hat Annina Sonnenwald Lampenfieber. «Ich weiss nicht, wie die Häftlinge vor fremdem Publikum reagieren. Sie könnten Mühe haben, konzentriert zu bleiben», erzählt sie. Und: «Meine Achtung geht an die sieben Mitspieler, die den Mut aufgebracht haben, aus ihrem wilden Leben mit Herzblut zu spielen.»

«Wild im Herz» hat heute Freitag in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg Premiere. Weitere Spieldaten: Sa, 23.2., So, 24.2., Fr, 1.3., Sa, 2.3., jeweils 19.00 Uhr, mit anschliessender Führung.

Annina Sonnenwald

Annina Sonnenwald