Ausgerechnet am Rosenmontag. Zwar hat der Karneval im sächsischen Zwickau keine besonders starke Tradition. Aber dass es ausgerechnet am Rosenmontag 1960, dem 22. Februar, zur Katastrophe kam, fügte dem Unglück noch eine besonders zynische Facette hinzu.
In der Frühschicht waren 178 Bergleute in das Steinkohlebergwerk „Karl Marx“ eingefahren, das genau östlich der Zwickauer Altstadt zwischen Pöhlauer Bach und Zwickauer Mulde lag. Alles sah ganz normal aus an diesem Tag.
Allerdings nur bis 8.20 Uhr. Da erschütterte plötzlich eine schwere Explosion das gesamte Bergwerk. Die Detonationswelle fuhr durch die Abbaugänge und Schächte. Es war passiert, was Bergleute am meisten fürchten: In 1100 Meter Tiefe hatte der Kohlenstaub in der Luft, der beim Abbau unweigerlich entsteht, gezündet. Die Hitze setzte zudem noch weitere Kohleflöze in Brand, bis hinauf in eine Tiefe von 770 Metern.
Die Grubenwehr reagierte umgehend und kämpfte sich hinunter in die brennenden Teile des Bergwerkes. Sauerstoff gab es hier kaum noch. Nur mit Atemgeräten konnten die Männer in den Qualm, die Hitze, das Feuer vordringen. Angetrieben wurden sie von der vagen Hoffnung, eingeschlossene Kumpel noch lebend bergen zu können.
Die Einsätze der Zwickauer Grubenwehr, die rasch durch Kollegen aus anderen Bergwerken auch aus der damaligen Tschechoslowakei unterstützt wurden, retteten immerhin 40 Bergleute – sie konnten lebend aus der Tiefe an die Oberfläche geholt werden. Doch für 15 weitere kam jede Hilfe zu spät: Sie wurden tot geborgen. 123 Kumpel blieben vermisst.
Erst kurz nach 19 Uhr, fast elf Stunden nach der Explosion, gab ADN, die Nachrichtenagentur der DDR, das Unglück bekannt. Natürlich konnte so ein Großeinsatz weder verschwiegen noch bagatellisiert werden. Die SED-Bezirkszeitung von Chemnitz, die „Freie Presse“, rückte in ihrer Ausgabe Zwickau-Stadt einen schwarz umrandeten Kasten oben rechts auf die erste Seite ein. Auch westdeutsche Zeitungen berichteten über das Unglück, ebenso der DDR-Rundfunk.
„Als die Explosion erfolgte“, erzählte ein aus der Tiefe geretteter Steiger, „bin ich zehn Meter durch die Luft geflogen. Andere Kumpel wurden wie mit Raketen herumgeschleudert.“ Der Vorarbeiter gab seiner Kolonne Anweisungen, wie sie sich verhalten soll: „Weil Gott sei Dank keine Panik ausbrach, konnten wir kurze Zeit später gerettet werden.“
WELT-Chefredakteur Hans Zehrer kommentierte die Explosion: „Es ist ein nationales Unglück. Unsere Anteilnahme gilt den Männern dort unter Tage und ihren Angehörigen. Wir würden ja gern helfen. In solchen Fällen darf es keine Grenzen geben.“
Doch Otto Grotewohl, der – allerdings weitgehend machtlose – Ministerpräsident der DDR, lehnte das Hilfsangebot der erfahrenen und mit neuestem Gerät ausgerüsteten Grubenwehren aus dem Ruhrgebiet ab: „Eine solche scheinheilige Hilfe benötigen wir nicht.“
Die Zwickauer Grubenwehr, die nach der Rettung einiger weiterer Überlebender und mehrerer Leichen am Dienstag nun, am Mittwoch, keinerlei Hoffnung mehr hatte, entschloss sich, die brennenden Bereiche des Bergwerks zuzumauern. Sauerstoffabschluss war die einzige Möglichkeit, die Flammen zu ersticken.
Gleichzeitig begann die Ursachenforschung, die einerseits eine offizielle Kommission und andererseits natürlich die DDR-Staatssicherheit übernahm – die Geheimpolizei war die einzige Institution der DDR, der die SED-Spitze um Walter Ulbricht und Erich Honecker vertraute. Natürlich blieben die Ergebnisse der Stasi unter Verschluss.
Die offizielle Kommission kam zu dem vagen Schluss, sowohl technische Fehler als auch menschliches Versagen kämen als Ursachen für die Explosion infrage. Dafür hätte man kaum eine Kommission gebraucht, das wusste jeder erfahrene Bergmann auch so.
Weitere Details über das Grubenunglück wurden erst nach der Wiedervereinigung aus dem Stasi-Bericht bekannt. Zuerst hatte die SED-Geheimpolizei nach Beweisen für Sabotage aus dem Westen gesucht. Sie fand keine.
Jedoch wurde einer der beim Unglück umgekommenen Sprengmeister verantwortlich gemacht. Der Kohlenstaub- sei eine weitere Explosion vorausgegangen. Es gab auch die Spekulation, der verantwortliche Sprengmeister habe Suizid begehen wollen.
Erneute Untersuchungen diesmal aller verfügbaren Unterlagen seit 2004 ergaben ein anderes Ergebnis: Tatsächlich habe menschliches Versagen die Kohlenstaubexplosion ausgelöst, allerdings durch einen anderen Sprengmeister, denn der Ursprung der Katastrophe sei von der Stasi falsch verortet worden.
Erst ein gutes Jahr nach der Katastrophe konnten die vermauerten Stollen geöffnet und weitere knapp hundert Todesopfer geborgen werden. Sechs Leichen wurden nie gefunden; sie waren wahrscheinlich in eingestürzten Gängen verschüttet. Untersuchungen ergaben, dass 44 der Opfer von den Flammen gar nicht erreicht worden waren, sondern an Kohlenmonoxid erstickten. Insgesamt starben 123 Bergleute, der älteste 61 Jahre, der jüngste noch keine 17.
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