Kolumne
«Ürner Asichtä»: Reedä-n isch scheen

Kolumnistin Regula Waldmeier über das gesprochene Wort und schweigsame Urnerinnen und Urner.

Regula Waldmeier
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Das kleine Mädchen – heute eine gestandene Frau – hüpft vor Freude zum Mittagstisch, es erzählt vom Kindergarten, die Worte sprudeln nur so aus ihm heraus. «Schnüüffä, Mäitä», mahnt die Mutter. Und die Kleine seufzt selig: «Reedä-n isch scheen.»

Regula Waldmeier, Kolumnistin und Pensionärin.

Regula Waldmeier, Kolumnistin und Pensionärin.

Bild: UZ

Menschen sind mehr oder minder redselig. Als ich in den Kanton Uri gezogen war, konnte ich es kaum fassen, wie verhalten und wohlüberlegt viele Leute hier miteinander sprechen. Stehen da, wo ich herkomme, vielleicht drei Fremde 10 Minuten lang zusammen, weiss danach jeder vom anderen das halbe Leben. Dass ich nicht übertreibe, kann Julie, die Mutter meines Schwiegersohnes, bestätigen. Sie erlebte es hautnah, als wir zusammen mit drei jüngeren Aargauern in Amsteg auf den Bus warteten. Wir vernahmen, dass alle drei als Lehrer tätig sind, welchen Urner Berg sie erklommen hatten, womit und wo sie sich nun verpflegen würden, und dass der eine frisch geschieden war. Julie brachte vor lauter Staunen den Mund kaum zu.

«Ja», sagt meine Familie, sagen meine Freunde und Bekannten: «Sie weiss immer etwas zu erzählen.» Damit bin ich gemeint, es ist keine Kritik, einfach eine Feststellung. Ich bin selten sprachlos, kann aber auch gut zuhören, gebe nur Tipps, wenn ich gefragt werde und tratsche nicht mehr als andere.

Das oben erwähnte Mädchen ist eine Wirtstochter. Ich bin auch im Gastgewerbe sozialisiert worden. Gerne erinnern wir uns an Trögli-Annemarie: Niemand verliess das Lokal, ohne Nachfrage nach der Befindlichkeit und wohlwollenden Zuspruch. Ich vermute, wer im Gastgewerbe heimisch war, kann nicht schweigsam sein.

Neulich traf ich im Zug eine mir unbekannten Frau. Sie rede etwas viel, gab sie zu bedenken. «Ach, das macht doch nichts», tröstete ich, «solange Sie nicht über andere reden.» Darauf mein Gegenüber beschämt: «Das mache ich auch.»

Das tönt etwas oberflächlich, so Geschwätz halt. Aber ich bin froh, dass es auch die ernsthaften, empathischen Gespräche gibt. Sich jemandem anvertrauen können, zu verstehen suchen, verstanden werden, sich mitfreuen, mitleiden, diskutieren, sind wohl die wichtigsten Geschenke, die das Leben machen kann. In Bürglen, oben an der Feldgasse, gibt es ein «Pläüderbänkli». Es lädt dazu ein, sich zu setzten, mit Bekannt oder Unbekannt einen Schwatz zu halten, herrlich.

Bild: Regula Waldmeier

Meine Grosskinder sind, wie hoffentlich andere auch, völlig unbefangen ehrlich. Aber an Weihnachten konnte ich dann doch erst beim zweiten Anlauf lachen. Im Geschenkbrief der achtjährigen Alma stand: «Grossmami, ich habe dich ganz fest lieb, obwohl du manchmal ein bisschen viel redest.»

Viel reden, wenig reden, nicht so wichtig … Eines glaube ich, mit Bestimmtheit zu wissen: Ein zwischenmenschliches Problem schweigend auszusitzen, ist nie eine Lösung, und ich gebrauche das Wort «nie» so wenig wie möglich. Einen Missstand nicht ansprechen, macht ihn nur noch grösser. Es muss ja nicht jede und jeder so viel erzählen wie ich. Vielleicht können wir bei Gelegenheit darüber sprechen.