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Meinung Israel-Kritik

Viele sind antisemitisch und merken es nicht

Freier Autor
Menschen nehmen am 02.07.2016 auf dem Kurfürstendamm in Berlin an einer Demonstration arabischer Gruppen zum Al-Kuds-Tag teil, der sich gegen die Existenz Israels richtet. Foto: Wolfgang Kumm/dpa | Verwendung weltweit Menschen nehmen am 02.07.2016 auf dem Kurfürstendamm in Berlin an einer Demonstration arabischer Gruppen zum Al-Kuds-Tag teil, der sich gegen die Existenz Israels richtet. Foto: Wolfgang Kumm/dpa | Verwendung weltweit
Zu den Bestandteilen des Antisemitismus gehört der Vorwurf, Israel sei ein "Apartheid-Staat". Gesehen auf einer pro-palästinensischen Demonstration in Berlin am 2.7.2017
Quelle: picture alliance / dpa
Hierzulande gibt es bekanntlich keine Antisemiten. Besonders die Linke brüstet sich damit, Israel moralisch den Weg zeigen zu wollen und vergreift sich im Ton. Was man dagegen tun könnte.

Als eine Berliner Schule in die Kritik geriet, weil ein jüdischer Junge über Monate hinweg von muslimischen Mitschülern gequält wurde, während Lehrer und Erzieher wegsahen, beschwerten sich Eltern und Schulleitung, der Ruf ihrer „Schule ohne Rassismus, Schule mit Courage“ werde durch die Kritik ruiniert.

Wohlgemerkt: nicht durch den Vorfall selbst. Als die ARD einen Film ausstrahlte, der sich mit antiisraelischen Bewegungen in Europa beschäftigte, durfte er nur gezeigt werden zusammen mit einem „Faktencheck“, in dem die Aussagen des Films relativiert wurden.

Kürzlich erschien in der FAZ ein Artikel über „die Angst vor dem A-Wort“. Darin hieß es: „Nichts müssen Amtsträger in Deutschland so sehr fürchten wie das A-Wort.“ Erstaunlich. Man könnte meinen, Amtsträger müssten mehr Angst haben vor Haushaltslücken oder Verschwendungsvorwürfen etwa, von Terror und Rechtsradikalismus einmal zu schweigen. Aber nein. Sie haben Angst vor den „Lobbyisten Israels“, wie es in der FAZ hieß.

Die FAZ schreibt vom „A-Wort“

Dass mit dem Schreckgespenst einer mächtigen jüdischen Lobby – von der „arabischen Lobby“ spricht niemand, wenn es um Palästina geht – ebenfalls antisemitische Vorurteile bedient werden, scheint nicht klar zu sein. Menschen, die solche Dinge von sich geben, sind nämlich ehrlich überzeugt, keine Antisemiten zu sein.

Selbstverständlich verabscheuen sie jeden Rassismus. Über die „Stürmer“-Karikaturen des geldgierigen und geilen Juden erschauern auch sie. Der Gedanke an den Holocaust lässt auch sie schlecht schlafen.

Sie haben jüdische Freunde, bewundern Moses Mendelssohn und Heinrich Heine, Hannah Arendt, Susan Sontag, Bob Dylan und Amy Winehouse. Und das ist ein großer Fortschritt.

Natürlich darf man Israel kritisieren

Dieselben Leute sind aber in der Lage zu behaupten, Israel behandele die Palästinenser so, wie die Nazis die Juden behandelten; der jüdische Staat sei ein Apartheidstaat; er handele – im Gegensatz zu anderen Staaten anscheinend – nach dem „alttestamentarischen Prinzip Auge um Auge, Zahn um Zahn“.

Israel hintertreibe eine Lösung des „Nahostkonflikts“ – als wäre die lokale Auseinandersetzung zwischen Arabern und Juden der einzige oder auch nur der wichtigste Konflikt im Nahen Osten – und sorge eben mit der „Holocaust-Keule“ und der Unterstellung des Antisemitismus dafür, dass man „Israel nicht kritisieren darf“.

Der meist von links erhobene Vorwurf einer jüdischen Zensur der „Israelkritik“ ist etwa so zutreffend wie der Vorwurf von rechts, man dürfe Angela Merkels Flüchtlingspolitik, den Islam oder den Euro nicht kritisieren, sogar noch weniger zutreffend. Er hält sich aber genauso hartnäckig.

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Etwa zur gleichen Zeit, als die rechtsliberale FAZ zitternd vor Kühnheit die „Angst vor dem A-Wort“ beschwor, kritisierten zwei Israelis in der linksliberalen „Zeit“ die Verbindung von Antisemitismus und Israelkritik .

Israel-Kritik als eigenes Genre

Einer der Autoren ist Schimon Stein, der als ehemaliger Botschafter Israels in Deutschland zu Recht große Autorität genießt. „Israelkritik ist nicht per se Antisemitismus“ titelte die „Zeit“. O doch. Israel ist das einzige Land, das eine „Kritik“ sozusagen als eigenes Genre hat, wie die Religionskritik oder Kapitalismuskritik, die ja beide auf die Abschaffung ihres Gegenstands zielen.

Es gibt keine „Deutschlandkritik“, „Syrienkritik“ oder „Südafrikakritik“. Wenn Schimon Stein und sein Co-Autor Moshe Zimmermann behaupten, „die Bezeichnung ‚antisemitische Israelkritik‘ sei „höchst problematisch“, dann scheint der Ex-Botschafter vergessen zu haben, wie er fast verzweifelte an der antisemitischen Israelkritik, auch übrigens von Juden.

„Man muss mit der Definition von Antisemitismus sehr genau umgehen“, schreiben Stein und Zimmermann. Da haben sie recht. „Historiker und Antisemitismusexperten, die sich bislang nicht zu Wort gemeldet haben, könnten dabei zur Aufklärung der Öffentlichkeit beitragen.“

Wie bitte? Seit 2004 liegt eine von Historikern und Antisemitismusexperten zusammen mit NGOs erarbeitete Arbeitsdefinition des Antisemitismus vor. Entwickelt wurde sie im Auftrag der Vorgängerorganisation der Europäischen Agentur für Menschenrechte – nicht von den „Lobbyisten Israels“.

Die Arbeitsdefinition für Antisemitismus

Diese Definition ist inzwischen von vielen Organisationen übernommen worden, darunter das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die International Holocaust Remembrance Alliance und – seit Juni dieses Jahres – das Europäische Parlament, das allen Ländern der Europäischen Union empfiehlt, diese Definition zu übernehmen. Leider sind Bundesregierung und Bundestag dieser Aufforderung bisher nicht nachgekommen.

Zu den in dieser Arbeitsdefinition genannten Beispielen für Antisemitismus gehören: „Anschuldigungen gegen die Juden als Volk oder Israel als Staat, sie erfänden den Holocaust oder übertrieben ihn. Anschuldigungen gegen jüdische Bürger, sie seien Israel oder den angeblichen Prioritäten der Juden weltweit gegenüber loyaler als ihren eigenen Ländern. Das Absprechen des Rechts auf Selbstbestimmung des jüdischen Volkes, beispielsweise durch die Aussage, die Existenz des Staates Israel sei ein rassistisches Projekt. Das Anwenden von doppelten Standards durch das Einfordern eines Verhaltens, wie es von keiner anderen demokratischen Nation erwartet oder gefordert wird. Die Verwendung von Symbolen und Bildern des klassischen Antisemitismus, um Israel oder Israelis zu charakterisieren. Vergleiche der heutigen israelischen Politik mit der der Nazis. Kollektive Verantwortlichmachung der Juden für die Handlungen des Staates Israel.“

Antisemitismus nicht nur ein rechtes Problem

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In weiten Teilen der Linken einschließlich der SPD und der Grünen, der kirchlichen „Solidaritätsbewegung“ mit den Palästinensern, von der antiisraelischen Boykottbewegung ganz zu schweigen, in der akademischen Welt, unter Erziehern und Lehrern und leider auch und gerade in großen Teilen der muslimischen Bevölkerung sind solche Ansichten gang und gäbe. „Dieser Feind steht rechts“, schreiben Stein und Zimmermann über den Antisemitismus. Gewiss. Und links. Und in der Mitte.

Das Problem ist das schrecklich gute Gewissen jener Linken, die glauben, qua politischer Standortbestimmung nicht antisemitisch sein zu können, und die darum umso sicherer unbewussten Vorurteilen erliegen. Und der Stolz der geläuterten Täter in der politischen Mitte, die ernsthaft glauben, „gerade wir Deutschen“ müssten Israel moralische Lehren erteilen.

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Hinzu kommt die Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung der muslimischen Zuwanderer als Opfer des Rassismus, die ja richtig ist. Bei den Israelis ist man aber schnell bei der Hand, vom angeblichen Rassismus der Opfer zu sprechen – warum ist der Rassismus der hiesigen Rassismus-Opfer nicht ebenso Thema?

Der Bundestag und der Antisemitismus

Man verlangt zwar von muslimischen Zuwanderern, als Neudeutsche Verantwortung für den Holocaust zu übernehmen; man weicht aber davor aus, ihnen eine Verantwortung für Israels Sicherheit abzuverlangen, obwohl die laut Angela Merkel „Teil der deutschen Staatsräson“ ist.

Die Arbeitsdefinition des Antisemitismus bietet Polizei, Verfassungsschutz und Justiz, Schulen und Universitäten sowie Medien klare Maßstäbe, um zu erkennen, wo die Kritik an israelischer Politik in antisemitische „Israelkritik“ umschlägt – wo „das A-Wort“ zu Recht, und wo es zu Unrecht angewendet wird.

Vor allem kann sie dazu beitragen, ein Problembewusstsein zu schaffen, das, wie die Mehrheit der hier lebenden Juden bestätigen kann, bisher genau dort fehlt, wo die Juden ihre natürlichen Verbündeten sehen: bei Liberalen und Linken. Bisher scheitert die Übernahme der Definition im Kabinett an kleinlichen Bedenken des Innenministeriums.

Im Bundestag, der es in wenigen Minuten schaffte, die Definition der Ehe zu ändern, scheinen die Regierungsparteien unwillig, das Kabinett mit einer Definition des Antisemitismus in Bedrängnis zu bringen. Das muss sich ändern.

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