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Deutsches Grundgesetz

© dpa

"Deutsche Werte": Diese Wirrnis ist antastbar

Immer wieder hört man in der letzten Zeit von der Angst des "Werteverlusts". Unsere Autorin stört sich an der Dauerbeschwörung „unserer Werte“.

Von Caroline Fetscher

Allenthalben geistern sie herum: „Unsere Werte“. Es gelte sie zu verteidigen, ist zu hören, man müsse sie hochhalten, schützen, durchsetzen und so fort, gern noch national konnotiert als „unsere deutschen Werte“. Das Auffälligste an „unseren Werten“ ist zunächst deren völlig ominöse Gestalt. Und sogar „Gestalt“ ist schon zu viel gesagt. Eher wabern ja diese Werte, volatilen Börsenkurven gleich, durchs Land. Umfragen würden da ein Delirium an Vorstellungen, Assoziationen, Wünschen und Fantasien zum Leuchten bringen.

„Werte“ sind keine Rechtsgrundlage, für gar nichts. Werte als solche gibt es nicht. Sie sind ein Phantasma. Von Amrum bis zum Ammergau, von Niederbayern bis Niedersachsen stellt sich jede Bürgerin, jeder Bürger unter Werten etwas anderes vor. Nicht einmal mehr einen kleinsten gemeinsamen Nenner wie die deutschen Sekundärtugenden ihn einmal dargestellt haben, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Strebsamkeit und viele mehr, gibt es noch. Der ungedruckte, virtuelle deutsche Wertekatalog ist so bunt wie unklar, so verworren wie erratisch. Faktisch kann ihn daher niemand lesen, daher sollte ihn auch keiner zitieren können.

Pseudonormen

Die Anrufung der „Werte“, der deutschen zumal, bezeugt also nicht, wie sie suggeriert, die Kenntnis eines Kanons, der die normative Basis der Gesellschaft bildet, sondern das glatte Gegenteil. Dennoch werden Werte beschworen, was das Zeug hält und was die Zuwandernden aushalten. Auch und gerade Immigranten werden aber mit Pseudonormen wie den formaljuristisch nicht definierten, gesetzlich nicht begründeten Werten wenig anfangen können. Das Wertegerede verkleistert unter anderem die Differenz zwischen kollektiven Ressentiments, die sich auf die Verteidigung jener Werte berufen und rechtsgültigen Normen. Wenn ich der Ansicht bin, meine spezifischen Werte seien allgemeingültig, kann ich den Angriff auf Andere, das Ablehnen Anderer legitimieren, die diese Werte nicht zu teilen scheinen.

Genau das unterscheidet Werte von dem Gelände, das sie wabernd umschiffen, dem Gebiet der Normenklarheit, der Rechtsgüter, des Grundgesetzes.

Denn der Begriff „Werte“ eignet sich ideal, die Unkenntnis geltender Rechtslagen zu verschleiern und numinosen Nationalkonstrukten, Wir-Konstruktionen den Mantel der Legitimität umzuhängen. Als seien Werte messbare Größen wie Wertpapiere auf der Bank oder wägbar wie die Feinunze Gold, so werden sie derzeit gern auf dem Markt der Meinungen verhandelt, immer im Gesamtpaket und nahezu jedes Mal mit einem kollektiven Besitzhinweis: „Unsere Werte.“

Fragen Sie doch einfach das nächste Mal, wenn jemand von den Werten anfängt, welche gemeint sind, wie sie heißen, wo sie herkommen, was sie bewirken. Dann fragen Sie vielleicht noch, ob er oder sie Artikel 1 des Grundgesetzes kennt und wie der Artikel ausgelegt werden sollte. Die Wirrnis der Werte ist antastbar. Die Würde des Menschen nicht.

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