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Meinung „Schmonzes“

Das ganze Leid der Juden in einer Auflaufform

Chanukka – das jüdische Lichterfest. An ihm essen die Juden in aller Welt Sufganiot, Pfannkuchen ähnliche Krapfen Chanukka – das jüdische Lichterfest. An ihm essen die Juden in aller Welt Sufganiot, Pfannkuchen ähnliche Krapfen
Chanukka – das jüdische Lichterfest. An ihm essen die Juden in aller Welt Sufganiot, Pfannkuchen ähnliche Krapfen
Quelle: Washington Post/Getty Images
Egal, ob Sülze, Buchteln oder Spätzle. Speisen sind wie eine Zeitkapsel. Sie erzählen uns Geschichten. Und zu essen ist manchmal, als blättere man in Familienalben einer längst versunkenen Zeit.

Kürzlich fragte eine entfernte Cousine meiner Mutter aus den USA, ob irgendjemand in Florida ein Restaurant kenne, in dem man noch Sülze bekommt, so, wie man sie von früher von zu Hause kennt. Binnen kürzester Zeit entbrannte auf ihrem Facebook-Profil eine Welle der Wehmut. Dutzende ihrer Freunde plagten die gleichen Gelüste. Man bekam den Eindruck, sie wünschten sich allesamt zurück ins polnische Getto. Nur, um noch ein einziges Mal von der „Galerette“ ihrer jiddischen Großmütter zu kosten.

Die Einzige von ihnen, die das Rezept noch kannte, war meine Mutter. Sie wurde zur Hüterin des heiligen Grals der Kalbsfußsülze. Jedoch immer wenn die graubraune Masse bei uns auf den Tisch kommt, habe ich das Gefühl, die gesamte Leidensgeschichte der polnischen Juden würde in eine Auflaufform gepresst.

So ähnlich, erzählte mir Margot Friedlander, geht es ihr beim Anblick von Buchteln. Die erinnern an ihre Zeit im Lager. Trotzdem liebt sie die Germknödel: „In Theresienstadt waren sie grau und zäh. Doch es war das Allerbeste, was wir dort bekommen konnten.“ Ein Rezept für asiatisches Huhn erinnert mich daran, wie mein Onkel in den Tagen nach dem Tod meines Vater versuchte, für uns zu kochen. Dabei griff er ohne Topflappen nach einer Schüssel mit Kartoffeln im Backofen und schmiss selbige auf den Fußboden, weil er sich die Finger verbrannte.

Pfannkuchen und Eierspätzle

Es gibt aber auch schöne Erinnerungen, wie jene an die Eierspätzle meiner Nenntante Gisela. Immer wenn ich ihre Nudelpresse aus dem Schrank hole, den zähen, klebrigen Teig aus Mehl und Eiern ins sprudelnde Salzwasser drücke und anschließend ein Berg frischer Spätzle mit gebräunten Semmelbröseln dampfend vor mir steht, sitze ich in Gedanken wieder bei ihr am Küchentisch. So hat jedes Gericht seine Geschichte. Es ist beim Essen, als blättere man in alten Tagebüchern.

Ohnehin scheint es etwas sehr Jüdisches zu sein, Speisen mit der Erinnerung zu verknüpfen. Wir backen noch heute das gleiche Brot, das bereits unsere Vorfahren beim Auszug aus Ägypten aßen. Selbst Jesus knabberte daran. Und in den vergangenen Tagen erinnerten Juden auf der ganzen Welt mit Berliner Pfannkuchen und Kartoffelpuffern an das Ölwunder von Chanukka vor fast 2000 Jahren. Meine Mutter war entsetzt, als sie erfuhr, dass es auf meiner Chanukkaparty lediglich Erbsensuppe gab. Ich erklärte ihr, sie müsse sich nicht aufregen, der Eintopf erinnere mich an sie.

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