«Jung & Alt»-Kolumne
«Geschätzte Leserschaft»? Ist noch übler als «Damen und Herren»

In der «Jung & Alt»-Kolumne schreibt unser Autor Ludwig Hasler, 78, alternierend mit Samantha Zaugg, Journalistin, 28. Diese Woche erklärt Hasler, wieso er die Entpersönlichung der Sprache ablehnt.

Ludwig Hasler
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Eine Leserin oder eine Lesende? Sprache prägt die Realität.

Eine Leserin oder eine Lesende? Sprache prägt die Realität.

Keystone

Liebe Samantha

Du hast eine lustige Vorstellung, wie Menschen ticken. Das Thema nonbinär, sagst du, sei eigentlich abgehakt; alles gesagt und durchgekäut. Trotzdem schlurfen noch immer ein paar Alte uneinsichtig herum und sehen die Welt stur als Frau und Mann. Da bist du perplex und fragst wie eine genervte Lehrerin: «Soll ich mal was erklären?» Tönt nach Drohung. Nachsitzen. Ist genau der Ton, den nicht nur Alte ablehnen. Die Mehrheit der Gesellschaft reagiert allergisch darauf, eher widerborstig. Menschen spuren selten, weil man sie belehrt.

Ich auch. Bin zwar deiner Ansicht: «Damen und Herren» als Anrede ist ein alter Zopf. «Geschätzte Leserschaft» schlägst du stattdessen vor, scheinst regelrecht begeistert zu sein von dem Treffer. Ich finde ihn – schrecklich. Erinnert mich an die «geschätzten Anwesenden», die bei Bürokraten beliebt sind. Für dich wohl untadelig, weil genderneutral. Für mich barer Formelkram, immerhin realistisch; «geschätzte Zuhörende» wäre in solchen Fällen eine tollkühne Überschätzung.

Aber ist denn nun alles egal – Hauptsache, der binäre Code ist weg? Ich bin ein Fossil, mich nerven bereits branchenübliche Neutralisierungen. «Lehrperson», als administrative Floskel patent, für alle und niemanden. Warum dann nicht «Servierperson», «Metzgperson» etc.? Deine «Leserschaft» aber neutralisiert nicht nur, sie entpersönlicht. Macht uns zur Sache. Schaft! Kommt von der Waffentechnik, bezeichnet den Griffteil der Waffe, beim Speer, der Flinte. Auch beim Beil, beim Meissel, das Teil zum Anfassen. Willst du die Leserinnen am Schaft fassen, in Griff kriegen? Ich aber will kein Schaft sein, kein Leserschaft, kein Bürgerschaft, kein Kundschaft. Du betonst doch, wie wichtig Sprache beim Gestalten der Realität sei. Ja! Was ist denn nun mit dem blöden Schaft?

«Sehr geehrte Damen und Herren» sag ich selber schon lange nicht mehr. Schon gar nicht «meine Damen und Herren» wie der Bundespräsident an Neujahr. Meint er, ich gehöre ihm? Wie wäre es mit etwas situativer Leichtigkeit? Mehr Fantasie, mehr Humor? Ich erinnere mich, wie Francisco Bergoglio, frisch zum Papst gewählt, auf den Balkon trat und herzhaft in die Menge grüsste: «Buona sera». Die Leute merkten: Sie waren gemeint.

Persönlich statt floskelhaft. Manchmal sag ich schlicht «Ich begrüsse Sie freundlich». Oder «Ich begrüsse Sie vergnügt». Bei Maturfeiern eher so: «Liebe Zukunftshoffnungen». Bei einer Rede in Magglingen: «Liebe Sportskanonen». Auf einem Kongress, wo ich nach einer Rampensau auftrat, begann ich: «Tut mir leid, es wird jetzt etwas langweilig …»

Du hast es doch mit den Künsten. Mit Fantasie schlägst du mich spielend. Nur zu.

Ludwig

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