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  3. Nachruf Dietrich Rohrbeck: Fluchthelfer und Babyschmuggler

Geschichte Dietrich Rohrbeck

Unter den Augen der Stasi holte dieser Fluchthelfer Babys aus der DDR

Gut drei Jahre lang, von 1961 bis 1964, verhalf der West-Berliner Student Dietrich Rohrbeck Ostdeutschen in die Freiheit. Jahrzehnte lang schwieg er darüber. Ende 2020 erschienen seine Erinnerungen, jetzt ist er im Alter von 85 Jahren verstorben.
Leitender Redakteur Geschichte
Mercedes-1962 mit Rohrbeck Mercedes-1962 mit Rohrbeck
Dietrich Rohrbeck 1962 vor seinem zum Fluchtversteck umgebauten Mercedes. Das Foto wurde erstmals 2016 in Dänemark veröffentlicht
Quelle: Privatarchiv Rohrbeck
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Seine Hoffnung blieb unerfüllt. „Ich kenne kein einziges der sechzehn Kinder, die ich 1962/63 aus der DDR herausgeholt habe“, schrieb Dietrich Rohrbeck in seinen Ende 2020 als Buch erschienenen Erinnerungen: „Das ist wirklich sehr schade. Sie sind heute alle um die sechzig. Es ist einer meiner größten Wünsche, jemanden kennenzulernen, den ich damals als meine Tochter ausgegeben habe.“

Dietrich-2020
Dietrich Rohrbeck im Pfälzer Wald im September 2020
Quelle: Sven Felix Kellerhoff

Doch es sollte nicht sein: Weder nach dem Erscheinen eines ganzseitigen Artikels über den Fluchthelfer und „Babyschmuggler“ Rohrbeck in der WELT AM SONNTAG 2017 noch nach der Publikation seines als Non-Profit-Projekt konzipierten Buches meldete sich jemand bei ihm oder seinem Verlag, um zu erzählen. Ende September 2021 ist Dietrich Rohrbeck im Alter von 85 Jahren verstorben. Am 15. Oktober 2021 wurde er in Hamburg beerdigt. Seine Erinnerungen sind seine für die Öffentlichkeit gedachte Hinterlassenschaft.

„Als freiheitsliebender Mensch empfand ich den Bau der Mauer als tiefen Einschnitt in die persönliche Freiheit der Menschen“, begründete er seinen gut dreijährigen, lebensgefährlichen Einsatz als Fluchthelfer: „Auch meine Kommilitonen waren betroffen. Eigentlich hatte ich genug mit meinem Studium an der Staatlichen Ingenieurschule in West-Berlin zu tun. Doch meine Gedanken kreisten immer wieder um die nun ,eingesperrten’ DDR-Bürger. Vor dem Mauerbau hatte ich in meinem Semester noch 33 Kommilitonen gehabt, im Herbst des gleichen Jahres waren wir gerade noch 17.“

Dietrich-1958
Dietrich Rohrbeck auf einem Passfoto von 1958
Quelle: Privatarchiv Rohrbeck

Rohrbeck war selbst aus der DDR geflüchtet, im März 1955. Zu dieser Zeit lebte er in Zittau und absolvierte eine Ausbildung an der Fachschule für Landwirtschaft. Doch dort machte er eine höchst unangenehme Erfahrung: In seine Klasse kamen Anfang 1955 mehrfach Werber der Kasernierten Volkspolizei, dem Vorläufer der Nationalen Volksarmee. Die Offiziere sollten junge Männer verpflichten – mit Unterstützung der Lehrer. „Freiwillig“, wie es hieß.

Auch der große, schlanke und gut aussehende Dietrich fiel den Anwerbern auf, und so bekam er die Anweisung, sich am 13. März 1955 in einer Unterkunft dieser Truppe in Ost-Berlin einzufinden. Der noch nicht ganz 19-Jährige entschied sich, die angeordnete Reise zu nutzen, um es seinem älteren Bruder gleichzutun und die DDR zu verlassen.

Ohne Gepäck fuhr er am 12. März von Görlitz, wo seine Familie wohnte, nach Berlin. Und er trug eine Jeans und eine Windjacke, die ihm einer seiner Onkel aus dem niedersächsischen Salzgitter nach Görlitz mitgebracht hatte: westliche Kleidung. So konnte er, ohne von DDR-Transportpolizisten kontrolliert zu werden, mit der S-Bahn aus dem sowjetischen Sektor Berlins in den freien Teil der Stadt fahren. Hier machte er seinen Abschluss und begann das Studium des Bauingenieurwesens.

Einige Jahre später, in den frühen Morgenstunden des 13. August 1961, war die S-Bahn schlagartig unterbrochen worden, versperrten Stacheldraht und bald eine Betonmauer Ost-Berlinern und DDR-Bürgern den Weg ins Schlupfloch West-Berlin. Dietrich Rohrbeck fühlte sich herausgefordert – und begann, den „antifaschistischen Schutzwall“ zu unterminieren.

Er versuchte das auch im ganz konkreten Sinne, beteiligte sich nämlich am Graben eines Fluchtstollens unter der Heidelberger Straße zwischen Neukölln im US-Sektor und Treptow. Doch weil in Rohrbecks Körper seit 1946 ein Splitter saß, der ihn beim Spielen mit einer bis dahin nicht detonierten Granate getroffen hatte, war die Leistungskraft seines rechten Lungenflügels deutlich eingeschränkt. „Ich hätte am Tunnel nicht mehr mitbauen können, ohne mich selbst zu gefährden“, erinnerte er sich: „Also machte ich als Kurier weiter. Mit meinen westdeutschen Papieren reiste ich in die DDR ein, suchte die Adressen fluchtwilliger Menschen auf und pendelte auch zwischen West- und Ostdeutschland, um der DDR müde Menschen während der Vorbereitung der Flucht nicht mutlos werden zu lassen.“

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Doch bald reichte ihm das nicht mehr – und er bildete mit seinem Freund Uli Wlodarowski seine eigene kleine Fluchthilfeorganisation. Zu Hilfe kam ihm, dass er mit einer Dänin verheiratet war und mit ihr eine Tochter hatte, daher regelmäßig von seinem Wohn- und Studienort West-Berlin aus mit dem Auto über den DDR-Hafen Warnemünde mit eine Ostseefähre nach Gedser auf der Insel Falster fuhr.

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Auf diesen Transittouren bekam er schnell mit, wie er die Kontrolleure der DDR, die Zoll-Uniformen trugen, in Wirklichkeit aber zur Stasi gehörten, austricksen konnte: Er fuhr in Gedser ohne seine kleine Tochter auf die Fähre, bat aber dennoch um zwei Visa – wenn der Grenzer das Kind sehen wollte, klagte Rohrbeck, er habe sie gerade erst zum Einschlafen gebracht und ob er sie denn unbedingt aufwecken müsse? Stets hatten die Kontrolleure ein Einsehen – zum Glück.

In Warnemünde jedoch war die Kontrolle genauer – aber hier legte Rohrbeck nur das auf der Fähre für seinen Namen ausgefüllte Visum vor; das andere hatte er im ausgehöhlten Autoradio versteckt. Er bekam die Einreisestempel auf sein Formular und durfte passieren.

An schwer einsehbaren Treffpunkten auf dem Weg nach West-Berlin (eine Autobahn gab es damals noch nicht) traf er die Menschen, in deren Obhut sich das Kleinkind befand, das er in den Westen holen sollte. Meist handelte es sich um Großeltern oder andere Verwandte der Eltern, die zuvor bereits auf anderen Wegen geflüchtet waren, die sich für ihren Nachwuchs nicht eigneten, etwa in engen Verstecken in Autos.

Gegen ein Passwort übernahm Dietrich Rohrbeck das Kind, fuhr etwas weiter und hielt — um es „auszuwindeln“ und in dänische Kleinkindkleidung zu stecken. Außerdem stempelte er mit gefälschten Stempeln das Visum für seine Tochter ab. Dann fuhr er mit dem Kind ganz offen in Staaken durch die DDR-Kontrolle nach West-Berlin. Die größte Gefahr für das geschmuggelte Kind war dabei, dass es 1962/63 noch keine Kindersitze gab. Einige Kilometer weiter übergab er das Kind dessen überglücklichen Eltern.

Mercedes-1962
Um dem Fotografen zu zeigen, wo sich das Versteck in dem Mercedes befand, streckte Rohrbeck seine Hand aus der geöffneten Klappe
Quelle: Privatarchiv Rohrbeck

Nach seiner Erinnerung machte Rohrbeck diese „Tour“ 16-mal. Die Stasi erfuhr erst 1983 von einem Spitzel, der immer noch gesuchte Fluchthelfer habe mit dem „Pass seines Sohnes“ etwa „fünf Kinder aus dem Gebiet der DDR“ geschleust. Ferner nutzte er einen umgebauten Mercedes 190 für erwachsene Flüchtlinge und versorgte Dutzende weitere DDR-Bürger mit falschen westdeutschen Papieren, die ihm ein dänischer Grafiker auf Falster herstellte, ein Bekannter seines Schwiegervaters.

Ende 1964, nachdem durch viel Pech sein Bruder, zwei weitere West-Berliner Helfer und mehrere Flüchtlinge der Stasi ins Netz gegangen waren, beendete Dietrich Rohrbeck sein Studium und zog als Bauingenieur in seine Wahlheimat Dänemark. Damit endete auch seine Tätigkeit als Fluchthelfer. Erst ein halbes Jahrhundert später berichtete er davon und verfasste anschließend seine Erinnerungen. Er hätte gern noch Interviews für eine TV-Dokumentation gegeben und einen geplanten Spielfilm über seine Tätigkeit als Fluchthelfer gesehen. Dazu aber kam es nicht mehr.

Dietrich Rohrbeck: „Via Dänemark in die Freiheit“. (Berlin-Story Verlag 2021. 196 S.; 19,80 Euro).

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