Aufgabenteilung

Gesundheitspolitik im Mehrebenensystem

Illustration: Diskutierende Politiker

Gesundheitspolitik in Deutschland ist in ein Mehrebenensystem eingebunden. Entscheidungen über die Organisation, Versorgung, Finanzierung und Regulierung im Gesundheitswesen fallen also nicht durch einen Akteur oder auf einer Handlungsebene allein, sondern in einem System übereinander geschichteter Institutionen, die jeweils über eigene Kompetenzen auf diesem Politikfeld verfügen. Ein Überblick.

Für die Gesundheitspolitik und die Gesundheitssystementwicklung in Deutschland ist der Bund von herausragender Bedeutung. Dies gilt für die Rechtsetzung (Legislative), die Ausführung von Gesetzen (Exekutive), aber auch für die Rechtsprechung (Judikative), vor allem durch das Bundesverfassungsgericht und das Bundessozialgericht. Darüber hinaus spielen in der Gesetzesausführung (einschließlich der untergesetzlichen Rechtsetzung) auf Bundes- und Landesebene die soziale Selbstverwaltung der Krankenkassen und die gemeinsame Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen als mittelbare Staatsverwaltung eine große Rolle.

Arbeitsteilung und Verschränkung

Allerdings sind auch die Kompetenzen des Bundes in mancher Hinsicht eingeschränkt, sowohl – wenn man so will – „von oben“ als auch „nach unten“. Hier sind die Europäische Union (EU) und die Bundesländer von erheblicher Bedeutung. Zum einen existiert zwischen den Ebenen „EU“, „Bund“ und „Länder“ eine Arbeitsteilung, also eine Aufteilung von Zuständigkeiten für bestimmte Teilgebiete der Gesundheitspolitik. Zum anderen sind die einzelnen Ebenen aber auch nicht strikt voneinander getrennt, sondern es existiert ein komplexes System vertikal kommunizierender Röhren, über das sich die einzelnen Ebenen bei gesundheitspolitischen Entscheidungen wechselseitig beeinflussen. So sind die Länder über den Bundesrat oft an der gesundheitspolitischen Gesetzgebung des Bundes beteiligt, ebenso der Bund über den Ministerrat an Entscheidungen der EU. Zudem sind die Akteure auf den einzelnen Handlungsebenen an die Regeln der jeweils übergeordneten Ebene gebunden und dürfen den dadurch gesetzten Handlungsrahmen nicht überschreiten.  

Kompetenzverteilung zwischen EU und Mitgliedstaaten

Die EU ist primär ein ökonomisches Projekt: Im Mittelpunkt steht die Schaffung eines gemeinsamen Marktes, also der freie Verkehr von Waren, Dienstleistungen, Personen und Kapital („vier Freiheiten“). Die politische Gestaltung von Gemeinsamkeiten hinkt der ökonomischen Integration hinterher, gerade auf dem Gebiet der Sozialpolitik. Dies zeigt sich auch in der Gesundheitspolitik. Direkte Rechtsetzungskompetenzen der EU konzentrieren sich weitgehend auf ausgewählte Felder der Präventionspolitik. Von besonderer Bedeutung sind hier der Gesundheitsschutz in der Arbeitsumwelt (Art. 153 Abs. 1 u. 2 AEUV) und der gesundheitliche Verbraucherschutz zu nennen (Art. 169 AEUV). Hier setzt die EU in Richtlinien supranationale Mindeststandards fest, die von den Mitgliedstaaten nicht unterschritten werden dürfen. In der Krankenversorgungspolitik sind die direkten Kompetenzen der EU hingegen schwach.

Der „Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ (AEUV) bestimmt, dass „die Tätigkeit der Union (…) auf die Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung, die Verhütung von Humankrankheiten und die Beseitigung von Ursachen für die Gefährdung der körperlichen und geistigen Gesundheit gerichtet“ ist (Art. 168 Abs. 1 AEUV). Des Weiteren weist der AEUV der Gemeinschaft grundsätzlich die Aufgabe zu, „bei der Festlegung und Durchführung aller Unionspolitiken und -maßnahmen […] ein hohes Gesundheitsschutzniveau“ sicherzustellen (Art. 168 Abs. 1 AEUV). Art. 168 AEUV, der die Zuständigkeiten in der Gesundheitspolitik regelt, listet eine Reihe kleinerer Handlungsfelder auf, auf denen die EU tätig werden kann, zum Beispiel bei der Bekämpfung weit verbreiteter Erkrankungen oder bei der Kooperation bei der Abstimmung der Gesundheitsversorgung in grenznahen Regionen. Art. 168 AEUV nennt nur wenige eng umgrenzte Bereiche, auf denen die EU über eine eigenständige Rechtsetzungsbefugnis verfügt.  

Aus den erwähnten Zuständigkeiten für den Gesundheitsschutz erwächst für die EU aber keine Kompetenz für die Organisation und Finanzierung der gesundheitlichen Versorgung – weder im Bereich der Prävention noch im Bereich der Krankenversorgung. Vielmehr sieht der AEUV ausdrücklich vor, dass „bei der Tätigkeit der Union (…) die Verantwortung der Mitgliedstaaten für die Festlegung ihrer Gesundheitspolitik sowie für die Organisation des Gesundheitswesens und die medizinische Versorgung gewahrt (wird). Die Verantwortung der Mitgliedstaaten umfasst die Verwaltung des Gesundheitswesens und der medizinischen Versorgung sowie die Zuweisung der dafür bereitgestellten Mittel“ (Art. 168 Abs. 7 AEUV). Dies betrifft beispielsweise die Organisation von Prävention und Krankenversorgung, die Arbeitsteilung zwischen den Gesundheitsberufen, die Finanzierung von und den Zugang zu Leistungen oder die Kompetenzverteilung bei der Steuerung der Gesundheitssysteme. Die Kompetenz zur Gestaltung des Gesundheitssystems liegt damit nach wie vor bei den Mitgliedstaaten. Ferner beschränkt Art. 168 AEUV die Rolle der EU in der Gesundheitspolitik, die Politik der Mitgliedstaaten zu ergänzen (Art. 168 Abs. 1 AEUV) sowie ihre Zusammenarbeit zu fördern und die Tätigkeit der Mitgliedstaaten, falls erforderlich, zu unterstützen (Art. 168 Abs. 2 AEUV). Dabei hat diese ergänzende, koordinierende oder unterstützende Tätigkeit der EU „unter Ausschluss jeglicher Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten“ (Art. 168 Abs. 5 AEUV) zu erfolgen. Die Mitgliedstaaten behalten also ihre primäre Zuständigkeit und Verantwortung auf diesen Feldern. Zudem gilt für alle Gemeinschaftsaktivitäten das Subsidiaritätsprinzip. Die EU darf also nur dann (und insoweit) tätig werden, wenn (bzw. solange) eine Problemlösung auf supranationaler Ebene besser als auf nationaler Ebene zu erreichen ist (s. o.). Dies betrifft auch jene Felder, auf denen sie über explizite Kompetenzen verfügt.

EU-Einfluss

Dennoch übt die EU einen erheblichen Einfluss auf die Gesundheitspolitik aus. Dies geschieht auf unterschiedlichen Wegen. Von besonderer Bedeutung sind die Grundsätze des gemeinsamen Binnenmarktes, also die „vier Freiheiten“, und die Bestimmungen des europäischen Wettbewerbsrechts. So entscheidet die Europäische Kommission auf der Grundlage eines Votums der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) über die europaweite Zulassung von Arzneimitteln, die mittlerweile bedeutsamer ist als die allein nationalstaatliche Zulassung, die in Deutschland über das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erfolgt. Des Weiteren regeln Richtlinien die europaweite Anerkennung von Gesundheitsberufen durch die Mitgliedstaaten, zum Beispiel von Ärzten und Pflegekräften. Wer diese Mindeststandards erfüllt, darf also in der gesamten EU berufstätig sein. Freilich fällt die Zulassung beispielsweise von Ärzten zur Versorgung im Rahmen der Krankenversicherung bzw. des nationalen Gesundheitsdienstes in die Kompetenz der Mitgliedstaaten.  

Beispiel Patientenmobilität

Von besonderer Bedeutung sind die Bestimmungen zur Patientenmobilität in der EU. Die Regeln des Binnenmarktes beinhalten das Recht zur grenzüberschreitenden Inanspruchnahme von Leistungen. Hierzu ist 2013 eine EU-Richtlinie in Kraft getreten, die von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden muss. So haben Patienten einen Anspruch auf die Übernahme der Kosten von im EU-Ausland erbrachten Gesundheitsleistungen durch den Finanzierungsträger des Versicherungsstaats. Im Hinblick auf den Zugang gelten die Leistungsansprüche im Versicherungsstaat. Die Erstattung muss maximal in Höhe der Kosten erfolgen, die bei einer Behandlung im Inland entstanden wären. Die Kostenträger müssen die Kosten also übernehmen, obwohl sie mit dem ausländischen Leistungserbringer keinen Versorgungsvertrag haben. In der ambulanten Versorgung gilt das Recht auf Auslandsbehandlung ohne vorherige Bewilligung durch den Kostenträger. In der stationären Versorgung ist eine solche Vorabgenehmigung erforderlich, sie darf aber auch nicht willkürlich versagt werden. Die Richtlinie zur Patientenmobilität wurde auf der Grundlage der EU-Zuständigkeit für den Binnenmarkt erlassen, nicht aufgrund von Regelungskompetenzen in der Gesundheitspolitik. Daran wir deutlich, dass die Binnenmarktregeln durchaus starke Rückwirkungen auf das Gesundheitssystem haben können. Zum freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen soll auch das europäische Vergaberecht beitragen. Es umfasst Regeln und Vorschriften, die öffentliche Auftraggeber, also auch Krankenkassen, bei der Vergabe von Aufträgen zu beachten haben. Das europäische Vergaberecht soll die Vergabepraxis vereinheitlichen und die Diskriminierung beispielsweise ausländischer Bieter verhindern. Es definiert auch einen alle zwei Jahre anzupassenden Schwellenwert für die Auftragshöhe, ab dem das Vergaberecht gilt.  

Bund und Länder

Vielfältige vertikale Politikverflechtungen existieren auch im Verhältnis von Bund und Ländern, zu denen verfassungsrechtlich die Kommunen zählen. Das Recht der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) wird weitgehend vom Bund definiert. Allerdings haben die Länder über den Bundesrat erhebliche Mitgestaltungsrechte, insbesondere wenn durch die Gesetzesausführung die Verwaltungen der Länder betroffen sind. Dies hat in der Gesundheitspolitik zum Teil tiefe Spuren hinterlassen, wie sich zum Beispiel am Gesundheitsstrukturgesetz (1992) und am GKV-Modernisierungsgesetz (2004) ablesen lässt. Darüber hinaus verfügen die Länder über wichtige Kompetenzen in der Gesundheitspolitik, vor allem die Sicherstellung der Krankenhausversorgung und die Regelungen zum öffentlichen Gesundheitsdienst. Die Zuständigkeit für die Krankenhausplanung und die Krankenhausinvestitionen sichert den Ländern einen erheblichen Einfluss auf die Wohnortnähe und die Qualität der Krankenhausversorgung. In eigenen Gesetzen zum öffentlichen Gesundheitsdienst legen sie Ziele und Instrumente in der Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung fest. Mit dem Präventionsgesetz verstärken sich die Politikverflechtungen zwischen den Krankenkassen einerseits sowie Ländern und Kommunen andererseits.

In Deutschland ist der Bund die bedeutendste Handlungsebene der Gesundheitspolitik. Daneben spielen aber auch die EU und die Bundesländer einschließlich der Kommunen eine erhebliche Rolle. Zum einen existiert zwischen den Handlungsebenen eine Arbeitsteilung, zum anderen sind diese Handlungsebenen auf vielfältige Weise vertikal miteinander verflochten. Hinzu kommt, dass jede von ihnen wiederum Einflüssen anderer Akteure ausgesetzt ist. Dazu zählen die Kostenträger und die Leistungserbringer und ihre Verbände, aber auch Arbeitgeberverbände, Gewerkschaften und Sozialverbände. 

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