Berlin. Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller kennt sich aus mit dem Leben in diktatorischen Verhältnissen. Umso schärfer ist ihr Blick auf aktuelle Entwicklungen.

Das Werk von Herta Müller („Atemschaukel“) ist ein Fanal gegen Gewalt und Unterdrückung. Die eigenen Erlebnisse unter dem rumänischen Ceausescu-Regime schärfen den Blick der Literatur-Nobelpreisträgerin auf aktuelle Entwicklungen. An diesem Donnerstag feiert sie ihren 70. Geburtstag.

Sie haben selbst in einem diktatorischen System gelebt. In Ihren Texten sind diese und andere Erfahrungen immer wieder Thema. Wie labil ist aus Ihrer Sicht und vor dem Hintergrund Ihrer Erfahrungen eine vermeintlich gefestigte Demokratie angesichts von Radikalisierungen oder autoritären Entwicklungen?

Ja, „vermeintlich gefestigt“ ist die richtige Formulierung. Ich glaube, das gilt heutzutage für alle demokratischen Länder. Es scheint eine Langweile oder ein Überdruss an der Freiheit in der Demokratie entstanden zu sein. Auch in Deutschland. Rechtsradikale faseln von einem „sozialnationalen“ Staat und meinen natürlich Nationalsozialismus und halten sich für schlau, weil sie es nicht aussprechen. Sie verklären die Diktatur Hitlers und folgerichtig auch die Diktatur von Putin. Und das ist konsequent, denn in Putins Russland ist so viel Nationalsozialismus wie sonst nirgends auf der Welt. Sie propagieren eine „wahre“ EU der „Vaterländer“, aber wem hat die EU denn sein Vaterland genommen?

Darum geht es ja auch gar nicht. Das „völkische Denken“ träumt von einem anderen Deutschland, in dem millionenfache Vertreibung im Namen der Heimat wieder zum Alltag wird. Dafür wünschen sie sich einen starken Führer, der die Nato verlässt und sich vom Kriegsverbrecher Putin schützen lässt. Dagegen müssen wir uns wehren. Anscheinend haben ihre Wähler vergessen, dass gerade in Deutschland die Heimatbesitzer sowohl ihr eigenes Land als auch die halbe Welt schon einmal in den Abgrund gerissen haben.

Die Ignoranz vor historischem Wissen macht Diktatur wieder vorstellbar. Denn die Rechtsradikalen arbeiten infam. Sie verleumden die Demokratie täglich als Diktatur und ihre Wähler glauben ihnen. Der Grund dafür ist politischer Infantilismus. Man verschließt die Augen vor den Problemen der Welt - wie Putins Krieg oder dem Klimawandel oder ökonomischen Verflechtungen – und glaubt eingenebelt und aufgehetzt politischen Märchen.

Sie unterstützen das in Berlin geplante Exilmuseum mit Ihrem Engagement. Warum ist es aus Ihrer Sicht heute so wichtig, auf diesen Teil sowohl deutscher Geschichte wie auch internationaler Gegenwart mit einer solchen Institution zu blicken?

Für die Heimatvertriebenen, die am Ende des Zweiten Weltkriegs aus den Ostgebieten hinein nach Deutschland vertrieben wurden – also von Deutschland aufgenommen wurden, gibt es seit Jahren ein vom Bundestag finanziertes Museum. Aber für die 500000 Deutschen, die vor den Nazis ins Exil fliehen mussten, um ihr Leben zu retten, gibt es keinen Erinnerungsort. Ich frage mich, war Deutschland nicht ihre Heimat? Wurden nicht auch sie vertrieben? Und zwar aus Deutschland hinaus.

Zu dieser Vertreibung hat sich Deutschland nie bekannt. Dabei waren sie die ersten Opfer der Nazis, die nur durch Flucht überlebten. Doch nach 1945 galten sie nicht als Opfer. Man hat sie sogar verhöhnt, weil sie es sich im Ausland angeblich bequem gemacht hätten. Und es gab alle Jahre danach nie eine staatliche Einladung zur Rückkehr nach Deutschland.

Der dunkle Inhalt von Flucht und Exil ab 1933 kann am besten anhand einzelner Lebensläufe dargestellt werden - genau dafür braucht es dieses Museum. Und weil der deutsche Staat bisher keinerlei Bemühung dafür gezeigt hat, unterstütze ich die private Initiative, die versucht, die nötigen Millionen durch Spenden aufzubringen. Angesichts der großen Fluchtwellen, wie wir sie heute weltweit sehen, wird das Exilmuseum sogar immer notwendiger. Durch sein Thema Exil wird es immer mehr auch ein Museum der Gegenwart.

Nach welchen persönlichen Kriterien haben Sie die Texte für Ihren neuen Band „Eine Fliege kommt durch einen halben Wald“ ausgewählt?

Es geht in allen Texten um Exil und Diktatur und die Zerstörung des Individuums. Um die ewige Frage in allen Diktaturen: Wie kann man leben, wenn man nicht so sein darf, wie man will und nicht so werden will, wie man darf.

Zur Person

Herta Müller wurde am 17. August 1953 im deutschsprachigen Nitzkydorf in Rumänien geboren. Sie studierte rumänische und deutsche Literatur in Temeswar. Ihre Arbeit als Übersetzerin in einer Maschinenbaufabrik verlor sie, weil sie nicht für den rumänischen Geheimdienst spitzeln wollte. 1987 konnte sie nach Deutschland ausreisen. Ihre in rund 50 Sprachen übersetzen Werke wurden zahlreich ausgezeichnet. 2009 erhielt sie den Literaturnobelpreis für den Roman „Atemschaukel“. Herta Müller lebt in Berlin.