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Kathedrale in Paris Dann fliegen sie durch den Dachstuhl von Notre-Dame

Fünf Jahre nach dem Brand wird die Kirche bald wieder so stehen, als wäre nichts gewesen. Forschende hatten sie zur 3-D-Animation zusammengebaut. Innovativ und ziemlich revolutionär.

Plötzlich stand da ein digitaler Zwilling der Kirche, in dem man sich bewegen konnte – «grandeur nature», Originalgrösse.

Eine sehr grosse Nachricht, verpackt in eine ganz kurze. Als die Kathedrale von Notre-Dame zu brennen begann, an jenem frühlingshaft milden Vorabend des 15. April 2019, und die halbe Welt live am Fernsehen und in den sozialen Medien zuschaute, wie das Feuer sie wegfrass, Balken um Balken, sass Livio De Luca im Schnellzug von Paris nach Marseille. Wie so oft, mit Funklöchern.

«Meine Frau schrieb mir eine Kurznachricht aufs Handy», sagt De Luca, hält dann inne und schüttelt den Kopf, als spürte er die Gefühle nach, die ihn damals durchströmten. «Ja, verrückt.»

Er fuhr gerade zurück nach Hause von einer Sitzung. De Luca pendelt oft zwischen den zwei Städten. In Marseille arbeitet er als Forschungsdirektor in einem Labor des CNRS, kurz für Centre national de la recherche scientifique, in dem seine beiden Spezialitäten vereint und wundersam vermischt werden: Architektur und Digitalisierung. In Paris brauchen sie seine Expertise vor allem im Kulturministerium. Der Süditaliener aus Kalabrien ist so etwas wie der Kartograf und Digitalisierer des kulturellen Erbes Frankreichs, ein Pendler zwischen den Zeitaltern auch.

Und dann brannte also plötzlich die grosse Kirche, dieses Symbol für Paris weit über das Religiöse hinaus, dieses eminente Stück im Kulturerbe des Landes, das Jahrhunderte überlebt hatte. Ausgerechnet, als er im TGV in den Süden sass.

Schon in diesen ersten Sekunden der Erkenntnis wusste er, dass jetzt sehr schnell alles anders werden würde in seinem Leben und die Reisen nach Paris noch häufiger. «Ich wollte sofort alles wissen, was die Kollegen wissen», sagt er und lacht, er telefonierte herum, chattete, verabredete sich mit allen für den nächsten Tag.

Ein Drama natürlich, was da passierte. Aber beruflich war das Drama eben auch aufregend. De Luca, 49 Jahre alt, nennt es eine «beispiellose Gelegenheit», die sich da eröffnete für seine Arbeit. Eine Chance. «Wäre es ein Jahr vorher passiert, wären wir wissenschaftlich noch nicht bereit gewesen.» Aber jetzt schon.

Seine Plattform nannte er Aïoli, wie die Mayonnaise mit Knoblauch: Livio De Luca, Kalabrier in Marseille, Pendler zwischen den Zeitaltern.

Wenn es nun also tatsächlich gelingt, dass Notre-Dame am 8. Dezember nach fünf Jahren und einigen Monaten ganz aufersteht und wieder öffnet für ein dann wohl noch grösseres Millionenpublikum, wie es Staatspräsident Emmanuel Macron am Tag nach dem Brand verordnet hatte, dann liegt das auch an Livio De Luca, an seiner unermüdlichen Datensuche und an seiner digitalen Plattform.

Er nannte sie Aïoli. Wie die Mayonnaise mit Knoblauch, die man im Süden zum Fisch reicht? «Ja, genau wie die», sagt De Luca. Er spricht perfekt Französisch, ein feiner italienischer Akzent schwingt mit.

Mal im Jetzt, mal in der Vergangenheit

Aïoli schichtete und speicherte Millionen Daten aller Art, reihte sie aneinander und übereinander, von Aufnahmen eines Laserscans vor dem Brand und von solchen danach, von zigtausend Fotos der noch unversehrten Kirche und von solchen verkohlter Holzbalken, die am Boden herumlagen. In der Summe zeichnen die Daten auf De Lucas Plattform ein so präzises Bild von vorher und nachher, dass daraus ein digitaler, fast eineiiger Zwilling von Notre-Dame entwickelt werden konnte. In 3-D. Ein grandioses Arbeitsinstrument für Forscher und Bauleiter.

Sie können sich darin bewegen, Fenster heranzoomen, Holzbalken verschieben, an ihnen drehen, von jedem Detail sind wissenschaftliche Informationen hinterlegt für den schnellen Abruf, für die Beratung am beinahe lebendigen Objekt. Als wären sie vor Ort, mal im Jetzt, mal in der Vergangenheit. So liess sich der Prozess des Wiederaufbaus beschleunigen.

Weil, nun ja, es sollte ja alles sehr schnell wieder genau so werden, wie es früher war, vor dem grossen Brand.

Und deshalb zunächst noch einmal zurück zu diesem milden Frühlingstag 2019. Es waren bewegte Zeiten in der französischen Politik. Eine Bürgerbewegung, die sich Gilets jaunes nannte, Gelbwesten also, und die auch gelbe Westen trug bei ihren Protesten, beherrschte die Köpfe mit ihrer Rebellion gegen höhere Treibstoffpreise und viele andere Missstände, die sie ausgemacht hatte in der Republik. Am Abend sollte Macron am Fernsehen Massnahmen verkünden, die den Aufstand möglichst beenden würden. Der Auftritt war lange schon angekündigt. Es kam anders.

Im Büro mit den Alarmlämpchen von Notre-Dame sitzt ein pensionierter Gendarm, es ist erst sein dritter Einsatztag. Er muss gleich zwei Schichten arbeiten: Der erfahrenere Kollege ist krank. Wichtig ist, dass er den Raum mit den Lämpchen, die einen Brand anzeigen würden, nie verlässt, das haben sie ihm eingebläut, man kann nie wissen. Er geht dann doch kurz weg, um etwas zu essen.

Dann blinkt ein Lämpchen

Als er zurückkommt, um 18.18 Uhr, blinkt ein Lämpchen. Das muss aber noch nichts heissen, es gibt immer wieder Falschalarme. Über die ganze, alte Kathedrale sind 160 Brandmelder installiert. Der Aufpasser entwarnt, alles gut, falscher Alarm. Doch das Lämpchen blinkt weiter. Er versteht den Code nicht, der dazu erscheint. Er ruft den Vorgesetzten an, kommt aber nicht durch. Und so wird die Kirche sicherheitshalber evakuiert, mitten in der Messe, ganz ruhig.

Draussen erkennen Passanten jetzt Rauch, der aus dem Holzdach über dem Kirchenschiff dringt, aus dem «Wald», wie man den Dachstuhl nennt: 1300 Eichenbalken, die meisten noch aus dem Mittelalter, kunstvoll ineinander verkeilt. 18.43 Uhr, nun stechen Flammen aus dem Dach, meterhoch. Um 18.51 Uhr geht die Sirene in der Kaserne der nächstgelegenen Feuerwehr los, und um 18.57 Uhr sind die ersten Feuerwehrleute vor Ort. Ist das schnell genug? Auch darüber wird dann mal diskutiert werden.

Macron sagt seinen Auftritt im Fernsehen ab.

Am Ufer der Seine stehen Menschen und beten: Am frühen Abend des 15. April 2019 brennt Notre-Dame, der Vierungsturm bricht ein und schlägt durchs Dach.

Alle schauen auf die «Flèche», den berühmten Vierungsturm, 96 Meter hoch. Er ist das Werk von Eugène Viollet-le-Duc aus dem 19. Jahrhundert. Hält der?

Die zwölf Apostel und vier Evangelisten aus Kupfer, die normalerweise an den Seiten des Turms stehen, sind vor drei Wochen abmontiert worden, sie werden restauriert, und nicht nur sie. Es laufen gerade grosse Arbeiten, ist mal wieder nötig. Dann bricht der Turm ein, schlägt durchs Dach. An der Uferstrasse der Seine, wo Schaulustige und Besorgte stehen, stimmen manche religiöse Gebetschöre an. Macron ist jetzt vor Ort, seine Präsenz gibt dem Drama das nötige institutionelle Gewicht.

Was verursachte den Brand? Man weiss es nicht

Fast fünfzehn Stunden dauert der Brand, die ganze Nacht hindurch. Niemand kommt um, niemand wird schwer verletzt. Die beiden mächtigen Steintürme und die Fassade dazwischen bleiben stehen, man hat auch um sie gebangt, wären die Stützbalken der Glocken abgebrannt, wären wohl auch sie eingestürzt. Sogar die Dornenkrone Christi kann gerettet werden.

Am Tag nach dem Brand. Das Dach war in den Innenraum gestürzt.

Doch Notre-Dame stand nun nur noch in halber Pracht und schwarz im Herzen der Stadt, ohne Bauch, ohne «Wald», ohne ihre Flèche.

Bis heute rätselt man, was diesen Brand ausgelöst haben könnte. Vielleicht der Zigarettenstummel eines Bauarbeiters? Oder war etwas mit Stromkabeln? Man weiss es nicht.

Am Tag nach dem Brand versprach Macron also, dass die Kirche in fünf Jahren wieder stehen würde, mit einem nationalen Willensakt, als wärs eine Mission. Frankreich ist unschlagbar effizient in solchen Momenten: Der Präsident entscheidet über alle Köpfe hinweg, ernennt einen General als Baustellenleiter, die operationellen Gewerke führen aus: sehr kurze Entscheidungswege.

Über alle Köpfe hinweg: Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron verordnete den Wiederaufbau binnen fünf Jahren und setzte einen General als Bauleiter ein. Hier mit seiner Frau Brigitte bei einer Besichtigung im April 2023.

Es sollte nur eine Diskussion darüber geben, ob es denn richtig sei, dass die Kirche identisch wiederauferstehe, oder ob das nicht ein guter Moment wäre, sie neu zu interpretieren, moderner, den Sicherheitsstandards angepasst, den Umweltsorgen auch. Schliesslich seien Kirchen, so sagten es die Verfechter einer Neudeutung, nicht unverrückbar. Notre-Dame vor dem Brand? War in weiten Teilen das Werk von Viollet-le-Duc, nicht lange her.

Eine spontane, kollektive Bewegung

Es obsiegten die Bewahrer, was in diesem Fall hiess: Die Kirche sollte genau so wiederaufgebaut werden, wie sie war. Darum war Livio De Lucas Arbeit so wichtig. Und Aïoli.

Nun konnte die Wissenschaft endlich zeigen, wie wertvoll die Digitalisierung von Monumenten ist. Es hatte nämlich Zweifler der Methode gegeben, ewige Nörgler, die behaupteten, dass das viel Aufwand für nichts sei. Schon am Tag nach dem Brand war dann aber die gesamte Wissenschaftswelt des Landes mobilisiert. «Völlig spontan», sagt De Luca, «das war schon sehr interessant: Alle wollten mithelfen und sich koordinieren.» Auch frühere Rivalen.

Sie formten einen Verein, noch bevor die Politik eingriff und Leitungsfunktionen der «wissenschaftlichen Baustelle» verteilte – so nennt man die Forschungsgruppen mit ihren acht interdisziplinären Untergruppen. Dazu gehörten die Spezialisten für alle wesentlichen Materialien: Metall, Holz, Glas, Stein. Dann die Forscher, die sich mit der Struktur der Kirche als Ganzem befassten, und jene, die sich mit der Akustik beschäftigten, dann die Anthropologen und Soziologen, die sich für die immateriellen Dinge interessierten. Und De Lucas Gruppe für die Digitalisierung, die alles zusammenfasste.

«Aber eben, der Impetus dafür war schon vorher da», sagt er. «Notre-Dame war ein Symbol, der Brand war gewissermassen ein Ruf zu den Waffen.» So viele Emotionen waren drin. «Die Wissenschaftler, und das war neu, arbeiteten Hand in Hand mit den Arbeitern auf der Baustelle der Restaurierung.» Für alle war das neu.

Es gab einen Scan von 2012, aber der hatte Lücken. Vor allem der «Wald» fehlte, und das war zentral.

Zunächst stellte sich für De Luca die Frage, was es bereits gab an digitalen Daten der Kathedrale. Und es gab da etwas sehr Wertvolles, wenn auch Unvollständiges: einen Laserscan der Kirche, den der Kulturhistoriker Andrew Tallon 2012 gemacht hatte. Tallon, der in New York gelehrt hatte, war ein halbes Jahr vor dem Brand an Krebs gestorben, im Alter von 49 Jahren erst. Die Witwe gab die Dateien frei.

Das war ein erstes Gerüst, ein Skelett mit Lücken. Tallon hatte mit radarähnlicher Lasertechnik nur jene Teile der Kirche eingescannt, die begehbar und sichtbar waren. Der «Wald» etwa fehlte, und das war ja nun der zentrale Teil. De Lucas Team sammelte Zehntausende Fotos für ein Fotogramm des Dachstuhls. Mit der Hilfe von künstlicher Intelligenz legte Aïoli die Fotos neben- und übereinander, sortierte sie im dreidimensionalen Raum, bis eine dichte Punktewolke das gesamte virtuelle Koordinatensystem der Kirche füllte.

Tallon plus De Luca, die Momentaufnahme des Scans plus eine Myriade von aneinandergereihten Fotos und Daten – das waren dann plötzlich 1,4 Milliarden Punkte in der Wolke. Jede Ecke der Kirche war ausgeleuchtet, auch die unsichtbaren, die der Brand freigelegt hatte, jede Gewölbepartie der Decke, alle Geometrien.

Von 2-D zu 3-D: De Luca verstand sofort, wie wertvoll es sein würde, dass sich Forscher im virtuellen Raum besprechen konnten, mit VR-Brille und Computer im Rucksack.

De Luca klickt jetzt mit schnellen Mausbewegungen durch seine Plattform, öffnet Dateien, aus denen Bilder quellen, Dutzende in rascher Folge, dann stoppt er beim Foto eines Holzbalkens, den sie in den Tagen nach dem Brand am Boden gefunden hatten, dreht an ihm, zoomt ihn heran.

Daneben lassen sich Informationsfelder öffnen, in denen die Holzforscher Details zur Geschichte des Holzstücks notiert haben.

Dasselbe machten die Forscher der Metalle, die sich unter anderem mit den alten Klammern und Nägeln beschäftigten, die bei Restaurationsarbeiten gefunden wurden, manche noch aus dem Mittelalter. Wo kamen sie her? Wie hielten sie nur alles zusammen? Und: Waren sie nach dem Brand noch brauchbar? Die Spezialisten für Glas und Stein fügten die Erkenntnisse auf ihren Gebieten hinzu.

So arbeiteten mehrere Hundert Wissenschaftler zusammen, alle hatten Zugang zu Aïoli. Von überall, immer, sie brauchten nur einen Internetanschluss.

Eine Zeit- und Raummaschine – sozusagen

Am Ende stand da eine Kopie von Notre-Dame, ein digitaler Zwilling voller Details und Daten aus verschiedenen Epochen, wie man sie noch nie gehabt hatte. Die Mayonnaise war gelungen.

Der französische Softwarekonzern Dassault Systèmes, der sich auf 3-D-Animationen spezialisiert hat, bot sich an, mit den Daten von Aïoli einen «téléport» zu schaffen, eine Art Zeit- und Raummaschine, die den Forschern und Bauleitern gleichermassen helfen sollte bei der identischen Rekonstruktion, und das war ja die hohe Vorgabe. Von 2-D auf 3-D. Untergebracht ist das Labor in der Cité de l’architecture et du patrimoine, einem Museum an der Place du Trocadéro, wo Frankreich eine Reihe seiner berühmtesten Monumente als Gipsrepliken ausstellt, in Originalgrösse.

Da waren sie noch grün: Die Statuen, ganz real, sollten von ihrer oxidierten Patina befreit werden. Nun stehen sie im Museum, bevor sie dann bald wieder neben die «Flèche» montiert werden.

Es ist zehn Uhr, ein Morgen im März, auf der berühmten Esplanade du Trocadéro vor dem Museum stehen schon Touristen und fotografieren sich mit dem Eiffelturm im Rücken, indische vor allem, viel zu leicht gekleidet für die Saison.

Mehdi Tayoubi, Vizepräsident für Strategie und Innovation bei Dassault Systèmes, führt durchs jetzt noch leere und stille Museum, es öffnet erst um elf. In einem Flügel stehen die zwölf Apostel und vier Evangelisten aus Kupfer, die vor dem Brand abmontiert worden waren. In der Zwischenzeit hat man sie ihrer oxidierten, grünen Patina entledigt. Die Statuen glänzen wie neu, bald werden sie wieder neben dem Vierungsturm stehen, auf dem Dach der Kirche.

Der Guide weist auf einen hellblauen Lichtkegel

Gleich dahinter, am Ende des Flügels, liegt die Salle Viollet-le-Duc, der Name ist eine Hommage an den Architekten, der auch dieses Museum angeregt hatte. Ein schlichter Raum, 120 Quadratmeter, mit Teppich ausgelegt, der seine Wirkung erst ausspielt, wenn man sich eine VR-Brille aufsetzt und einen Rucksack anzieht, in dem ein Computer verstaut ist, und in die virtuelle Welt von Notre-Dame eintaucht, auch die «grandeur nature», wie die Franzosen sagen, Originalgrösse, wie die Gipsmodelle im Museum.

Für den Laien ist das schnell einmal Science-Fiction, ein bisschen und unverhofft: Star Trek.

In der virtuellen Realität sieht man die anderen nur als grüne Rasterbüsten mit Vornamen, die Zeigefinger funktionieren als roter Laserstrahl. Damit kann man auf Orte zeigen, im Gewölbe etwa, Kopf im Nacken, und geometrische Linien nachzeichnen.

Tayoubi gibt den Guide. Zunächst führt er durch den Scan von Andrew Tallon, in dem man den Historiker selbst auch ein paar Mal verewigt sieht, eine kleine Extravaganz.

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Man schreitet durch Stuhlreihen im Kirchenschiff, vorbei an den Seitenkapellen, geht durch Mauern, schaut von aussen ins Innere der Kirche. Dann weist Tayoubi auf einen hellblauen Lichtkegel, und stellt man sich da rein, wird man hochgebeamt, «téléporté» also: etwa rauf aufs Dach der Kathedrale. Würde man den Teppichboden unter den Füssen nicht spüren, könnte man leicht Höhenangst bekommen. Und von da oben sieht man nun die Verwüstung des Brands, die offene Wunde der Kirche. Tayoubi nimmt einen mit in einer Art Raumschiff, das er lenken kann, durch das Loch im Gewölbe, von links nach rechts, wie in einem Aufzug runter ins Schiff der Kirche.

«De Luca hatte natürlich sofort an die Kraft der künstlichen Realität geglaubt», sagt Tayoubi. So entstand die Zusammenarbeit, sie war innovativ, ein bisschen revolutionär auch. Historiker hatten schon früher mit VR gearbeitet, um alte Zeiten zurückzuholen, etwa das antike Rom, die Pyramiden von Gizeh, um sie ein bisschen erfahr- und begehbar zu machen.

Für die Didaktik ist das natürlich eine tolle Sache. Im Fall von Notre-Dame aber hatte die Spielerei eine unmittelbar praktische Anwendung. Die Forscher konnten ihre Sitzungen in diesem Raum durchführen und sich austauschen, alle mit VR-Brillen und Rucksäcken und roten Laserfingern.

«Wow» und «Oh-la-la»

Es gab auch Sitzungen mit Leuten von der realen Baustelle, die sich in der Dreidimensionalität eine viel bessere Vorstellung machen konnten von den logistischen Herausforderungen, gerade als es um Arbeiten am Dachstuhl ging, in der Vertikalen. In der realen Kirche sahen sie nur den offenen Himmel durch das Gerüst. Der Moderator in der virtuellen Realität schob dann schnell die Decke rein, so, wie sie früher war, mit dem Okulus und den Keilsteinen, die die Balken zusammenhielten, und beamte die Bauleiter hoch, unters Dach.

Es gibt Videos, die sie alle in der Salle Viollet-le-Duc zeigen, Mehdi Tayoubi und Livio De Luca und alle anderen, und immer wieder entfährt ihnen ein «Wow» und ein «Oh-la-la» der Verwunderung und Verzauberung.

In Italien nennen sie ihn «Hirn des Wiederaufbaus»

In Italien, der Heimat, feiern sie De Luca deshalb als «Hirn des Wiederaufbaus», so nannte ihn die römische Zeitung «La Repubblica». In Kalabrien sind sie so stolz auf ihren weggezogenen Sohn, dass man meinen könnte, ohne Livio De Luca wäre Notre-Dame verloren gewesen. Er lacht laut, dieser patriotische Reflex geht ihm ab, er nennt es «campanilismo», von «campanile», Kirchturm, dem jeweils eigenen regionalen oder gar kommunalen, um den sich alles dreht in Italien. «Ich denke eher europäisch.»

De Luca zog weg, kaum hatte er sein Architekturstudium in Reggio Calabria zu Ende gebracht. Fürs Digitale interessierte er sich schon früh. «Mit der Architektur hatte das zunächst nichts zu tun, sondern mit der Musik: Ich machte elektronische Musik.»

Nach dem Studium wollte er sich spezialisieren, weil die Architektur immer digitaler wurde. Es habe zwei ideale Orte dafür gegeben, ein Labor in Boston und eines in Marseille, beide hätten Pionierarbeit geleistet auf dem Gebiet. Das zweite, das MAP, kurz für Modèles et simulations pour l’Architecture et le Patrimoine, sollte seines werden. Er leitete es während vieler Jahre – und war dann bereit, an jenem 15. April 2019, nach der Kurznachricht aufs Handy.

«Irgendwann», sagt De Luca, «haben wir fast nichts anderes mehr gemacht – alle meine anderen wissenschaftlichen Projekte lagen jahrelang brach.» Er sei nicht sicher, ob es möglich sei, dass sich jemals wieder ein solcher kollektiver Elan entfalten könne, spontan und emotional, wie um diese alte Kirche auf der Île de la Cité. «Auch Koryphäen auf ihren Gebieten, die sonst nie Zeit haben, für nichts, liessen sich gewinnen für diese Mission.» In den meisten Fällen habe eine kleine Mail gereicht, und sie seien dabei gewesen. Alle. Für die grosse Sache, für das Wunder der schnellen Wiederauferstehung. 

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