WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Geschichte
  3. Anabasis: Was er im Schilde führte, war ein Putsch von ganz anderen Dimensionen

Geschichte Xenophons „Anabasis“

Der unglaubliche Marsch eines griechischen Söldnerheeres durch das Perserreich

Für seinen Putsch gegen den Großkönig heuerte der persische Prinz Kyros 401 v. Chr. zehntausend griechische Söldner an. Der Athener Xenophon war dabei und beschrieb den Zug in seiner „Anabasis“. Sie wurde zur Weltliteratur.
Freier Autor Geschichte
In der Schlacht bei Kunaxa im Herbst 401 v. Chr. siegten die Griechen, aber ihr Auftraggeber Kyros fiel In der Schlacht bei Kunaxa im Herbst 401 v. Chr. siegten die Griechen, aber ihr Auftraggeber Kyros fiel
In der Schlacht bei Kunaxa im Herbst 401 v. Chr. siegten die Griechen, aber ihr Auftraggeber Kyros fiel
Quelle: Universal Images Group via Getty

Das Angebot klang verlockend: Erfahrene Kämpfer für Polizeiaktion gegen aufständische Barbaren gesucht. Das war ein Job ganz nach dem Geschmack der Soldaten, die seit dem Ende des Peloponnesischen Krieges in Griechenland (431–404) arbeitslos waren, weil sie sich in zivilen Berufen nicht mehr zurechtfanden. Also meldeten sich 401 v. Chr. Tausende als Söldner in den Rekrutierungsbüros, zumal der Auftraggeber gute Entlohnung versprach: Kyros, Sohn des persischen Großkönigs und Oberbefehlshaber über die Satrapien des Weltreichs in Kleinasien.

Was er im Schilde führte, war aber kein einträglicher Feldzug gegen die Pisider, sondern ein Putsch von ganz anderen Dimensionen. Mit den mehr als 10.000 Griechen und mehreren Zehntausend weiteren Kämpfern wollte Kyros seinen älteren Bruder Artaxerxes II. vom Thron des Persischen Weltreichs stoßen. Der Usurpator gewann die Schlacht, verlor aber das Leben, was seine Söldner in eine schier aussichtslose Lage versetzte. Dass die meisten von ihnen dennoch in ihre Heimat zurückkehren konnten, verdankten sie einem Mann, der sich ihrem Zug zunächst nur als Beobachter angeschlossen hatte, dann aber die Führung übernahm: Xenophon aus Athen (ca. 430/25–354).

+honorarpflichtig+++ Anonymous / ÔPortrait of the Writer, XenophonÕ. II century. White marble. Museum: Museo del Prado, Madrid, Espa–a
Xenophon (ca. 430/25–354), Militär, Söldnerführer und Schriftsteller
Quelle: akg-images / Album

Doch war es nicht dieser Erfolg, der den „Zug der Zehntausend“ in den Kanon historischer Bildung eingeführt hat, sondern das Buch, das Xenophon darüber verfasste. Seine „Anabasis“, der „Hinaufzug“ von der Küste der Ägäis über das Gebirge bis vor die Tore Babylons, gehört seit der Antike zur Weltliteratur. An ihr schulten die Römer die Feinheiten des attischen Idioms. Noch heute lesen Schüler im Altgriechisch-Unterricht mit Xenophon ihren ersten Klassiker. Dass er dazu wie Caesars „Gallischer Krieg“ im Lateinischen prädestiniert ist, hat seinen Grund in der flüssigen, schnörkellosen Sprache und der prallen Geschichte, die sie erzählt.

Anlass genug für den Bonner Althistoriker Wolfgang Will, das berühmte Buch – eines der meistgelesenen der Antike – einer luziden Revision zu unterziehen („Der Zug der 10.000. Die unglaubliche Geschichte eines antiken Söldnerheeres“. C. H. Beck, s. u.). Will folgt nicht nur den Söldnern und liefert die nötigen Informationen zum Text, sondern ordnet ihn auch ein in die vertrackten Frontstellungen der Epoche. Dazu gehört etwa, dass Xenophon seinen autobiografischen Bericht um 380 v. Chr. als gut situierter Gutsbesitzer auf einem Landgut abfasste, das die Spartaner ihm überlassen hatten, obwohl er Athener war. Und dass er als Namen des Autors Themistogenes von Syrakus angab und in der dritten Person schrieb.

Einiges mag die Herkunft erklären. Als Sohn eines vermögenden Ritters hielt Xenophon während des Peloponnesischen Krieges gegen Sparta Distanz zur radikalen Demokratie in Athen. Nach deren Niederlage gehörte er zu den Profiteuren der „Dreißig Tyrannen“, die die Spartaner als Marionetten eingesetzt hatten, und diente in ihrer Kavallerie. Trotzdem wurde er zu keinem tumben Anhänger der Oligarchie. Davor bewahrte ihn nicht zuletzt der Philosoph Sokrates, dem er mehrere Schriften gewidmet hat.

Nach dem Sturz der Dreißig und der Restauration der Demokratie hatte Xenophon gute Gründe, seine Heimatstadt zu verlassen. Ein Freund, der sich Kyros als Offizier angedient hatte, machte ihm das Angebot, ihn am Hof des Persers einzuführen. Xenophon ergriff die Chance und zog nach Sardes, Kyros’ Residenz. Als Berichterstatter, wir würden sagen „embedded journalist“, wollte er den Zug mitmachen.

Mit seinen Dienern und einem Gepäck, das mehrere Pferde transportierten, unterschied sich Xenophon deutlich von den Söldnern, die aus der ganzen griechischen Welt zusammengekommen waren. Es handelte sich überwiegend um Hopliten, schwer bewaffnete Fußsoldaten, die diszipliniert in einer Phalanx zu kämpfen verstanden und als die besten Krieger ihrer Zeit galten. Aber es waren keine Bürgersoldaten, die für ihre Stadt kämpften. Ihr Motiv hieß Geld – zum einen, weil sie davon auch im Lager ihren Lebensunterhalt bestreiten mussten, zum andern, weil sie damit später einmal ein Leben in der Heimat gestalten wollten. Ihnen folgte ein Tross von vielleicht zehntausend Händlern, Frauen und Sklaven.

Spätestens als der Zug das Tauros-Gebirge überschritten hatte, dämmerte es den Griechen, dass es nicht gegen die Pisider ging, sondern gegen den Großkönig. Mit dem Hinweis auf die gefüllten Schatztruhen seines Bruders konnte Kyros die Meuterei abwenden. Bei Kunaxa nördlich von Babylon kam es zur Schlacht: Die Griechen siegten, aber ihr Auftraggeber fiel. Dem persischen Satrapen Tissaphernes, einem Rivalen des Kyros, gelang es anschließend, die Anführer der Söldner in sein Lager zu locken, wo man sie erschlug.

Das war der Moment für den Auftritt Xenophons. In einer der zahlreichen Reden, die das Buch durchziehen und in denen er die diplomatischen und strategischen Entscheidungen erläutert, stellte sich der eloquente Athener als neuer Kommandeur zur Wahl: „Darum müssen die neuen Führer noch viel umsichtiger sein als die früheren, die Untergebenen jetzt noch viel mehr Disziplin und Gehorsam gegenüber den Vorgesetzten beweisen als früher.“ Die Heeresversammlung akzeptierte.

Anzeige

Da der Weg zurück vom Feind blockiert war, machte sich das Heer unter der gemeinsamen Führung Xenophons und eines Spartaners an die Katabasis, den „Abstieg“ ans Schwarze Meer. Sie kamen durch Gegenden, von denen die Griechen kaum den Namen kannten. Und da sie sich nicht darauf beschränkten, Nahrungsmittel zu kaufen, sondern die Anwohner mit Beutezügen drangsalierten, sahen sie sich einem permanenten Kleinkrieg ausgesetzt.

Dadurch geriet die „Anabasis“ zu einer großartigen Landesbeschreibung. „Festungen müssen erobert, Gebirge überstiegen, Flüsse durchquert, Überfälle vereitelt werden“, schreibt Will. Detailreich, genau, trocken berichtet Xenophon von der Herstellung von Bier, von der Ausrüstung eines persischen Panzerreiters, den unterirdischen Behausungen der Bewohner und der toxischen Wirkung von Honig, der aus einer Azaleenart gewonnen wurde.

Quelle: Infografik WELT

Die Massaker, zu denen sich die undisziplinierten Söldner durch Hunger und Verzweiflung verleiten ließen, schildert der Autor ohne Emotionen – etwa wenn Frauen erst ihre Kinder und dann sich selbst in die Tiefe stürzten, um nicht versklavt zu werden. „Einziges Pathos“, so Will, „ ist wie in der ,Odyssee’ die Sehnsucht der ... Zurückkehrenden nach ihrer Heimat.“

Der entscheidende Augenblick bei Trapezunt (Trabzon) ist auch rhetorisch in die Geschichte eingegangen. Xenophon war bei der Nachhut, „als das Rufen immer mächtiger wurde“. Er bestieg sein Pferd, „und bald schon hören sie, wie die Soldaten ,thálatta, thálatta’ (das Meer, das Meer) rufen und wie das Wort von Mann zu Mann weitergegeben wird. Da nun liefen alle, auch die Nachhut ... und als nun alle die Höhe erreicht hatten, umarmten sie einander unter Tränen.“

„Das Meer, das Meer“ ist seitdem zum Symbol für die Errettung aus unmöglichen Situation geworden. In „Meergruß“ hat Heinrich Heine dem Ruf im Sinn des Neuhumanismus ein poetisches Denkmal gesetzt: „Thalatta! Thalatta! / Sei mir gegrüßt, du ewiges Meer! / Sei mir gegrüßt zehntausendmal, / Aus jauchzendem Herzen, / Wie einst dich begrüßten / Zehntausend Griechenherzen.“

Nach 122 Tagen und fast 1500 Kilometern erreichten die Griechen das Schwarze Meer. „Als nun alle die Höhe erreicht hatten, umarmten sie einander unter Tränen“, schrieb Xenophon
Nach 122 Tagen und fast 1500 Kilometern erreichten die Griechen das Schwarze Meer
Quelle: Bridgeman Images

Damit war 122 Tagen und fast 1500 Kilometern zwar die „Katabasis“ geschafft, aber erst die Hälfte des Rückweges. Doch nun zerstreuten sich die etwa 8000, die noch übrig geblieben waren. Jeder versuchte, mit einem Schiff in die Heimat zu gelangen. Xenophon erreichte mit einem Teil des Heeres Byzanz, das spätere Konstantinopel und heutige Istanbul, erlebte wilde Abenteuer in Thrakien und konnte seine Leute schließlich in Pergamon einem spartanischen Feldherrn übergeben.

Aber die Hoffnung auf Heimkehr zerstob. Da Kyros im Peloponnesischen Krieg die Spartaner unterstützt hatte, war Xenophon von der restaurierten Demokratie in Athen exiliert worden. Daher schloss er sich nun dem spartanischen König Agesilaos an, der mit einigem Erfolg die Hegemonialstellung seiner Stadt verteidigte. Zum Dank erhielt er unweit von Olympia ein Landgut, auf dem er sich dem Familienleben und der Schriftstellerei widmete. Die allerdings war kein Selbstzweck.

Anzeige

Will macht deutlich, wie viele apologetische Untertöne in der „Anabasis“ stecken. Da war zum einen der Vorwurf der Untreue, den zahlreiche Söldner – von denen ja noch viele lebten – verbreitet hatten. Zum anderen hatte ein gewisser Sophainetos eine „Anabasis Kyrou“ publiziert, in der sich Xenophon wohl nicht ausreichend gewürdigt fand. Wohl noch schwerer wog die Anklage in Athen wegen Kollaboration mit dem Feind. Das dreifache Motiv der Verteidigung würde erklären, warum Xenophon in der dritten Person schrieb und sich hinter einem Pseudonym versteckte.

Möglicherweise hatte er Erfolg. Athen gestattete ihm die Rückkehr, nachdem er nach der Niederlage Spartas gegen Theben in den 360er-Jahren sein Landgut verloren hatte. Während seiner Söhne für die alte Heimatstadt kämpften, soll Xenophon in Korinth gestorben sein.

Bald wurde seine Autorschaft an der „Anabasis“ enttarnt und sollte einem anderen „Heraufzug“ als Handbuch dienen. Wie viele Militärs hat auch Alexander der Große das Werk gelesen, als er 334 v. Chr. zur Eroberung des Perserreichs aufbrach. Nicht umsonst gab der römische Senator Arrian, der im 2. Jahrhundert n. Chr. die wichtigste Quelle zum Alexanderzug verfasste, ihr den Namen „Anabasis“.

Er übernahm die Einteilung in sieben Bücher und klagte: „So geschieht es, dass Alexanders Taten weit weniger bekannt sind als die kümmerlichen Quisquilien einer früheren Zeit. Ja, es ist sogar jener Zug der Zehntausend mit Kyros ... wie auch ihr Rückmarsch unter Xenophon gerade wegen dieses Xenophons weit bekannter bei den Menschen als ein Alexander mit all seinen Leistungen.“ Ein größeres Kompliment für Xenophon ist kaum denkbar.

Wolfgang Will: „Der Zug der 10.000. Die unglaubliche Geschichte eines antiken Söldnerheeres“. (C. H. Beck, München. 314 S., 28 Euro)

Sie finden „Weltgeschichte“ auch auf Facebook. Wir freuen uns über ein Like.

Dieser Artikel wurde erstmals im Oktober 2022.

Geschichte Griechenlands im Altertum

Zwei Hochkulturen, Hunderte Stadtstaaten, zahllose Kolonien und eine Weltzivilisation: Von 2000 v. Chr. bis zur endgültigen Eroberung durch die Römer 30 v. Chr. haben die Griechen auf vielfältige Weise die Weltgeschichte geprägt.

Quelle: WELT

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema