Wegen Digitalisierung
Depressive Schweizer Wirtschaft: 60 Prozent der Firmen sehen ihr Ende kommen

Die digitale Revolution bringt für die Wirtschaft grosse Umwälzungen. Eine Umfrage zeigt, dass mehr als jedes zweite Unternehmen befürchtet, in drei bis fünf Jahren vom Markt verschwunden zu sein.

Tommaso Manzin
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Digitalisierung ist ein Megatrend. Wie eine Naturgewalt scheint sie über alles hereinzubrechen, alles andere zu durchwirken, unaufhaltsam. Der reale Effekt der neusten Digitalisierungswelle, die unter der Bezeichnung «Industrie 4.0» an die früheren drei Industrierevolutionen anknüpft, wird noch diskutiert. Unbestritten ist, dass das Wort «disruptiv» bereits jenen durchschlagenden Erfolg hat, den die Revolution, für die es steht, noch vorweisen muss. Schliesslich könnte alles wieder nur ein Hype sein, wie die Tech-Hysterie, die als Dot-Com-Hype gegen Ende des alten Jahrtausends die Börsen vor sich hertrieb und zu Beginn des neuen schon wieder vorbei war.

Fragt man Manager, was denn genau sich so drastisch ändern werde, ist die Antwort oft auch wenig konkret. Um sich nicht fehlendes Gespür für Neues vorwerfen lassen zu müssen, warnen sie allgemein vor neuen Technologien, die die Branchen verändern werden – ohne natürlich zu vergessen, sie auch als Chancen zu bezeichnen. Dass sie verunsichert sind und nicht wissen, woher der Angriff aus der Zukunft kommen wird, zeigen aber unter anderem sogenannte Inkubatoren, die vor allem Grossunternehmen mit dem nötigen Kleingeld eingerichtet haben: Räume, wo Mitarbeiter (endlich) frei denken und jene Ideen ausbrüten sollen, die das Disruptive einbinden, zähmen und dienstbar machen sollen. Wenn es dann kommt.

Taxiunternehmen gingen in Konkurs

Ist also der jüngste Megatrend, die Digitalisierung, nur eine nebulöse Cloud aus Modebegriffen? Das scheint zunehmend unwahrscheinlich: Fast die Hälfte der Unternehmen befürchtet, in drei bis fünf Jahren vom Markt verschwunden zu sein. In der Schweiz sind es 60 Prozent. Dies geht aus der «Digital Business»-Studie von Dell Technologies hervor, in der global 4000 Entscheidungsträger aus Automobilindustrie, Finanzsektor, Gesundheitswesen, öffentlicher Hand und Einzelhandel befragt wurden.

Die Studie, die dieser Zeitung exklusiv vorliegt, protokolliert nicht nur Zukunftsängste, sondern bereits gemachte Erfahrungen: Über die Hälfte der Unternehmen haben in den letzten drei Jahren disruptive Auswirkungen der Digitalisierung in ihrer Branche festgestellt. In der Schweiz sind es 71 Prozent. In der Telekom-Branche etwa, sagt General Manager Dell Schweiz, Achim Freyer, sei das Geld aus dem SMS-Geschäft «verdampft, versiegt, einfach weg». Auch der Kleiderverkauf merkt plötzlich, dass es nicht mehr ein Vorteil ist, den Laden in einer belebten Strasse zu haben. Alles, was zählt, sind Preis und Leistung. Stimmt eines von beiden nicht, findet sich sicher etwas im Internet. An der vibrierenden Einkaufsmeile bleibt die teure Miete.

Es gibt Beispiele, wo nicht nur ein Teil des Geschäfts wegbrach, sondern wegen der Digitalisierung eine ganze Firma schliessen musste. Das grösste Taxiunternehmen in San Francisco, Yellow Cab, musste Anfang Jahr wegen des Fahrdienstes Uber Konkurs anmelden. Im Medienbereich haben Youtube und Netflix das Fernsehen verdrängt, in der Musikbranche war die Erfindung des MP3-Formats Wegbereiter für Anbieter wie Amazon oder Spotify.

Die neuen technologischen Möglichkeiten bringen eine weitere Bedrohung mit sich: ihre Nutzer. Die Millennials – die um die Jahrtausendwende Geborenen – sind damit aufgewachsen und wollen alles, schnell und vor allem unkompliziert, sagt Freyer: «Selbst die traditionelle Schweizer Uhrenindustrie kämpft mit den Auswirkungen der Digitalisierung. Junge Menschen legen weniger Wert auf Luxus; sie wollen über ihr Smartphone Funktionen wie Uhr, Telefon, E-Mail oder Internetzugang bündeln.»

Rechenleistung für alle

Wie das Beispiel MP3 zeigt, gibt es die Technologien hinter den neuen Angeboten teilweise schon seit langem. Handelt es sich bei «Industrie 4.0» also eher um eine stetige Evolution bekannter Technik als um eine abrupte Revolution? Mechanisierung und Automatisierung sind schliesslich auch kein neues Phänomen des Fortschritts: Das Druckverfahren von Gutenberg machte die Abschreib-Übungen der Mönche überflüssig, die Druckerpresse führte die Mechanisierung weiter und angesichts der digitalen Medien ist heute der Druck selbst infrage gestellt.

Charlie Chaplins Film «Modern Times» ist ein Zeitdokument über die Angst, von den Fliessbändern im Fertigungsprozess nicht nur versklavt, sondern ersetzt zu werden. Allerdings brachten neue Technologien immer auch neue Jobs mit sich, sonst wäre die Arbeitslosigkeit seit der Industrialisierung stetig gestiegen. Das ist nicht der Fall. Mit anderen Worten: Veränderung brachte schon immer Gewinner und Verlierer. Allein deshalb muss man keine Zeitenwende ausrufen.

Stehen wir nicht einfach vor einer Weiterentwicklung von Technologien der 1990er-Jahre? Freyer widerspricht: «Im Dot-Com-Hype galt «From Bricks to Clicks» – das Ablösen physischer Marktplätze durch das Internet. Die grundlegenden Geschäftsmodelle blieben jedoch unverändert. ‹Industrie 4.0› macht Rechenleistung plötzlich für jedermann erschwinglich und kurzfristig verfügbar.» Diese Demokratisierung schaffe völlig neue Produkte und Dienstleistungen. Anders gesagt: Technologisch mag hinter Uber wenig neu sein. Dennoch ist der Fahrdienst mehr als die Summe von Onlinebestellung, Navigator und Auto. Er ist deren intelligente Interaktion.

«Dinge im Internet bestellen, ist nicht das Internet der Dinge», erklärt der Experten von Dell. «Die aktuelle digitale Transformation kann mit Fug und Recht als vierte industrielle Revolution gelten, da sie Mensch, Maschine und moderne Informationstechnologien zu einer weitgehend selbst organisierten Produktion vernetzt.» Das wichtigste Abgrenzungsmerkmal zur vorhergehenden dritten industriellen Revolution (computerintegrierte Produktion) sei die schnelle und systematische Verschmelzung von Technologien, die die Arbeitswelt immer stärker digital durchdringen. Gerade am Arbeitsmarkt scheint die Auswirkung tatsächlich eher noch revolutionärer zu sein als jene der breiten Computerisierung seit den 1980er-Jahren. Expertenmeinungen zufolge werden durch «Industrie 4.0» mehr Jobs wegfallen als neu geschaffen.