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Professor Herbert Marcuse spricht auf dem Angela-Davis-Kongress in Frankfurt am Main im Juni 1962

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1968 im Tagesspiegel: Überfällige Reformen

Karl Silex schrieb vor 50 Jahren diesen Leitartikel

Wie hat der Tagesspiegel das Jahr 1968 begleitet? Wir publizieren regelmäßig einen ausgewählten Text aus der Zeitung von vor 50 Jahren – zur Studentenbewegung, sowie zu anderen Themen, die die Stadt und die Welt bewegt haben. Am 21. April 1968 bezieht sich der Leitartikel von Sx. im Tagesspiegel auf den Philosophen Herbert Marcuse.

Herbert Marcuse, auf dessen Schriften die "Kerntruppe" der außerparlamentarischen Opposition ihre Thesen zur Veränderung der menschlichen Gesellschaft stützt, sah sich im vorigen Sommer bei seinem ersten Auftreten vor Berliner Studenten zu seiner Überraschung mitten in den Generationskonflikt gestellt. In der Diskussion, die seinem Vortrag folgte, nannte ein junger Hörer den neunundsechzig jährigen Professor der Philosophie an der Universität von Kalifornien einen kulturellen Pessimisten, der keine Ahnung davon habe, wie man Revolution mache. Was Marcuse an Gewaltanwendung unter Umständen grade noch zulassen wollte, ging kaum über den Bereich der Notwehr hinaus. Hier war Dutschke ein gelehrigerer Schüler als andere Rebellen, die heute noch im "Zentralausschuß" (ZK?) der außerparlamentarischen Opposition trotz der Münchner Todesopfer Gewaltanwendung gegen Sachen von Gewalt gegen Personen trennen wollen. Dutschke fühlte sich mit Marcuse als ein Aufklärer, der seine Hoffnungen auf ein "Bewußtwerden" des Menschen in der ihn angeblich manipulierenden modernen Industriegesellschaft setzte. Er fühlte sich mit Marcuse über die Verwendung brutaler Gewalt als Argument erhaben, ohne die Eskalation der von ihm erregten Gefühle und Gegengefühle kontrollieren zu können. So steigerte sich die Eskalation.

Daß die Untat von Memphis mit der Ermordung von Martin, Luther King in Berlin am Kurfürstendamm den Attentäter gegen Dutschke tätig werden ließ, zeigt das Maß des Unkontrollierbaren in der Geschichte. Die Reihe setzt sich fort. Keiner von denen, die in der Reaktion auf das Attentat gegen Dutschke zu Gewalttätigkeiten "gegen Sachen" aufriefen, hat die Eskalation bis zu den Todesopfern in München vorausgesehen, obwohl man bei dieser Aussage stutzig werden kann, wenn man hört, wie ein solches Risiko jetzt noch hinterher von den Verteidigern der Gewaltanwendung als "Verkehrsunfall" bejaht wird. Wird nicht auch schuldig, wer da glaubt, sich zum Herrn über das Unkontrollierbare aufschwingen zu dürfen?

In dem letzten Buch von Herbert Marcuse "Der eindimensionale Mensch" (deutsch bei Luchterhand) findet sich der für eine sogenannte wertfreie Soziologie bezeichnende Satz: "Die geschichtliche Leistung von Wissenschaft und Technik hat die Übersetzung der Werte in technische Aufgaben ermöglicht - die Materialisierung der Werte. Worum es folglich geht, ist die Neubestimmung der Werte in technischen Begriffen, als Elemente des technologischen Prozesses." Er nennt das die Übersetzung der Werte in Bedürfnisse, und er wirft der modernen Gesellschaft vor, die Massen mit der Befriedigung ihrer Bedürfnisse zu manipulieren. Da die meisten sich dabei ganz wohl fühlen, setzt er seine Hoffnungen auf die sexuelle, moralische, intellektuelle und politische Rebellion von Studenten gegen das System. Denn sie seien die einzige Gruppe, die der Manipulation widerstehen könne.

Laßt euch nicht manipulieren!

Die stärkste Wirkung auf die Jugendlichen in Amerika und Deutschland, in England und beginnend auch schon in Frankreich scheint mir tatsächlich von dem Aufruf auszugehen: Laßt euch nicht manipulieren! Hier wurzelt das Mißtrauen der Jugend. Schon die Abc-Schützen wollen sich von ihrer Lehrerin manipuliert fühlen, überall wittert man, wird man etwas älter, Gefahr für die Integrität des eigenen Bewußtseins, wobei unsere Maoisten aus ihrem Bewußtsein verdrängen, daß der Höhepunkt der Manipulation in der chinesischen Gehirnwäsche erreicht wird. Eine wahre Angst vor dem Manipuliertwerden greift auch da um sich, wo sie weniger berechtigt ist als bei dem herausfordernden Thema der Springerschen Machtkonzentration in der Presse. Man fühlt sich vom Establishment manipuliert, von Regierung und Parlament, von der sozialen Versicherung gegen .Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter. Man hört von Marcuse, daß die Gesellschaft die Werte durch die Befriedigung der Bedürfnisse ersetzt hat, aber - und das ist ein Hoffnungsschimmer - diese Jugend ist nicht bereit, diese Wertordnung für sich zu akzeptieren. Sie sucht, was Nossak" einmal "das Unversicherbare" genannt hat. Und von dieser Suche will sie sich durch keine Manipulation ablenken lassen.

Man wird sich also intensiver als bisher mit dem Phänomen der Manipulationsfurcht beschäftigen müssen, von dem viele Jugendliche wie von einer Zwangsvorstellung oder einem Angstkomplex besessen erscheinen. Zur Zeit stehen andere Überlegungen im Vordergrund des öffentlichen Interesses. Da geht es um die (unmögliche) Trennung zwischen Gewalt gegen Personen und Sachen sowie um die (durchführbare) Trennung zwischen der kleinen "Kerntruppe" der Rebellion und der Masse der "Solidarisierer", die auch als Mitläufer oder Verführte eingestuft werden. Das Operieren mit der "kleinen Zahl" genügt auf die Dauer nicht. Wenn Bonn sich damit tröstet, daß in den Ostertagen alles in allem in den deutschen Städten "nur" zwanzigtausend Jugendliche in Solidarität mit zweihundert Aktivisten demonstriert hätten, so bringt docii keine unserer Parteien so viele Menschen auf die Beine, nur die Gewerkschaften oder die Sudetendeutschen können da konkurrieren.

Allenthalben gilt es nun als ausgemacht, daß die Demokratie nur durch Handeln die Solidarisierer von den Aktivisten trennen kann. Unsere Demokratie muß sich zu überfälligen Reformen aufraffen, auch auf die Gefahr hin, daß ein Teil der Jugendlichen behaupten wird,, man wolle sie gerade durch Reformen wiederum nur manipulieren. Da steht am Anfang die Hochschulreform, und die Studentenschaft kann es sich als Verdienst anrechnen, die Dinge endlich in Gang gebracht zu haben. Es gibt schon hundert Pläne zuviel. Aber was hindert eigentlich die Länder, unter dem Dach der Großen Koalition in Bonn die ausgezeichneten Empfehlungen der Konferenz der Kultusminister umgehend in Gesetzesform zu gießen? Was hindert die Professoren, die der Jugend und uns allen manches schuldig geblieben sind, unabhängig von den staatlichen Organisationsgesetzen Studienpläne und Prüfungsordnungen einzuführen, die jedem Studenten, der arbeitet, den Abschluß des Studiums in vier bis fünf Jahren ermöglichen? Es wird sich herausstellen, wer sich dann noch an unseren Universitäten manipuliert oder getäuscht fühlt.

Die Unzufriedenheit mit dem Establishment sollte zu Überlegungen darüber führen, was an unseren Einrichtungen reformbedürftig ist.

Der CDU-Abgeordnete Dichgans. fordert kühn ein neues Grundgesetz zum Ersatz des alten von 1949, das damals nur als Provisorium gedacht war. Nun hat sich keineswegs alles als unbrauchbar herausgestellt, unsere zweite Demokratie hat auf vielen Gebieten beachtliche Leistungen aufzuweisen, aber erkannte Mängel ließen sich beseitigen, vor allem braucht der Bund mehr Einfluß auf den Ausbau des Bildungswesens, überfällig ist seit Jahren auch die von Gerstenmaier immer wieder versprochene Parlamentsreform. Hätten wir den "Großen Ausschuß", so brauchten sich die Abgeordneten nicht dafür tadeln zu lassen, daß sie ihre Osterferien einer Sondersitzung des Parlaments über die Unruhen vorzogen. Das Parlament wäre jederzeit aktionsbereit.

Vorsichtiger wird eine Justizreform zu behandeln sein. Möge es der Justiz auch verwehrt sein, präventiv zu handeln - schneller könnte sie handeln, auch unter den gegenwärtigen Gesetzen. Auch muß wohl daran erinnert werden, daß nicht nur die Aufforderung zum Ungehorsam gegen die Gesetze, sondern auch die Anstiftung zu einer Straftat den Tatbestand eines zu verfolgenden und zu bestrafenden kriminellen Deliktes erfüllt. Es ließen sich noch allerlei andere Reformen denken, aber auf den genannten Gebieten könnte unsere parlamentarische Demokratie sofort aktiv werden, und es gibt keine Ausrede, für weitere Verzögerungen, die auf Glaubwürdigkeit rechnen kann.

Die Glaubwürdigkeit der Demokratie hängt nicht nur davon ab, daß sie ihre Autorität und ihren Bestand zu schützen weiß. Das gehört zu ihren selbstverständlichen Attributen, wie sie Klaus Schütz unangreifbar und mit erfreulicher Entschlossenheit formulierte. Aber in der Beschränkung auf diese notwendige Pflicht würde man es sich - um mit Schulsenator Evers zu sprechen — zu einfach machen, wenn man nur die Symptome bekämpft und nicht die Ursachen erforscht. Er sprach von der großen Sorge der Jugend, sie könne manipuliert werden, von ihrer Fähigkeit, Verlegenheitszonen und Verlogenheitszonen aufzudecken. In diesem Sinne gilt es denn auch, die Bedenken der Jugend ernst zu nehmen, ohne sich ins Bockshorn jagen zu lassen. Unsere Studenten freilich, die vom „Bewußtwerden" des Menschen die Veränderung der Gesellschaft erwarten und deshalb jeder Manipulation den Kampf ansagend werden sich merkwürdigerweise kaum bewußt, in welchem Maße sie selbst sich von einer kleinen Kerntruppe der Aktivisten in die Solidarität hineinmanipulieren lassen. Wenn sie jetzt darüber nachzu- denken beginnen, können sie hoffen, gegen die gefährlichste Manipulation - die aus den eigenen Reihen - immun zu werden. Dann werden Gespräche wieder sinnvoll.

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Karl Silex

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