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Geschichte Impfungen und ihre Gegner

Mit den gefangenen Franzosen kam der Tod nach Deutschland

Nach ihren Siegen nahmen die deutschen Truppen 1870/71 Hunderttausende Franzosen gefangen. Da deren Impfschutz mangelhaft war, schleppten sie die Pocken ein. Obwohl eine Vakzination möglich war, formierte sich die Front der Impfgegner.
Freier Autor Geschichte
Kriegsgefangene Wahner Heide 1870/71 Deutsch-franzoesischer Krieg 1870/71: Franzoesische Kriegsgefangene in deutschen Kriegsgefangenenlagern. - Franzoesische Kriegsgefangene an der Kochstelle im Kriegsgefangenlager Wahner Heide bei Koeln. - Photographie, undat., handschriftl. bez.: "Bilder von der Wahner Haide". Berlin, Slg.Archiv f.Kunst & Geschichte. Kriegsgefangene Wahner Heide 1870/71 Deutsch-franzoesischer Krieg 1870/71: Franzoesische Kriegsgefangene in deutschen Kriegsgefangenenlagern. - Franzoesische Kriegsgefangene an der Kochstelle im Kriegsgefangenlager Wahner Heide bei Koeln. - Photographie, undat., handschriftl. bez.: "Bilder von der Wahner Haide". Berlin, Slg.Archiv f.Kunst & Geschichte.
Zehntausende Franzosen kampierten allein in dem Lager bei Köln
Quelle: picture-alliance / akg-images

Der Tod kam mit der Eisenbahn. Während die Armeen im Sommer 1870 die Entscheidung suchten, transportierte die Bahn Zehntausende Franzosen, die in den ersten Gefechten des Deutsch-Französischen Krieges in Gefangenschaft geraten waren, nach Deutschland. Kaum hatten die Soldaten Napoleons III. am 1. September bei Sedan ihre entscheidende Niederlage erlitten, kam 250 Kilometer entfernt der Tod über die Stadt Köln. Nicht in Form von Granaten, sondern von Orthopoxvirus variolae, den Pockenviren.

In der aktuellen Debatte über Sinn und Unsinn von Impfungen bietet die Pockenepidemie, die ab 1870 weite Teile Europas heimsuchte, ein erhellendes Exempel. Allein in Frankreich und Deutschland wurden bis 1873 300.000 Tote gezählt, auf dem Kontinent bis zu einer halben Million. Von hier gelangte die Seuche in die USA, nach Japan, Indien und Südamerika.

Wie unterschiedlich ihre Wurzeln waren und wie man ihrer schließlich Herr wurde, hat der Leiter des Kölner Stadtmuseums, Mario Kramp, jetzt in seinem neuen Buch ausgeführt, das die „vergessenen Gefangenen des Deutsch-Französischen Krieges“ in Köln zum Thema hat („1870/71. Franzosen in Köln“). Der großen Pockenepidemie ist darin ein eigenes Kapitel gewidmet, bietet sie doch ein mit Zahlen gut unterfüttertes Beispiel für die Wirkung von Vakzinen.

Der Fall der Pocken ist frappierend, denn sie waren die erste Krankheit, gegen die ein verlässlicher Impfschutz entwickelt worden war. In der frühen Neuzeit zählte die Seuche zu den ständigen Geißeln Europas. Der französische Philosoph Voltaire schätzte, dass etwa 60 Prozent seiner Zeitgenossen von der Krankheit befallen wurden. Etwa ein Drittel erlag ihr, von den Überlebenden waren viele für immer von den tiefen Narben gezeichnet, die die aufgebrochenen Pusteln hinterließen.

A vaccination against smallpox in the countryside, 1868. Private Collection. (Photo by Fine Art Images/Heritage Images/Getty Images) Getty ImagesGetty Images
Pockenschutzimpfung in den 1860er-Jahren
Quelle: Getty Images

Bereits im 18. Jahrhundert war aus dem Orient die Prävention der Inokulation übernommen worden. Dabei wurde mit einer Nadel „Pockeneiter“ in die Haut von Impfwilligen geritzt, die daraufhin nur kurz Krankheitssymptome zeigten und nach wenigen Tagen wieder gesund waren. Allerdings war dieses Verfahren nicht nur teuer, sondern auch gefährlich, kam es doch oft genug zu Pockenausbrüchen, wenn die Kranken nicht angemessen isoliert wurden.

Bis der britische Arzt Edward Jenner 1798 die Ergebnisse seiner bahnbrechenden Untersuchungen veröffentlichte. Er hatte nämlich erkannt, dass Menschen, die sich beizeiten mit den wesentlich harmloseren, von Cowpox virus hervorgerufenen Kuhpocken infiziert hatten, gegen seine tödlicheren Verwandten immun waren. Einer der ersten Politiker, die die Möglichkeiten dieser schlichten Impfung erkannten, war Napoleon Bonaparte. Die Vakzination bewahrte seine Soldaten erstaunlich sicher vor der Gefahr, den sogenannten Blattern zu erliegen, was von anderen Kriegsgefahren nicht gesagt werden konnte.

Während nach Napoleons Sturz seine Nachfolger die Sache schleifen ließen, übernahmen die Militärführungen in Deutschland das Verfahren. So hatten die meisten Truppen, die 1870 ins Feld zogen, eine zweimalige Impfung gegen die Pocken erhalten. In Frankreich wurde die Vakzination ab 1857 zwar wieder angeordnet, aber so lässig durchgeführt, dass 1869 von 115.876 Rekruten nur 57.720 eine Impfung erhielten, von jenen, die bei Kriegsausbruch eingezogen wurden, gar nicht zu reden. Die nötige Wiederholungsimpfung hatte nur ein Drittel erhalten.

Die Soldaten Napoleons III. kamen aus einer Bevölkerung, die höchst anfällig für die Seuche war. Émile Zola ließ im Rückblick seinen Roman „Nana“ mit einer markanten Szene enden: Die Titelheldin erliegt den Pocken, während auf den Straßen der Kriegsausbruch bejubelt wird.

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Doch der Jubel verwandelte sich schnell in Entsetzen. In den Grenzschlachten blieben die Deutschen siegreich. Von da an füllten sich ihre Kriegsgefangenenlager mit unerwarteter Geschwindigkeit. Bis Dezember 1870, nach Sedan und der Kapitulation der großen Festung Metz, wurden 330.000 französische Gefangene gezählt, im Februar 1871 waren es fast 400.000. Um sie unterzubringen, wurden sie mit der Bahn nach Deutschland transportiert.

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Die größten Lager entstanden in Mainz und Magdeburg mit je 25.000 Gefangenen. An sechster Stelle rangierte Köln, für das die Aufnahme von 17.550 Mann geplant war, das insgesamt aber rund 19.000 Soldaten und Unteroffiziere beherbergte; Offiziere wurden in besseren Quartieren untergebracht.

Kriegsgefangene Wahner Heide 1870/71 Deutsch-franzoesischer Krieg 1870/71: Franzoesische Kriegsgefangene in deutschen Kriegsgefangenenlagern. - Zelte mit Turkos und Zuaven im Kriegs- gefangenenlager Wahner Heide bei Koeln. - Photographie, undat. Berlin, Slg.Archiv f.Kunst & Geschichte.
Im September 1870 wurden die ersten Pockenfälle im Kölner Lager bekannt
Quelle: picture-alliance / akg-images

Der Kölner Arzt Carolus Waegener hat den Verlauf der Epidemie vom 1. September 1870 bis zum 12. September 1871 minutiös beschrieben. Danach erkrankten „in den hiesigen Militärlazarethen“ 271 Militärangehörige an den Pocken, von ihnen starben 30, was nach wenigen klingt, aber immerhin noch eine Todesrate von elf Prozent darstellt.

Die ersten Pockenkranken kamen am 1. September in Köln an, mit einem der zahlreichen Züge, deren Passagiere kaum untersucht wurden, bevor man sie in die zumeist offenen Waggons pferchte. Am 8. September wurde der erste Pockenausbruch im Lager erkannt. Nur vier Tage später erkrankte der erste Zivilist in Köln. Bald erreichte die Seuche Düsseldorf.

Kriegsgefangene Wahner Heide 1870/71 Deutsch-franzoesischer Krieg 1870/71: Franzoesische Kriegsgefangene in deutschen Kriegsgefangenenlagern. - Franzoesische Kriegsgefangene im Kriegsgefangenlager Wahner Heide bei Koeln spielen "Blinde Kuh". - Photographie, undat., handschriftl. bez.: "Bilder von der Wahner Haide". Berlin, Slg.Archiv f.Kunst & Geschichte.
Französische Kriegsgefangene beim "Blinde Kuh"-Spiel
Quelle: picture-alliance / akg-images

Im November schnellten die Zahlen dramatisch in die Höhe. Denn in Metz waren mit der Kapitulation des Marschalls François Bazaine schlagartig 150.000 Franzosen in Gefangenschaft gegangen, von denen zahlreiche bereits an den Pocken erkrankt waren. Die preußischen Behörden reagierten schnell. Die Impfung wurde für alle Lagerinsassen vorgeschrieben, Desinfektion und Hygiene wurden verbessert.

Dennoch grassierte die Krankheit unter den erschöpften und demoralisierten Insassen. Von den fast 400.000 Gefangenen infizierten sich 14.000, fast 2000 starben. Flüchtlinge und Rückkehrer verbreiteten die Seuche anschließend in Frankreich, wo bis Ende 1871 bereits 200.000 Tote gezählt wurden.

Gillray cartoon on vaccination against Smallpox using Cowpox serum, 1802. In 1796 the English physician Edward Jenner (1749-1823) proved efficacy of practice, but opposition continued for a while. (Photo by Ann Ronan Pictures/Print Collector/Getty Images)
"Verviehung droht": Anti-Impf-Karikatur
Quelle: Print Collector/Getty Images

Mit 2450 Erkrankten und 479 Toten kam die Stadt Köln noch einigermaßen glimpflich davon. Umgehend hatte die kommunale „Sanitäts-Commission“ angeboten, dass jeder Bewohner eine Impfung unentgeltlich „auf der hiesigen Impfanstalt“ erhalten oder sie auffrischen könne. Doch machten nur 3000 Kölner vom Angebot einer Erstimpfung und 17.000 einer Zweitimpfung Gebrauch. Stattdessen formierten sich die Impfgegner.

In erster Reihe erkannte der Arzt Carolus Waegener „hochangesehene“ Kollegen, die sich über wenige „zuweilen tödtliche Zufälle“ echauffierten. Man befürchtete die Übertragung „viehischer“ Eigenschaften, pöbelte gegen „Impffanatiker“ und unterstellte den Ärzten, mit der Impfung die Syphilis zu übertragen. Einzelne Fälle hatte es tatsächlich gegeben, weil als Überträger der Schutzpockenviren häufig Findelkinder eingesetzt wurden. Waren ihre Mütter mit der Geschlechtskrankheit infiziert, konnten die Kinder diese tatsächlich weitergeben.

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Die Epidemie von 1870/71 machte dem ein Ende. Von nun an wurde die humanisierte Lymphe durch Kälberlymphe ersetzt, was Infektionen ausschloss. Und Reichskanzler Otto von Bismarck sah seine Chance und brachte sein Reichsimpfgesetz vor den Reichstag. Danach unterlagen nicht nur Säuglinge der Impfpflicht, sondern war auch für Zwölfjährige eine Vakzination obligatorisch.

Der Widerstand war lauter als die Realität. Die Behauptung der Impfgegner, der Reichstag habe das Gesetz nur mit der dünnen Mehrheit von 141 gegen 140 Stimmen angenommen, waren typische Fake News. Tatsächlich votierten 183 Abgeordnete für das Vorhaben, das einen Meilenstein im Kampf gegen die Seuche setzte. Doch erst 1980 konnte die Weltgesundheitsorganisation WHO die Ausrottung der Pocken vermelden.

Mario Kramp: „1870/71. Franzosen in Köln. Die vergessenen Gefangenen des Deutsch-Französischen Kriegs“. (Verlag Ralf Liebe, Weilerswist. 256 S., 24 Euro)

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