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Debatte Kommentar zur Sozialpolitik

Trotz Schmarotzern brauchen wir das Bürgergeld

Die Sozialpolitik hat sich von einer Minderheit von Leistungsverweigerern und Schmarotzern die Gestaltungsfreiheit nehmen lassen. Wollen wir uns hier nicht zum Zwangsstaat entwickeln, führt kein Weg am bedingungslosen Bürgergeld vorbei. Denn Trittbrettfahrer wird es in jedem Sozialsystem geben.

Hartz IV ist gescheitert. Das Konzept „Fördern und Fordern“ hat versagt. „Die Unzufriedenheit über das System der Sozialstaatsbürokratie ist groß.“ Darüber herrscht durchaus Einigkeit in weiten Teilen der deutschen Politik. Bezüglich der Folgerungen hingegen tobt ein Streit. Sollen die Regelsätze gekürzt werden, um den Abstand zwischen einem Leben mit oder ohne Arbeit zu vergrößern? Bedarf es einer Arbeitspflicht für Hartz-IV-Empfänger als „Element der Abschreckung“ oder gar der Zwangsarbeit?

Sollen Arbeitslose dazu gezwungen werden, im Stadtpark Müll zu sammeln, Fußgängerzonen zu kehren und im Altenheim auszuhelfen, selbst auf die Gefahr hin, dadurch mit vielen wunderbar funktionierenden Angeboten privater Dienstleister zu konkurrieren? Die Vorschläge werden skurriler, die Forderungen schärfer. Bundespräsident Köhler soll gar ein Machtwort sprechen.

Braucht es das wirklich? Nein! Denn bei aller Dissonanz gibt es mehr Gemeinsamkeiten als gemeinhin vermutet. Das gilt ganz besonders für die bürgerliche Regierungskoalition. Es gibt eine gemeinsame Basis. Sie ist breiter als vorschnell vermutet wird.

Grundlegende Reform des Sozialstaates nötig

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Sowohl Union wie Liberale wissen, dass es nicht um eine Kosmetik, sondern um eine grundlegende Reform des Sozialstaates gehen muss. Deshalb hat die FDP das Konzept des liberalen Bürgergeldes entwickelt. Deshalb gibt es in der CDU die Althaus-Kommission, die ein Solidarisches Bürgergeld diskutiert. Deshalb findet sich im gemeinsamen Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP vom 26.10.2009 die Absichtserklärung: „Die Koalition nimmt sich vor, die vielfältigen und kaum noch überschaubaren steuerfinanzierten Sozialleistungen darauf hin zu überprüfen, ob und in welchem Umfang eine Zusammenfassung möglich ist.

In diese Prüfung wird auch das Konzept eines bedarfsorientierten Bürgergeldes einbezogen.“ Alle Beteiligten wollen einen Sozialstaat, in dem „das Nettoeinkommen bei Aufnahme einer Beschäftigung immer höher ist als der alleinige Transferbezug. Das Bürgergeld sorgt für ein Mindesteinkommen, das Beschäftigung fördert und Arbeitseinkommen nicht benachteiligt.“ Union und FDP sind sich auch bewusst, dass ein Bürgergeld Armut besser verhindert als staatlich verordnete Mindestlöhne.

Bei der Umsetzung der Koalitionsabsicht in die Praxis hapert es. Dabei ist es nicht viel und nicht wirklich etwas unüberwindbar Grundsätzliches, das die Koalitionspartner bei der Suche nach einem neuen, nachhaltigen und ganzheitlichen Sozialsystem trennt. Zunächst gilt es, einen großen Trugschluss zu bereinigen, der zu unnötigen politischen Reibereien führt.

Das Bürgergeld führt nicht notgedrungen zu einem Schlaraffenland

Das Bürgergeld führt nicht notgedrungen zu einem Schlaraffenland, in dem die Masse der Deutschen mit Nichtstun ihr Leben verbringen würde, auf Kosten einer kleinen Minderheit, die das Ganze zu finanzieren hat. Das ist zwar eine verlockende, aber gänzlich irreführende Illusion. Das Gegenteil ist der Fall: Genauso wie heute bliebe der überragende Teil der deutschen Wohnbevölkerung netto Steuerzahler. Entscheidend ist nicht das Brutto-, sondern das Nettoergebnis von Steuern und Transfers.

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Anders formuliert: Gutverdienende und Vermögende zahlen auch bei einem Bürgergeld netto immer noch mehr in die Staatskassen als alle anderen. Sie müssen nämlich eine höhere Bruttobesteuerung ihrer Einkommen in Kauf nehmen. Im Gegenzug erhalten sie eine Entlastung durch das auch ihnen ausbezahlte Bürgergeld. In der Summe ergibt sich eine progressive Nettobesteuerung, also genau das, was aus Gerechtigkeitsgründen von allen und insbesondere auch den Sozialdemokraten gefordert wird.

Damit wird deutlich, wo der eigentliche Knackpunkt liegt. Die entscheidenden und wohl die Koalition (noch) trennenden Fragen sind: erstens: Soll das Bürgergeld ohne Bedingung an alle bezahlt werden, und, wenn nein, welche Bedingungen sind zu erfüllen? Und zweitens, wie hoch soll das Bürgergeld sein? Beide Fragen lassen mehr Kompromisse zu, als wohl von den Beteiligten selber erwartet wird.

De facto gibt es die bedingungslos gewährte Armenhilfe

Die Frage der Bedingungslosigkeit eines Bürgergelds ist schlicht durch die Realität bereits beantwortet. De facto gibt es die bedingungslos gewährte Armenhilfe oder Fürsorge als elementare Hilfe für die Schwächsten nämlich schon lange. Ein bedingungslos gewährtes Bürgergeld macht hier nur explizit, was implizit ohnehin besteht. Eine aufgeklärte christliche Gesellschaft wird richtigerweise niemals zulassen, dass Menschen ohne Nahrung und Kleider, obdach- und würdelos dahinvegetieren.

Sie wird in jedem Fall in der einen oder anderen Weise einen Absturz ins Bodenlose zu verhindern suchen und ein wie auch immer geknüpftes Auffangnetz auslegen. Dass ein Sicherheitsnetz ohnehin besteht, ist die fundamentale Rechtfertigung für ein bedingungslos gewährtes Bürgergeld zur Sicherung des Existenzminimums.

Die entscheidende Frage ist dann natürlich, wie hoch das bedingungslos gewährte Bürgergeld sein soll. Hier wird man sich mit Sicherheit politisch streiten. Theoretisch ist die Ausgangslage einfach. Ein hohes Bürgergeld bedingt hohe Steuersätze, ein niedriges Bürgergeld ermöglicht tiefe Steuersätze. Hohes Bürgergeld und hohe Steuersätze verringern den Anreiz zu arbeiten, tiefes Bürgergeld und tiefe Steuersätze verstärken den Anreiz zu arbeiten. Je höher der Anreiz zu arbeiten, umso einfacher wird das Bürgergeld zu finanzieren sein, je geringer die Arbeitsanreize, umso weniger wird das Bürgergeld finanzierbar sein.

Natürlich wird es populistische Versprechungen geben

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Natürlich werden sich Parteien darin überbieten, das bedingungslose Bürgergeld zu erhöhen, gerade vor Wahlen. Das ist doch aber für eine gut funktionierende Demokratie nichts Neues. Sie muss auch heute schon mit populistischen Versprechungen und Verlockungen souverän umgehen, beispielsweise wenn es darum geht, im Bundestag das Existenzminimum zu definieren oder die Höhe der Sozialleistungen und Renten festzulegen.

Die Auseinandersetzung mit normativ völlig unterschiedlichen Standpunkten gehört nun einmal zu einer Demokratie. Hier hilft nicht Polemik, sondern Aufklärung. Es gilt, der Bevölkerung zu offenbaren, welche ökonomischen Folgen mit welcher politischen Wahlentscheidung verbunden sind.

Gerade aus direkt-demokratischen Entscheidungsprozessen, beispielsweise in der Schweiz, weiß man, dass sich Menschen von Populisten dann nicht verführen lassen, wenn ihnen klargemacht wird, dass mit steigenden Ansprüchen an den Staat auch die Steuern und Abgaben angehoben werden müssen und es unklug ist, den Bogen der Steuerbelastung so zu überspannen, dass er letztlich bricht. Wieso sollte es nicht auch in Deutschland möglich sein, der Bevölkerung diese einfache Logik zu vermitteln?

An der Stelle gilt es, schließlich noch ein anderes Argument gegen ein bedingungslos gewährtes Bürgergeld auf den Prüfstand zu stellen: Es ist die Sorge, dass dann viele Deutsche motivations- und antriebslos, Bier trinkend und Fast Food essend, vor der Glotze sinnentleert vor sich hin dümpeln. Sicher werden das einige tun, die das aber auch bei jedem anderen Sozialsystem machen würden.

Ist es aber auch der Maßstab für die Massen? Gerade die Westerwelle als Beispiel dienende Kellnerin mit zwei Kindern kann auch zu einer anderen, ebenso wichtigen Erkenntnis führen: Es gibt unendlich viele Menschen in Deutschland, die Tag für Tag zu minimalen Löhnen rund um die Uhr arbeiten, obwohl, „wer kellnert, verheiratet ist und zwei Kinder hat, im Schnitt 109 Euro weniger im Monat bekommt, als wenn er oder sie Hartz IV bezöge“.

Was lässt sich daraus erkennen? Dass ganz offensichtlich, und trotz aller ohne Anstrengung vom Staat erhältlicher Sozialleistungen, Millionen von Deutschen arbeiten gehen, sich einbringen wollen und eben gerade nicht den Weg des scheinbar geringsten Widerstandes einschlagen.

Noch ist – offensichtlich für viele verblüffend – das Arbeitsethos durchaus ausgeprägt in weiten Kreisen der Gesellschaft tief verankert. Neuere Erkenntnisse der sozialwissenschaftlichen Forschung – von der Glücksforschung bis zur Verhaltensforschung – bestätigen die Vermutung, dass der Mensch nicht ein notorischer Drückeberger ist, sondern sich immer in irgendeiner Form nützlich machen und das Gefühl der Selbstwirksamkeit und der Verpflichtung erfahren will. Natürlich gibt es Ausnahmen. Sie werden jedoch in jedem gewählten Sozialstaatsmodell zu Problemfällen.

Nicht von Schwindlern das Diktat des Handelns aufzwängen lassen

Sozialpolitik darf sich nicht von den Arbeitsverweigerern, den Schwindlern und Betrügern das Diktat des Handelns aufzwängen lassen. Sie darf nicht darauf ausgerichtet sein, die Verweigerer zur Arbeit zu zwingen. Tut sie das, wird sie grandios scheitern. Denn die Verweigerer wird es immer geben.

Sozialpolitik darf sich nicht als Reaktion auf Missbrauch und Verweigerung zu einem Zwangsstaat entwickeln. Zwang kann doch keine Lösung sein – gerade auch nicht aus liberaler Sicht. Nein, Sozialpolitik muss sich an der Masse orientieren, an all jenen, die gerne arbeiten möchten, aber entweder nicht arbeiten können, oder die mit ihrem Arbeitseinkommen nicht genug verdienen, um in Würde und Anstand in Deutschland leben zu können.

Deshalb ist ein bedingungslos gewährtes Bürgergeld die bessere Alternative. Es ist ein zutiefst individualistisches Konzept. Bedingungslosigkeit bedeutet, auf jeglichen Paternalismus zu verzichten. Niemand überprüft, ob es gute oder schlechte Gründe für eine Unterstützung gibt. Unterstützt wird jeder Einzelne, unbesehen persönlicher Eigenschaften, unabhängig von Alter, Geschlecht, Familienstand, Beruf, Erwerb, Wohnsitz und Verhalten. Alle werden gleich und gleichermaßen behandelt. Das ist die wirklich liberale Antwort auf schwierige sozialpolitische Herausforderungen!

Der Autor ist Direktor des Hamburgischen Weltwirtschaftsinstituts (HWWI)

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