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Warum sagen Börsenmakler so häufig "fuck"?

Freier Korrespondent
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Würde die Börse morgen geschlossen, würden die Börsenmakler ihre Geschäfte über Skype abwickeln
Quelle: picture alliance / landov/landov
Alle schimpfen auf die Börse, den Dollar und die gierigen Makler, die stets fluchen. Doch was würde passieren, wenn die Wall Street morgen geschlossen würde?

Die New Yorker Börse wurde am 17. Mai 1792 gegründet, als sich 24 Börsenmakler unter einer Platane in der Wall Street trafen und eine Abmachung unterzeichneten. Heute ist der New York Stock Exchange, kurz NYSE genannt, die größte Börse der Welt.

Jeden Morgen gleich nach dem Aufstehen sehen wir die Bilder aus der Wall Street im Fernsehen: Herren mittleren Alters, die auf dem Parkett herumstehen, von Monitoren irgendwelchen Kauderwelsch in Zahlen ablesen, Zeug auf Zettel notieren und sich mitunter so benehmen, dass man die Pfleger mit den Zwangsjacken herbeirufen möchte.

Das Erstaunlichste an der Börse in der Wall Street ist jedoch, dass sie immer noch akkurat so funktioniert wie damals, als sich jene 24 Makler unter der Platane versammelten. Trotz Computertechnologie – im Kern handelt es sich um eine recht altertümliche Veranstaltung. Zwei Leute treffen sich. Einer sagt in einem Jargon, den nur Eingeweihte verstehen: "Ich verkaufe." Der andere antwortet: "Ich kaufe." Beide halten das Geschäft mit Bleistift fest. Das war alles, das war es schon.

Hässliche Jackets und Müll auf dem Fußboden

Als ich zum ersten Mal die Börse in der Wall Street besuchte, beeindruckten mich folgende Dinge (ungefähr in dieser Reihenfolge): die unglaublich hässlichen Jacketts der Börsenmakler, der Müll auf dem Fußboden – vor allem zusammengeknüllte Zettel und Tetrapacks – und die häufige Verwendung des Wortes "fuck".

Von dieser Vokabel abgesehen verstand ich eigentlich nur Bahnhof. Es ist immer sehr lehrreich, wenn man sich als gebildeter Mitteleuropäer in einer solchen Situation wiederfindet; man wird plötzlich auf das Wesentliche zurückgeworfen.

Für Meinungen über Aktien gibt es eine Maßeinheit: Dollar

Darum stellen wir uns einmal ganz dumm und fragen: Was ist eine Börse überhaupt? So etwas wie ein großes Meinungsforschungsinstitut. Unaufhörlich werden dort Meinungen ermittelt, und zwar über immaterielle Objekte, die man "Aktien" nennt. (Eine Aktie ist eine Firma, die der Einfachheit halber in kleine Stücke zerschnippelt wurde.)

Für die Meinungen über die Aktien gibt es eine exakte Maßeinheit; sie heißt Dollar. Da die Meinungen über die Aktien sich ständig ändern, sind sie im selben Moment, da sie geäußert werden, auch schon falsch. Deswegen sagen die Leute so häufig "fuck".

Die Geschäfte werden, wie gesagt, von Maklern abgewickelt – in der Wall Street gibt es drei Sorten davon: "floor brokers", "competitive traders" und "two dollar brokers". Die einen sind fest bei einer Firma angestellt, die anderen arbeiten freiberuflich, die dritten bekommen eine Kommission.

Und wir müssen sie uns alle zusammen als glückliche Menschen vorstellen. Mir jedenfalls haben jene Börsemakler, mit denen ich im Gewusel drei Worte wechseln konnte, versichert, dass sie enormen Spaß an der Sache hätten. "Fuck, fuck, fuck."

Eine Milliarde Regeln bestimmenm wie gehandelt wird

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Es ist verständlich, wenn einem im Gewusel in der Wall Street gleich zwei Vorurteile auf einmal durch den Kopf rauschen. Erstens: unregulierte Finanzmärkte, zweitens: Turbokapitalismus. Das eine ist schlicht falsch, das andere hat schon immer gestimmt.

Damit ein Unternehmen in Amerika auch nur eine einzige Aktie auf den Markt werfen kann, muss es in einem Formular seine Finanzgeheimnisse offenlegen; dazu gibt es ein Gesetz aus dem Jahr 1933, das 80 Seiten lang ist und dann noch 400 zusätzliche Seiten voller Regularien umfasst.

Damit die Aktie auf einem der Monitore an der Wall Street aufblinkt, müssen weitere börseninterne Regeln über ihre Größe, ihren Wert und ihre Bonität beachtet werden. Und ungefähr eine Milliarde weiterer Regeln bestimmt, wie das Teil ge- und verkauft werden kann.

Die erste Finanzblase platzte schon 1637

Ach, und der Turbokapitalismus, über den heute geklagt wird, tobte in Wahrheit schon 1636. Damals fanden die Niederländer Tulpen sehr schick. Es wurden Tulpenzwiebelverträge für ein Vermögen abgeschlossen. Der Preis kletterte und kletterte.

Am 3.Februar 1637 aber scheint irgendjemandem aufgefallen zu sein, dass Tulpen zwar nett aussehen, aber für wenig zu gebrauchen sind: Die Preise brachen schlagartig ein (um 95 Prozent!), die Spekulanten schrien Mordio. Es war die erste dokumentierte Finanzblase der Wirtschaftsgeschichte, die da platzte.

Der einzige Unterschied zu heute besteht im Grunde darin, dass die niederländische Regierung hinterher keine gigantischen Staatsschulden aufnahm und die wertlosen Zwiebeln aufkaufte, um die zusammenbrechenden Märkte zu retten.

Was würde passieren, wenn die Börse geschlossen würde?

Ich fragte verschiedene Börsenmakler, ob sie nicht fänden, dass die Führungskräfte der Wirtschaft sich heute obszöne Boni genehmigen. Die Antworten lauteten alle ähnlich: "Viel zu hoch, nicht zu rechtfertigen." Meine nächste Frage war, welche Dienstleistung Wall Street denn für die Öffentlichkeit erbringt. Die Antwort war immer dasselbe Wort: "Liquidität."

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Hier ist, was unsere Freunde von Wikipedia uns als Definition anbieten: "Der Begriff Liquidität (von lateinisch liquidus, "flüssig") bezeichnet in seiner allgemeinen Bedeutung die Fähigkeit, im Markt ein Wirtschaftsgut schnell gegen ein anderes zu tauschen."

Was würde passieren, wenn die Börse an der Wall Street morgen oder in drei Tagen geschlossen würde? Es gäbe danach immer noch Firmen, es gäbe immer noch Aktien; die Akteure des Wirtschaftslebens hätten immer noch das Bedürfnis, schnell miteinander ins Geschäft zu kommen.

Sie würde sich auf einer abstrakteren Ebene neu formieren

Vielleicht würde sich die Sache ins Internet verlagern: Die Börsenmakler würden also nicht mehr persönlich miteinander reden, sondern skypen. Da die Regularien über Nacht wegbrechen würden, gäbe es vielleicht eine Phase der Anarchie – also des echten und nicht nur eingebildeten Raubtierkapitalismus. Aber nach und nach würden die Regeln sich dann wie von selbst wieder einschleichen.

Denn allzu viel Betrug kann sich der Kapitalismus auf lange Sicht nicht leisten – er ist schlecht fürs Geschäft. Mit anderen Worten: Wenn die Börse geschlossen würde, wäre dies nicht ihr Ende; sie würde sich nur auf einer abstrakteren Ebene neu formieren.

Denkbar aber auch, dass uns das ganze Gefeilsche irgendwann dermaßen auf die Nerven ginge, dass wir den freien Handel mit Aktien ganz verbieten. Von nun an setzt ein Rat der Weisen – bestehend aus Helmut Schmidt, Peter Scholl-Latour, Hans-Olaf Henkel und Gertrud Höhler – von Stunde zu Stunde sämtliche Preise fest. Das würde bestimmt ganz prima funktionieren. Nähere Auskünfte über jene Wirtschaftsform werden vom ZK der Kommunistischen Partei in Nordkorea erteilt.

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