Vertrauensverlust und vertrauensbildende Maßnahmen

Corona-Krise: Die Spaltung der Gesellschaft ist gefährlich. Vertrauensverlust in die politische Führung und das Ausbleiben vertrauensbildender Maßnahmen bilden einen Teil der Erklärung (Teil 4)

Der erste Teil der Artikelserie konstatierte eine besorgniserregende Spaltung der Gesellschaft, die teilweise auch von Politik und Medien aktiv gefordert wird. Der zweite Teil beschäftigte sich mit der Gefahr eines eindimensionalen Narrativs und der nach wie vor erstaunlich unsicheren Datenlage. Der dritte Teil thematisierte eine Reihe von ausgebliebenen Maßnahmen und Fehlern, die es – nicht zuletzt - schwer nachvollziehbar machen, wie die anvisierte allgemeine Impfpflicht der Voraussetzung gerecht werden kann, dass sie das "absolut letzte Mittel" (WHO) sei.

Die unterlassenen Maßnahmen und Fehler, die in den ersten drei Teilen der Artikelserie aufgeführt worden sind, erheben keineswegs den Anspruch auf Vollständigkeit. Angesichts der komplexen Krise, die seit fast zwei Jahren die Welt mehr oder minder beherrscht, ist es sicherlich verwegen und unangemessen von der Regierung eine fehlerlose Politik zu erwarten.

Ebenso sollte es aber auch von der politischen Führung erwartet werden können, selbst möglichst viele Fehler zu bestimmen und zu korrigieren sowie wichtige Maßnahmen, die unterblieben sind, möglichst rasch einzuführen. Dies sollte eine Selbstverständlichkeit sein, bevor der Fokus der Politik einzig auf eine Maßnahme gerichtet wird, die nur mittelfristig Wirkung zeigen kann, das Problem nur bedingt behebt und zu einer fundamentalen und langanhaltenden Spaltung der Gesellschaft führt: die allgemeine Impfpflicht. Eine solche Politik führt zu einem Verlust des Vertrauens in die Regierung, in den Staat und in die Maßnahmen.

Überzeugung nicht Zwang

In Deutschland herrschte lange Zeit eine klare Meinung vor. So betonte der ehemalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn vor einem Jahr: "Wir setzen auf Argumente, auf Information und Vertrauen in den Impfstoff". Die ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel argumentierte ähnlich und forderte Werbung für die Impfung statt Zwang.

Auch der Chef der Stiko, Thomas Mertens, unterstrich, er befürworte Überzeugung, nicht Zwang. Ähnliches war auch wiederholt in den Kommentaren der öffentlich-rechtlichen Nachrichtensendungen zu hören (hier oder hier)

Die Ablehnung von Zwang und die Fokussierung auf die Überzeugung der Nicht-Überzeugten, die in Deutschland weit verbreiteter Konsens war, stand auch auf wissenschaftlichen Füßen. So hatte bereits 2019 der Ethikrat eine Studie über eine Impfpflicht bei Masern verfasst und davor gewarnt, "dass bereits die Androhung von Zwang das Vertrauen in Impfungen und die Bereitschaft zur freiwilligen Impfung senkte".

Aus heutiger Sicht erscheint die Schlussfolgerung besonders erwähnenswert: "Die Einführung einer De-facto-Impfpflicht wäre in Deutschland medizinisch ineffektiv, juristisch problematisch und soziologisch wahrscheinlich kontraproduktiv, was einen so tiefen Eingriff in fundamentale Grundrechte nicht legitimierbar macht."

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch eine aktuelle Studie der Universität Konstanz. Aufschlussreich eine Erkenntnis der Studie: "Wer dem Staat misstraut, mag sich nicht zum Impfen zwingen lassen."

Konsequent auf Überzeugung der Argumente zu setzen, erscheint also in jeder Hinsicht der richtige Weg zu sein: Denn mithilfe von Transparenz und Argumenten schafft die Regierung Vertrauen in die eigene Maßnahme, es werden mehr Menschen von der Impfung überzeugt und eine Spaltung der Gesellschaft verhindert.

Wortbruch

Vertrauen hat die Regierung (die alte sowie die neue) aber beim Thema der allgemeinen Impfpflicht verspielt. Lenz Jacobsen spricht in "Die Zeit" vom "eklatantesten Wortbruch in der jüngeren Geschichte der deutschen Politik". Wie er ausführlich darlegt, wurde das Versprechen x-mal wiederholt.

Schon am 16. Mai 2020 sagte der Kanzleramtsminister und Mediziner Helge Braun auf die Frage, ob es eine Impfpflicht geben werde: "Nein. Diese Diskussion verstehe ich nicht."

Kein Konjunktiv, kein "hoffentlich", kein "ich glaube" – sondern eine definitive und verbindliche Garantie. Im Februar 2021 und noch mal im Juli sagte Brauns Chefin, Kanzlerin Angela Merkel, in Interviews, dass man "zugesagt" habe, dass es keine Impfpflicht geben werde. Gesundheitsminister Jens Spahn ließ sogar ein Sharepic für Facebook basteln mit diesem Versprechen, in das auch der bayerische Ministerpräsident Markus Söder einstimmte.

SPD-Corona-Experte Karl Lauterbach erklärte, die Impfung sei entweder gut und würde dann auch freiwillig angenommen, oder sie sei einfach zu schlecht. Eine Impfpflicht sei "daher nie sinnvoll". Und der CDU-Altvordere und Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble erklärte kategorisch: "Eine Impfpflicht wird es nicht geben. Das will niemand, der Verantwortung trägt."

Jacobsen stellt daher die Frage: "Es war ein offensichtlich falsches Versprechen des Staates an seine Bürgerinnen und Bürger. Müsste nicht jetzt jemand Verantwortung dafür übernehmen, um den dadurch angerichteten Schaden, um den Vertrauensverlust in die Politik zumindest zu begrenzen?"

Bis heute ist dies nicht geschehen. So verliert die Politik sehenden Auges Vertrauen. Aber gerade in einer Krise, die die Gesundheit jedes einzelnen Menschen betrifft, ist Vertrauen von wesentlicher Bedeutung. Misstrauen und Spaltung ein in jeder Hinsicht besorgniserregendes Resultat.

Transparenz

Es gibt eine Reihe vertrauensbildender Maßnahmen, die die Regierung unternehmen könnte, um das Vertrauen der Bevölkerung wiederzugewinnen bzw. zu erhöhen. Zuvorderst ist hier natürlich die Forderung nach einer größtmöglichen Transparenz zu nennen. Transparenz der Regierung ist eine wichtige Grundbedingung von Vertrauen. Transparenz ist gerade im Hinblick auf die Datensicherheit in möglichst hohem Maß erforderlich. Doch wie verhält es sich mit der Datensicherheit und der Transparenz in Deutschland?

Der Virologe Jonas Schmidt-Chanasit bezeichnet die Datenerhebung in Deutschland als "Datenerhebungskatastrophe". Der Medizinstatistiker Gert Antes, der sich seit April 2020 vehement für die Notwendigkeit möglichst stabiler Daten stark macht und immer wieder vor einem kontinuierlichen Blindflug warnt, erklärte angesprochen auf die Datenqualität des RKI, ein Student in der Universität müsste bei dieser Qualität vermutlich das Seminar noch einmal wiederholen.

Transparenz ist rund 22 Monate nach Beginn der Krise auch in anderer Hinsicht ein massives Problem. In Deutschland sind Zahlen zu den Genesen so gut wie nicht vorhanden, da nicht sie bisher kaum erhoben werden. Entsprechend kann man wenig über die Wahrscheinlichkeit einer Refinfektion sagen, über deren Schwere oder über die Wahrscheinlichkeit schwerer Impfnebenwirkungen.

Das Divi veröffentlicht weiterhin nicht die Daten zum Impfstatus von Intensivpatienten in Deutschland. Und das RKI erklärt auf Anfrage von Telepolis, dass es beim vorletzten Wochenbericht, der überraschenderweise darauf hindeutete, dass sich nur etwa fünf Prozent der Ungeimpften mit Omikron infizierten, leider zu einem Tippfehler gekommen sei: "statt 186 sind es 1.097 ungeimpfte Personen mit Omikron-Infektion".

Auf Anfrage des Welt-Journalisten Tim Röhn, wie hoch der Anteil der Erstgeimpften an den Omikron-Infizierten sei, vermochte das RKI keine Daten zu nennen. Und die Stadt Hamburg, die vor kurzem dadurch aufgefallen war, dass sie schlicht Covid-Patienten, deren Impfstatus unbekannt war, als ungeimpft katalogisierte, vermag ihrem Versprechen, bis Ende des Jahres 2021 die bereinigten Zahlen von geimpften und ungeimpften Infizierten zu beziffern, nicht nachzukommen.

Ähnliches lässt sich aus Bayern berichten. Aufgrund der wiederholt deutlich überhöhten Inzidenzen für Ungeimpfte, die der bayerische Ministerpräsident Markus Söder genannt hatte, kommentierte Die Welt: "Die Obrigkeit will offenbar ihr Herrschaftswissen behalten. Im Kampf gegen Corona versagt der Staat in der Kommunikation. Statistiken werden unverständlich aufbereitet oder gar zurückgehalten. Das geschieht offenbar bewusst: Die Bürger sollen die Fakten gar nicht kennen, um nicht eigene Rückschlüsse zu ziehen."

Konsequenz: Fast 60 Prozent der Deutschen vertrauen den Zahlen des RKI nicht mehr.

Leider passt es da auch ins wenig vertrauenserweckende Bild, dass der Betrugsverdacht in deutschen Krankenhäusern weiterhin unaufgeklärt bleibt, wie der MDR berichtete:

In der Pandemie hat die Politik die Krankenhäuser mit Milliarden Euro subventioniert. 10,2 Milliarden Euro flossen an sogenannten Ausgleichszahlungen, 686 Millionen Euro für neue Intensivbetten. Doch bis heute ist nicht geklärt, ob zu Recht. Der Bundesrechnungshof legte im Juni sogar einen Bericht vor, in dem er den Betrugsverdacht nährte. Divi-Gate – so wird der Verdacht seither genannt. Die Aufklärung kommt nicht voran.

MDR

So entsteht kein Vertrauen in die Regierung, sondern Misstrauen.

Übersterblichkeit

In Deutschland lag die offiziell erfasste Übersterblichkeit im Oktober bei 9 Prozent, im November sogar bei 20 Prozent. Gerd Roettig, der sich ausführlich auf Telepolis mit diesem Thema beschäftigt, kommentiert:

"Die pauschale Feststellung des Bundesamtes, dass auch die jüngst erhobene Übersterblichkeit der Monate September und Oktober des laufenden Jahres durch 'die gemeldeten Covid-19-Todesfallzahlen' nur zum Teil erklärbar sei, bleibt also wichtige Antworten weiterhin schuldig, da sie die Behörde gar nicht selber liefern kann."

Gerade bei der Bedeutung dieses Thema wären transparente Analysen dringend geboten. Nicht nur, um die Antworten zu finden, sondern auch gerade um das Vertrauen der Bevölkerung zu erhalten oder zu gewinnen.

Man denke an dieser Stelle an die niederländische Regierung, die aktuell, wie Stephan Schleim an dieser Stelle geschildert hat, auf die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchung der gemeldeten Übersterblichkeit von 800 bis 900 Personen pro Woche nicht eingeht und Daten zurückhält.

Transparenz bei Nebenwirkungen

Besonders sensibel stellt sich das Thema der Transparenz bei den Nebenwirkungen der Impfung dar. Alexander Unzicker kritisiert daher: "Auch das RKI unterlässt viele Maßnahmen, die zur Vertrauensbildung beitragen würden, etwa mehr Obduktionen."

Ganz in diesem Sinne lautet die Forderung des Pathologen Johannes Friemann:

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der Ausschluss einer Überhäufigkeit von Todesfällen nach Covid-Impfungen seitens des öffentlichen Gesundheitswesens als Verpflichtung im Rahmen der Patientenfürsorge und des Bevölkerungsschutzes aufgefasst werden sollte. Alle Todesfälle im zeitlichen Zusammenhang mit einer Impfung, zum Beispiel im 14-Tageszeitraum, sollten behördlich erfasst und bezüglich eines kausalen Zusammenhangs, wenn möglich mittels Obduktion, abgeklärt werden.

Johannes Friemann

Dies geschieht bisher nicht, ist nicht einmal in der Diskussion. Zur Transparenz gehört nicht nur die entsprechende Aufbereitung und Darstellung der Nebenwirkungen der Impfung, insbesondere die Melderate der schweren Nebenwirkungen, sondern auch, dass Medien – zwar sicherlich nicht jeden Tag, aber dennoch regelmäßig die Zahl der Meldungen schwerer Nebenwirkungen nennen, damit sich die Menschen ein Bild machen können und nicht, das Gefühl haben, die schweren Nebenwirkungen würden unter den Teppich gekehrt und ignoriert.

Sicherlich spielt hier die Sorge eine Rolle, falls man wiederholt die bisherige Häufigkeit der Meldungen von schweren Nebenwirkungen nenne, würde man eine irrationale und überdimensionierte Angst schüren. Wenn aber die Zahlen transparent aufbereitet und von Experten eingeordnet werden, sollte dieses Argument gegen die Notwendigkeit der Transparenz eigentlich nicht mehr stichhaltig sein.

Insbesondere wenn die Notwendigkeit einer regelmäßigen Boosterung im Raum steht, Biontech-Gründer Uğur Şahin eine Boosterung nach drei Monaten sowie eine vierte Dosis vorschlägt (die in Israel bereits durchgeführt wird), die Stiko diese Ansicht teilt, und der Chef der sächsischen Impfkommission davon ausgeht, dass in Zukunft regelmäßige Impfauffrischungen notwendig sein werden, ist die Häufigkeit schwerer Nebenwirkungen wichtiger denn je.

Schließlich besteht die Möglichkeit, dass die derzeitige Melderate von 0,2 Meldungen schwerer Nebenwirkungen auf 1.000 Impfdosen, die das Paul-Ehrlich-Institut bisher verzeichnet, bei jeder Boosterungs-Runde erneut zu verzeichnen ist.

Man kann daraus freilich nicht zwingend folgern, dass die Boosterung zu gefährlich sei. Die Zahlen aber nicht offen zu kommunizieren, lässt nachvollziehbarerweise bei einer Reihe von Menschen das Gefühl fehlender Transparenz entstehen und damit die Frage aufkommen, aus welchem Grunde diese Transparenz bei einem solch wichtigen Thema nicht ausreichend gewährleistet wird. So entsteht kein Vertrauen in die Regierung, sondern Misstrauen.

Planung und Transparenz

Betrachtet man die georderten Impfstoff-Lieferungen der EU für das kommende Jahr, scheint es, dass die politische Führung vermutlich auch langfristig von einer Auffrischung der Impfung ausgeht.

Für Deutschland stehen insgesamt 109 Millionen Impfdosen für Erwachsene allein für das erste Quartal 2022 zur Verfügung. Das reicht, um deutlich mehr als alle Deutschen im Alter über fünf Jahre zu impfen. Auf EU-Ebene sieht es ähnlich aus. Zu den bereits 450 Millionen Impfdosen von Biontech wurden aktuell 200 Millionen weitere geordert.

Hinzu kommen 200 Millionen Dosen von Novovax. Ohne andere Impfstoffe in dieser Rechnung zu berücksichtigen, kommt man also auf 850 Millionen Impfdosen für 447 Millionen EU-Bürger. Gut zwei Impfdosen pro EU-Bürger, der älter als fünf Jahre ist. Die Tatsache, dass die vermutliche Absicht, wiederholt eine Boosterung aller EU-Bürger vornehmen zu lassen, lange Zeit so nicht kommuniziert wurde, stellt leider ein weiteres Beispiel fehlender Transparenz dar.

Die berühmten Langzeitfolgen

Ein letzter Punkt zu den Nebenwirkungen. Das RKI erklärt: "Sogenannte Langzeitnebenwirkungen, die unerwartet und erst lange Zeit (mehrere Jahre) nach der Impfung auftreten, sind bei noch keiner Impfung beobachtet worden und sind auch bei den Covid-19-Impfstoffen nicht zu erwarten."

Diese Darstellung wurde sehr breit in den Medien wiedergegeben. Der Epidemiologe Alexander Kekulé gibt aber angesichts der Vorbehalte im Hinblick auf mögliche Langzeitfolgen, die eine Reihe von Impfkritikern haben, zu bedenken:

Natürlich hat man die neuen Wirkstoffe mittlerweile milliardenfach verimpft, ohne dass bedenkliche Nebenwirkungen registriert wurden.

Die sehr seltenen Herzmuskelentzündungen heilen meist folgenlos aus und stünden jedenfalls einer Impfpflicht für Erwachsene nicht entgegen. Allerdings kann kein seriöser Wissenschaftler ausschließen, dass in Zukunft Nebeneffekte entdeckt werden, die mit den heutigen Kenntnissen über das Immunsystem und seine Entwicklung in der Kindheit nicht vorhersehbar waren.

Alexander Kekulé

Offensichtlich ist die Eindeutigkeit der Aussage des RKI auch unter Experten nicht so eindeutig. Daher wäre auch dies eine Frage der Transparenz, wenn dies offen und widersprüchlich diskutiert würde. Denn nur so kann man Vertrauen schaffen und die Menschen überzeugen.

Schwammige Richtlinien

Am Neujahrstag verwies die Bild-Zeitung auf ein Paradox. Auf der Ministerpräsidentenkonferenz am 18. November einigte man sich darauf, die 2G-Regelung einzuführen, sobald bei der Krankenhaus-Inzidenz der Schwellenwert von "3" überschritten wird.

Trotz dann Mitte Dezember sinkender Krankenhaus-Inzidenz verschärften Bund und Länder aber beim Corona-Gipfel am 21. Dezember die Maßnahmen. Laut Zahlen des RKI befindet sich aber aktuell in einer Reihe von Bundesländern derzeit die Krankenhaus-Inzidenz unter drei: Baden-Württemberg (2,97), Bayern (2,73), Niedersachsen (1,75), Nordrhein-Westfalen (2,6), Rheinland-Pfalz (2,32) und Saarland (2,44). Keines dieser Bundesländer hat aber die 2G-Regelung aufgehoben, sondern zumeist die Regelungen verschärft.

Überraschend erklärt Niedersachsen auf Anfrage von Telepolis: "Die Methodik des RKI zur Ermittlung der Hospitalisierungsinzidenz ist eine andere als jene, auf die Niedersachsen zurückgreift." Die offizielle Zahl hier beläuft sich nicht auf 1,75, sondern auf 4,5.

Über die generelle Aufrechterhaltung der 2G-Regelung und die Verschärfung der Corona-Maßnahmen klärt Anna Kröning in Der Welt auf:

Die Bund-Länder-Beschlüsse sind bloß unverbindliche Empfehlungen; es gilt, was im Infektionsschutzgesetz steht. Demnach können die Länder sich auch nach anderen Richtwerten wie der Neuinfektionsinzidenz oder Impfquote richten, sollen aber ansteckendere Mutationen berücksichtigen. In dieser Hinsicht sei das Gesetz "schwammig" formuliert, sagt der Staatsrechtler Josef Franz Lindner. "Aus dieser Melange aus ungeordneten Maßstäben kann sich der Landesverordnungsgeber dann das politisch gewünschte Konzept basteln."

Anna Kröning, Die Welt

So entsteht kein Vertrauen in die Regierung, sondern Misstrauen.

Grundmisstrauen I

Die Sorge um das Vertrauen der Menschen und vertrauensbildenden Maßnahmen wären umso wichtiger, gerade weil die aktuelle Krise auf ein gewisses Maß an Grundmisstrauen gegenüber der Regierung stößt. Denn die fehlenden vertrauensbildenden Maßnahmen fallen auf den fruchtbaren Boden einer polarisierten Gesellschaft, die schon vor der Corona-Krise deutliche Anzeichen einer Spaltung gezeigt hat, wie eine Analyse zweier repräsentativer Umfragen durch die Konrad-Adenauer-Stiftung in den Jahren 2019 und 2020 zeigt.

Der Spiegel kommentiert: "Demokratie braucht Debatten mit unterschiedlicher Haltung. Doch (…) immer mehr Deutsche stehen einander unversöhnlich gegenüber – und verorten sich selbst dabei in der 'Mitte'. (…) Eine gemeinsame Diskussion wird immer häufiger durch die Ausgrenzung abgelöst. Die Ablehnung von Menschen mit ganz anderen politischen Meinungen als den eigenen nimmt in Deutschland entsprechend zu."

Grundmisstrauen II

Die Sorge um das Vertrauen der Menschen und vertrauensbildenden Maßnahmen wären umso wichtiger, weil die aktuelle Krise auch gerade auf ein Misstrauen gegenüber der Pharmaindustrie trifft. Alexander Unzicker gab an dieser Stelle zu bedenken (Corona: Warum eine Impfpflicht nicht okay ist:

Man kann eben – und das gilt für fast alle Länder der westlichen Hemisphäre – leider nicht überzeugt sein, dass die staatlichen Institutionen in wissenschaftlicher Sorgfalt und unbeirrter Neutralität die Pharmaindustrie kontrollieren, eine Branche, die im Übrigen vielfach demonstriert hat, dass für sie Gesundheit und Menschenleben nichts zählen, sobald es um Profit geht

Alexander Unzicker

Es gibt eine Reihe von Skandalen der Pharmaindustrie in den letzten Jahren, die durchaus mal Profite über die Gesundheit der Menschen gestellt haben: beispielsweise musste ausgerechnet Pfizer im Jahr 2009 nicht weniger als 2,3 Milliarden US-Dollar Strafe zahlen wegen illegalem Marketing. Derbis dato höchsten Strafe in den USA für Vergehen gegen das Strafgesetz ("biggest criminal fine"), wie der Guardian damals berichtete.

Betrachtet man, auch die Preisverhandlungen und die Tatsache, dass Biontech/Pfizer für die Impfung das Zwanzigfache der Produktionskosten einstreichen, obwohl die Recherche in hohem Maße von der EU finanziert wurde, erhöht dies natürlich das Grundmisstrauen.

Dass darüber hinaus die Preise für Impfungen steigen, dass die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen die Auskunft über angebliche SMS mit Pfizer zum Milliardendeal verweigert und dass schließlich auch der Vertrag der EU mit Impfherstellern geheim ist: So entsteht kein Vertrauen in die Regierung, sondern Misstrauen.

Gewinnmargen

Das Grundmisstrauen vieler Menschen ist nicht nur die Reaktion auf die gigantischen Gewinne, die einige Pharmakonzerne derzeit einfahren (gerade auch im Hinblick auf Boosterung und einer möglichen vierten Dosis, die natürlich die bisherigen Gewinne durch die Impfung mit zwei Dosen verdoppelt). Biontech gilt als "Senkrechtstarter des Jahres": "Mit einem Marktwert von mehr als 61 Milliarden Dollar ist er unter den deutschen Firmen die Nummer zwölf und weltweit unter den Top 300." Die beiden Gründer sind nun Milliardäre.

Während die Armut in Deutschland auf neuem Höchststand ist, fast ein Viertel der über 80-Jährigen in Armut lebt, jedem Dritten eine Rente unter 1.300 Euro droht, explodieren die Gewinne der Superreichen.

Zu Recht fürchtet der Philosoph Alexander von Pechmann "Die Coronakrise wird ein gigantisches Reichtumsumverteilungsprogramm."

Nicht nur die Superreichen verdienen prächtig, auch von anderen ist bekannt, dass sie ansehnlich dieses Jahr verdient haben. Der Business-Insider berichtet, dass Ärzte, die in Impfzentren tätig sind, einen Stundenlohn von rund 150 Euro erhalten. Bei zwanzig Arbeitstagen macht das ein Brutto-Monatsgehalt von 24.000 Euro. Bekannt sind auch die hohen Gewinnmargen bei Schnelltestcentern.

So erklärte ein Betreiber in der Zeit: "Bei 500 bis 800 Tests am Tag, könne er pro Testzentrum monatlich rund 100.000 Euro Gewinn erwirtschaften. Ein gut besuchtes Testzentrum würde sich 'nach fünf bis sechs Tagen' rentieren."

An dieser Stelle sei ausdrücklich betont, dass es nicht darum geht, den Forschern, den Ärzten oder den Betreibern von Schnelltestcentern pekuniäre Interessen zu unterstellen. Vielmehr geht es um eine Darlegung möglicher Gründe eines Grundmisstrauens, das sich vermutlich bei einer Reihe Menschen angesichts der Gewinnmargen einstellt.

Jede Krise ist eine Chance!

Auch die Corona-Krise scheint nach dem Gesetz aller Krisen im Kapitalismus zu laufen, die der Wirtschaftshistoriker Philip Mirowski so treffend mit dem Titel seines Buches beschrieb "Never Let A Serious Crisis Go to Waste".

Dass dies gerade auch nach der Finanzkrise 2008 auf ein gerütteltes Maß an Grundmisstrauen trifft, insbesondere weil der Staat einmal mehr dem unbegrenzten Gewinnstreben keine Grenzen aufzeigt, bedarf keiner soziologischen Feldstudie.

Eine sensible Politik, die die Gefahr eine Vertiefung des Spalts der Gesellschaft verhindern will, sollte und muss dies berücksichtigen, um das notwendige Fingerspitzengefühl entwickeln zu können.

Eine ungewöhnliche Begründung

Ein aktuelles Beispiel belegt leider, dass vertrauensbildende Maßnahmen nicht sehr weit oben auf der Tagesordnung der neuen Regierung steht. Der neue Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach hat sich noch vor einigen Monaten sich explizit gegen eine Impfpflicht ausgesprochen: "Das ist tatsächlich die Entscheidung eines jeden Einzelnen, eine freie Entscheidung, welches Risiko er hier trägt. Es kann auch von anderen nicht verlangt werden, dass ein Mensch so sicher lebt, dass er andere wiederum gar nicht gefährdet."

Seit wenigen Wochen hat er eine Kehrwendung vollzogen und vor wenigen Tagen seine Erklärung abgegeben, warum es gerade angesichts von Omikron dringend angeraten ist, möglichst schnell eine allgemeine Impfpflicht (auch ohne Impfregister) durchzusetzen: "Wir können nicht darauf warten, dass eine Impfpflicht überflüssig wird, weil wir eine sehr hohe Durchseuchung der Bevölkerung haben. Omikron als schmutzige Impfung ist keine Alternative zur Impfpflicht. Das wäre sehr gefährlich."

Die Argumentation ist erstaunlich. So sehr man das Argument noch nachvollziehen kann, dass Omikron zu gefährlich sei, als dass man dem Virus eine Durchseuchung der Bevölkerung erlauben könne, da dies mit auch mit schweren Erkrankungen und Todesverläufen einhergeht, so absurd erscheint das Vorhaben. Denn eine allgemeine Impfpflicht würde erst dann Wirkung zeigen, wenn aller Wahrscheinlichkeit nach die Omikron-Welle deutlich ihren Höhepunkt überschritten hätte. In Südafrika hat dies gerade knapp vier Wochen gedauert.

Von Überzeugung und vertrauensbildenden Maßnahmen keine Spur mehr. Es scheint die Zeit der Hauruck-Methode gekommen.

Überraschende Diskussion

Überzeugender und vertrauensbildender wäre es, statt auf Lauterbachs Drängen auf die Argumente des Virologen Hendrik Streeck einzugehen, der sich im Interview mit n-tv kritisch äußerte:

Ich sehe das sehr skeptisch, dass man jetzt anfängt, auch schon über eine vierte Impfung zu reden. Im Grunde können wir nicht mit einem Impfstoff arbeiten, der alle sechs Monate gegeben wird, weil wir dann uns eingestehen müssen, dass der Impfstoff nicht gut funktioniert Und man müsste noch mal zurück quasi ins Labor gehen und bessere Impfstoffe finden. Ich finde da auch die Diskussion um die Impfpflicht etwas überraschend.

Bei einem Impfstoff, wo wir weder die Schutzdauer, die Schutzwirkung oder aber auch sagen können, welche Varianten im Moment abgedeckt werden von einem Impfstoff oder nicht und wie oft der angepasst werden wird. Dahingehend kann man ja gar keine guten Empfehlungen aussprechen, die langfristig sind.

Anders verhält es sich bei Impfstoffen wie gegen Masern oder damals Pocken, wo wir eine Impfpflicht hatten. Wo wir aber auch entweder das Virus ausrotten konnten oder potenziell das Virus mit ausrotten können. Wo wir eben einen dauerhaften Schutz haben und auch eine sterile Immunität, also einen Schutz vor der Infektion.

Hendrik Streeck

Das erste Studienergebnis in Israel zur vierten Impfdosis, wo seit Ende Dezember die neue Boosterungs-Runde gestartet wurde und das aktuell von Deutschland bei stark steigenden Infektionszahlen und Krankenhauseinlieferungen als Hochrisikogebiet eingestuft wird, ist eher enttäuschend, wie Die Welt" zusammenfasst:

Wir sehen einen bestimmten Anstieg der Antikörper, aber der Anstieg ist nicht sehr beeindruckend", sagte Professor Gili Regev der israelischen Nachrichtenseite "ynet" am Mittwoch zu vorläufigen Ergebnissen der Studie. Man sei kurz nach der vierten Impfung wieder auf demselben Antikörper-Stand wie kurz nach der dritten, sagte Regev. Sie habe sich von einer zweiten Booster-Impfung mehr erhofft. Es könne nicht das Ziel sein, sich etwa alle vier Monate erneut gegen das Coronavirus impfen zu lassen.

Die Welt

Weltmeister

Nach Berechnungen der Universität Oxford hat Deutschland weltweit die striktesten Corona-Maßnahmen. Inwiefern man stolz auf diesen Titel sein kann, auch wenn die deutschen Infektions-, Krankenhaus- und Todeszahlen kaum rechtfertigen, weshalb hierzulande die härtesten Maßnahmen gleichsam alternativlos sein sollen.

Im Gegenteil deutet sehr viel darauf hin, dass eine offene Diskussion über Alternativen Vertrauen zurückgewinnen könnte. Beispielsweise schlägt Detlev Krüger vor, der 27 Jahre lang die Berliner Charité geleitet hat, endlich dem Wohl von Kindern und Jugendlichen eine hohe Priorität einzuräumen und Quarantäneregeln an Schulen stark einzuschränken und die Massentestungen zu stoppen.

Angesichts der erschreckend hohen Zahl versuchter Selbstmorde bei Kindern in Deutschland und der Überlastung von Kinder- und Jugendpsychiatrien, die bereits im Mai gemeldet wurde, ein wichtiger Vorschlag. Über diesen könnte man doch mal offen und transparent diskutieren. Gleichsam als Übung.

Wenn sich die Regierung dann noch den vielen Beispielen fehlender Transparenz und vertrauensbildenden Maßnahmen annimmt, die bisher noch nicht durchgeführt wurden, wäre das ein wichtiger Schritt zur Vertrauensbildung. Denn wie lautete eine Erkenntnis der Studie der Universität Konstanz? "Wer dem Staat misstraut, mag sich nicht zum Impfen zwingen lassen."

Transparenz und vertrauensbildende Maßnahmen sind in jeder Hinsicht zielführender und gesellschaftlich gesünder als eine allgemeine Impfpflicht.

Im fünften und letzten Teil der Artikelserie wird die Spaltung der Gesellschaft thematisiert.