Wenn der Vater vorbeizieht

RORSCHACHERBERG. Für den morgigen Vatertag sammeln Mark Riklin und die Organisation Familien Ostschweiz Geschichten über Väter und das Vatersein. Gestern schilderten auch Bewohner des Pflegeheims der Region Rorschach ihre persönlichen Erinnerungen.

Lea Müller
Drucken
Vom Vater erzählen: Im Pflegeheim der Region Rorschach schildert ein Bewohner Mark Riklin seine persönlichen Erinnerungen. (Bild: Lea Müller)

Vom Vater erzählen: Im Pflegeheim der Region Rorschach schildert ein Bewohner Mark Riklin seine persönlichen Erinnerungen. (Bild: Lea Müller)

Die Erinnerung an den Vater dauert drei Sekunden. Und es ist die einzige. «Am 1. Mai-Umzug in Zürich stehe ich am Strassenrand und beobachte die Gewerkschafter, wie sie an mir vorbeiziehen. Plötzlich zeigt meine Mutter auf einen grossgewachsenen Arbeiter und sagt: <Dort hinten links, das ist dein Vater>. Ich sah ihn nur kurz vor mir», erzählt ein 68jähriger ehemaliger Dachdecker. Es sollte die erste und einzige «Begegnung» mit seinem Vater bleiben. Als er Jahre später eine Todesnachricht erhält, erfährt er, dass der Vater ein Leben lang nur 400 Meter von ihm entfernt gewohnt hat.

In der Ostschweiz unterwegs

Der Erzähler sitzt auf der Terrasse des PeLago, Pflegeheim der Region Rorschach, und schildert seine Vatergeschichte. Mark Riklin hört ihm aufmerksam zu und notiert sich hin und wieder ein Stichwort. Der Leiter der «Meldestelle für Glücksmomente» sammelt Geschichten über Väter und sucht dabei die spannendsten Szenen heraus. Im Auftrag der Organisation Familien Ost-Schweiz (Famos) hat er das Projekt Vätergeschichten entwickelt. Inzwischen ist seine Idee zum Motto für den sechsten Vätertag in der Schweiz geworden (siehe Kasten). Der Schwerpunkt der Aktion liegt aber in der Ostschweiz. Mark Riklin und Projektleiter Cornel Rimle waren in St. Gallen, Romanshorn und Herisau unterwegs und luden Männer und Frauen auf öffentlichen Plätzen dazu ein, ihre persönlichen Erinnerungen zu schildern.

Ausstieg ist nicht einfach

Zum Abschluss des Pilotprojekts besuchte Mark Riklin gestern das PeLago und führte sechs Gespräche. Laut Iris Knecht, Verantwortliche für Aus- und Weiterbildung, ist das Geschichtenerzählen ein wichtiges Bedürfnis bei den älteren Menschen. «Wir hatten so viele Anmeldungen, dass Mark Riklin einen ganzen Tag hätte bleiben können», sagt sie. Mark Riklin stellt fest: «Je älter die Menschen werden, desto näher rückt ihre Vergangenheit.» Einer der Bewohner im PeLago ist am Anfang eher wortkarg. Am Schluss des Gesprächs aber sprudeln die Erinnerungen aus ihm heraus. «Der Ausstieg aus einer Geschichte ist nicht immer einfach», sagt Mark Riklin schmunzelnd. «Wer sich in den Erzählstuhl wagt, steht meist nicht mehr freiwillig auf.»

Mark Riklin hat viele Geschichten gehört. Heitere, ernste und auch berührende. Wie etwa die Geschichte des 90jährigen ehemaligen Maschinenschlossers: Sein Vater hatte ihm – als dieser bereits über 100 Jahre alt war – von seiner Geburt erzählt. Damals sei die Kindersterblichkeit noch so hoch gewesen, dass seine ersten drei Kinder bei der Geburt alle gestorben seien. «Als ich als erstes Kind überlebte, ist mein Vater vom Geburtszimmer die Treppe hinunter in die Stube gegangen und hat geweint vor Freude», erzählt der 90-Jährige heute mit Tränen in den Augen.

Wandernde Geschichten

Iris Knecht vom PeLago zieht eine positive Bilanz. «Die Erzähler sind während des Gesprächs regelrecht aufgeblüht», sagt sie. Die Aktion Vätergeschichten habe im PeLago für Gesprächsstoff gesorgt. Einige Männer und Frauen hätten eigentlich nicht mitmachen wollen. Am Mittagstisch erzählten sie den anderen dann doch ihre persönlichen Vätergeschichten. «Dass die Geschichten weiterwandern, ist das beste, was unserem Projekt passieren kann», sagt Mark Riklin.

Zusammen mit Projektleiter Cornel Rimle hat er an acht verschiedenen Stationen insgesamt 76 Geschichten gehört und Szenen daraus niedergeschrieben. Die anonymisierten Erinnerungen werden nun in einem Geschichtenarchiv zugänglich gemacht. Mark Riklin hat verschiedene Ideen, wie sie weiterverwendet werden könnten. Er denkt dabei etwa an eine szenische Lesung in einer Geburtenabteilung. Oder ein Poetry-Slammer könnte im Geschichtenarchiv stöbern und die Szenen auf die Bühne bringen.