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1955

© bpk / Friedrich Seidenstücker

Politik: Die Denunziation der Stricknadel

Immer war Handarbeit Frauensache –  aber mit immer neuen Mustern. Früher war sie überlebenswichtig, dann verkam sie zum bloßen Hobby, dann wurde sie politisch. Jetzt ist sie wieder da.

Nicht weniger als 652 Seiten brauchte der aus Nordfriesland gebürtige Philosoph und Pädagoge Friedrich Paulsen im Jahre 1884, um in seiner „Geschichte des gelehrten Unterrichts“ das große Panorama der deutschen Schul- und Universitätsausbildung „vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart“ zu entfalten. Paulsen erzählte von Pensionaten und Jesuiten, von Ritterakademien und Gelehrtenschulen, er berichtete von begabten und befähigten, armen und unbemittelten Knaben, von solchen, die ungenügend vorbereitet und anderen, die zum Studieren bestimmt waren, und natürlich auch von jenen, die, wie in der sächsischen Fürstenschule Grimma, „beteten, das Bett machten, die Kammer kehrten, die Schuhe putzten“. 1895, da war Paulsen Ordinarius in Berlin für Philosophie und Pädagogik, ging seine Unterrichtsgeschichte in die zweite Auflage. Es mögen darin ein paar kleinere Änderungen enthalten sein, die aus heutiger Sicht überfälligste von allen aber blieb aus: gelehrter Unterricht war eine Angelegenheit von und für Jungs. Mädchen waren für Paulsen kein Thema.

Vor 100 Jahren fiel das so wenig auf, dass noch in Paulsens Todesjahr 1908 eine Berliner Schule nach ihm benannt wurde: das Paulsen-Gymnasium im Bezirk Steglitz. Es heißt noch heute so. Und einige Kilometer davon entfernt sitzt Juliane Jacobi in ihrem Arbeitszimmer, der Blick geht hinaus in den Garten, an den Bücherwänden lehnt eine Leiter, die schon ihr Großvater in seiner eigenen Bibliothek benutzt hat. Jacobi, schmal, heiter und schlagfertig, ist emeritierte Professorin für Historische Pädagogik an der Universität Potsdam und spezialisiert auf die Bildungsgeschichte der frühen Neuzeit und die jüdische Pädagogik des 20. Jahrhunderts. Zeitlebens war sie aber auch an Fragen der Frauenbildung interessiert, und weil Paulsens „Geschichte des gelehrten Unterrichts“ trotz der Auslassung der Mädchen noch immer als Standardwerk gilt, hat sich Jacobi nach ihrer Emeritierung kurzerhand selbst hingesetzt und einen fast genauso umfangreichen Abriss der „Mädchen- und Frauenbildung in Europa“ geschrieben: 509 Seiten über Töchterschulen und Ordensfrauen, Internate und Privaterziehung, Chancengleichheit und Geschlechterdifferenzierung von 1500 bis zur Gegenwart.

Und über das Handarbeiten. Denn in der Geschichte der Mädchen- und Frauenbildung kommt dem Nähen und Stricken eine ganz besondere Rolle zu. Juliane Jacobis Buch ist gerade frisch erschienen – mitten in eine Zeit hinein, in der das Handarbeiten als Ausweis nachhaltigkeitsorientierter Gesinnung und als Alternative zum Massenkonsum wieder modisch wird.

Wie anders das früher war. Handarbeiten waren für Frauen, schreibt Jacobi in ihrem Buch, einst die „einzige bescheidene Erwerbsmöglichkeit“ und ein Vehikel zur mildtätigen Arbeit im 19. Jahrhundert. Später wurde die Handarbeit dann denunziert als „besonders perfide Methode, die Mädchen von ernsthafter intellektueller Arbeit abhalte und sie auf ihre ,dienende’ Rolle in der bürgerlichen Familie festlege“.

Juliane Jacobi hat selbst erfahren, obwohl in einer bildungsfreudigen Theologenfamilie aufgewachsen, mit welchen Konsequenzen oft schon in der Schulzeit zwischen Jungen und Mädchen unterschieden wird. In ihrem Elternhaus war seit Generationen immer klar, dass alle Geschwister studieren würden, doch besuchten allein die Brüder das altsprachliche Gymnasium, die Tochter aber das neusprachliche, so dass sie, als sie später ihr Theologiestudium anfing, die alten Sprachen mühsam nachlernen musste, „das hat mich wahnsinnig geärgert“.

Dabei war sie an Ungleichheiten schon gewöhnt: Aufgewachsen in einem niedersächsischen Dorf, gehörte Juliane Jacobi zu den Mädchen, die von der dritten bis zur achten Klasse im Handarbeitsunterricht saßen, während die Jungs in derselben Zeit frei hatten. „Eigentlich war das zu meiner Schulzeit noch wie im 16. oder 17. Jahrhundert“, sagt sie dazu. Eigens engagierte die Schule damals eine Schneiderin, die den Mädchen beibrachte, wie man Röcke, Socken oder Kopfkissen fertigte. Selbst das Flicken wurde geübt.

Doch woher rühren die großen Unterschiede in der Erziehung von Knaben und Mädchen, woher stammt der Fokus auf die Handarbeit? „Das“, sagt die Historikerin, „hat ganz viel mit dem nach 1500 entwickelten Eheverständnis zu tun.“ Die Ehe sei als eine Einrichtung begriffen worden, in der Mann und Frau ganz bestimmte Aufgaben haben – und die der Frau bezogen sich vor allem auf Haus und Familie. Wie lange diese Festsetzung der ehelichen Arbeitsteilung wirksam war, zeigt schon Schillers „Glocke“ mit ihren ellenlangen Alltagsbeschreibungen: „Der Mann muss hinaus ins feindliche Leben, und drinnen waltet die züchtige Hausfrau.“ Zwar lachte man bereits um 1800 darüber: „Ehret die Frauen!“, parodierte August Wilhelm Schlegel ein anderes Schiller-Gedicht, „sie stricken die Strümpfe, wollig und warm, zu durchwaten die Sümpfe.“ Tatsächlich aber hielt sich die Fixierung der Frau auf Haus, Pflege, Erziehung, Handarbeit und Hauswirtschaft jahrhundertelang.

Zuvor war sie sogar dort gültig gewesen, wo exzellente Ausbildungsstätten auch andere Wege hätten aufzeigen können. Selbst in den katholischen Klöstern nämlich wurden die meisten Mädchen nicht für ein zölibatäres Leben in Frömmigkeit und Gelehrsamkeit ausgebildet, wie die Jungen an ihren Klosterschulen, sondern stattdessen auf die Familienarbeit vorbereitet. Zusätzlich gab es nationale Traditionen: Bei den venezianischen „Ospedale“ des 17. und 18. Jahrhunderts, quasi Vorläufern der späteren Konservatorien, in denen Mädchen zu musikalischer und handarbeitstechnischer Meisterschaft herangezogen wurden, bestellte der französische Hof Spitzenstoffe für die Krönung Ludwig XIV., und das stets modebewusste Frankreich richtete im 19. Jahrhundert Kunstgewerbeschulen ein, in denen Frauen zu Stickerinnen oder Näherinnen ausgebildet wurden. Es ist kein Zufall, dass eines der wichtigsten Handarbeitsbücher Europas, Thérèse de Dillmonts „Enzyklopädie der weiblichen Handarbeiten“, aus dem Elsass kommt, nahe dem französischen Sprachraum.

Doch jetzt einmal etwas anderes: Setzt sich eine Wissenschaftlerin wie Juliane Jacobi auch manchmal mit einer Handarbeit hin? Immerhin gehörte es lange zum Selbstbild der Generation, die sich für Gleichberechtigung und gleiche Bildungschancen für Mädchen und Jungen einsetzte, das Handarbeiten zu hassen. Und dennoch: Auch Juliane Jacobi strickt. Und auch das ist eine Generationenfrage.

So wie in Juliane Jacobis Schulzeit war es damals überall in der jungen Bundesrepublik. Freizeit für Jungs, Handarbeit für Mädchen. Und wer gut lernte im Unterricht, konnte sich und die Familie später mit selbst gefertigter Kleidung ausstatten. Zeitschriften wie die 1949 von Aenne Burda gegründete „Burda Moden“ waren dabei behilflich, „sich modisch, feminin und schön zu kleiden, ohne dafür Unmengen an Geld auszugeben oder in eine der Metropolen reisen zu müssen.“ So sagt es Dagmar Bily, Chefredakteurin des seit 2009 unter dem Namen „Burda Style“ firmierenden Magazins.

Der geschlossene Kreislauf aus schulischer Erziehung, Freizeitbeschäftigung und Modewelt zerbrach erst, als in den 1970er Jahren die großen Lehrplanreformen griffen. Von nun an gab es in der Schule keinen Kreuzstich mehr für die Mädchen, keine gestopften Strümpfe oder selbst genähten Röcke. Nun argumentierten die Pädagogen damit, dass es nicht mehr um handwerkliche Fähigkeiten gehe, sondern darum, Kenntnisse über Herstellungsverfahren zu vermitteln, „die Urteilsfähigkeit des Kindes als Konsument auszubilden“ (Jacobi). Es ist eine interessante Pointe der Unterrichtsgeschichte der vergangenen Jahrzehnte, dass die Angleichung der Bildungsgänge für Jungen und Mädchen bislang wenig auf den Berufsmarkt eingewirkt hat: Mädchen haben heute identische Schulzeiten und erreichen ebenso hohe Abschlüsse wie Jungen. Sie bleiben aber in der Wahl ihrer Berufe den alten Themen Gesundheit, Pflege, Erziehung, Kultur- und Geisteswissenschaften treu. Kein Wunder, dass über die Erledigung der Familienarbeit dann erst recht erbittert gestritten wird. Der Frage, wer zu welchem Preis die Kinder erziehe, schreibt Jacobi in ihrem Buch, „kann eine Gesellschaft in dem Moment, in dem es genauso viele gut ausgebildete Frauen wie Männer gibt, nicht mehr ausweichen“.

Doch zurück zur Handarbeit, einer der letzten Domänen der Weiblichkeit. Zu annähernd 99 Prozent setzt sich die Leserschaft der „Burda Style“ aus Frauen zusammen, und Frauen stellen 90 Prozent derjenigen, die herstellend oder kaufend auf die Internetplattform für Selbstgemachtes „dawanda“ zugreifen. Selbermachen ist für sie alle keine Notwendigkeit mehr. Schon in den 1970er Jahren konnte man mit dem Schneidern oder Stricken nichts mehr sparen. „Die kleineren Städte veränderten sich damals“, sagt Bily, „immer mehr Handelsketten bezogen die neu geschaffenen Fußgängerzonen. Es gab Massenware im Angebot und die war und ist billiger, als sich selbst etwas zu nähen.“ Das war die Phase, in der Handarbeit zum Nischenhobby wurde. Zugleich wurde das Stricken in diesen Jahren zu einem Emblem der Alternativszene und damit zum politischen Statement, gerade für Männer. Als Juliane Jacobi nach dem Studium anfing, Vorlesungen und Seminare abzuhalten, saßen in ihren Veranstaltungen strickende Studierende, Männer wie Frauen. Einer ihrer Studentinnen musste Jacobi die Handarbeit schließlich doch untersagen, „weil sie ein kompliziertes Muster in vier Farben strickte und sich unmöglich hätte konzentrieren können“.

Diese Nutzung des Strickens als weltanschauliches Statement, die veränderte Situation auf dem Textilmarkt, nicht zuletzt die Entfernung des Handarbeitsunterrichts aus der Schule: Das alles hat dazu geführt, dass sich die Beweggründe für das Handarbeiten grundsätzlich verändert haben. Wer heute handarbeitet, bewegt sich zwischen dem Bedürfnis nach Nachhaltigkeit und dem Drang zum Tätigsein, zwischen Neuem Biedermeier und Selbstverwirklichung, Stümpertum und technischer Raffinesse. Man handarbeitet zum Beispiel, daran erinnert Jacobi, um den oft wenig sichtbaren Ergebnissen der Schreibtischarbeit etwas Greifbares entgegensetzen zu können. Man handarbeitet nicht aus Not, eher handarbeitet man, um der Not anderer auszuweichen, den katastrophalen Arbeitsbedingungen in jenen Ländern, in denen Kleidung für die Billigketten hergestellt wird. Und natürlich geht es beim Handarbeiten nach wie vor um Individualisierungswünsche. Bily nennt es „das Ausleben von Kreativität, das Bedürfnis, sich wieder von der Masse abzuheben“.

Dass die neue Lust am Handarbeiten sich dabei oft in simplen Projekten Bahn bricht, könnte bei alldem eine nur vorübergehende Erscheinung sein. „Dawanda“ verzeichnet unter dem Suchwort „Filz“ mehr als 130 000 Treffer, dagegen nur 186 unter dem Thema „Weißstickerei“. Filzen geht nämlich viel schneller als Weißsticken, es verlangt kein monatelanges Durchhalten für eine einzige Serviette oder Tischdecke. Filzen ist auch einfacher, es stellt weniger Ansprüche an die Feinmotorik.

Noch mögen Frauen ab 50 durch ihre frühere Beschulung in einer günstigeren Position sein als die jüngeren, die schon fürs Knopfannähen bei Youtube nachsehen müssen. Bily indessen prognostiziert, „dass die junge Generation durch ihre Experimentierfreudigkeit und die Komplimente, die sie durch ihre Nähprojekte erhalten, schnell aufholt.“ Die Auflagenzahl der „Burda Style“ zumindest ist allen flankierenden Erscheinungen im Printbereich zum Trotz stabil geblieben, die Zahl der Abonnentinnen zuletzt sogar gestiegen. Seit kurzem ist die Zeitschrift durch Lizenznahme auch auf dem nordamerikanischen Markt vertreten. Ähnliche Erfolge zeichnen sich in anderen Medien und Formaten ab: Zeitschriften wie „Landlust“ mit ihrer eigenen Handarbeitsrubrik, Blogs wie jene aus der Hand der Schottin Kate Davies oder der Australierin Carolyn Foley zeigen, wie fruchtbar die Kombination aus Virtualität und Manufaktur, Einfachheit und Anspruch sein kann.

Und dann gibt es noch Websites, die einen ganz anderen Zusammenhang von Geschlecht und Geschichte zeigen: Aus dem traditionell handarbeitsbegeisterten Skandinavien kommt ein Blog mit einzigartig kunstvollen Strickmodellen – angefertigt hat sie Ivar Asplund, ein Mann.

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