Als im Oktober 2000 in Berlin ein Papyrus aus der Regierungszeit der Königin Kleopatra (reg. 51–30) mit neuer Deutung vorgestellt wurde, staunte nicht nur die Fachwelt. Es handelte sich um ein Aktenstück, in dem einem römischen Geschäftsmann mit Namen Publius Canidius Crassus erhebliche Steuer- und Zollprivilegien in Ägypten bestätigt wurden. Sensationell war die Deutung der Ausführungsbestimmung von anderer Hand: „genesthoi“ (so soll es geschehen) wurde mit großer Wahrscheinlichkeit von der Königin selbst unter das Dokument gesetzt.
Bemerkenswert an dem Zeugnis – das Papyrusfragment war bereits 1904 von deutschen Archäologen in Abusir entdeckt und nach Berlin gebracht worden – ist nicht nur die Erkenntnis, dass römische Kaufleute schon vor der Eroberung des Landes durch Octavian 30 v. Chr. tief in die Wirtschaft des Landes verwickelt waren. Sondern der in einer Mumienmaske erhaltene Text bietet auch ein Beispiel für die königliche Verwaltung in dem Nilland unter der Dynastie der makedonischen Ptolemäer.
Wie diese nach der Eroberung Ägyptens durch Alexander den Großen 332 v. Chr. bis zu den Römern funktionierte, will ein großangelegtes Forschungsprojekt der Universitäten Köln und Halle analysieren. „Zum ersten Mal wird erforscht, wie ein antiker Staat tatsächlich funktionierte. Zum Beispiel, wie hat der Staat damals seine Finanzen geregelt, wie hat der Staat Straßen gebaut und seine Beamten bezahlt und wie war das Banksystem organisiert?“, sagt Projektleiterin und Papyrologie-Expertin Charikleia Armoni von der Universität Köln. Das Unternehmen „Corpus der griechischen Papyrustexte administrativen Inhalts aus dem ptolemäischen Ägypten“ wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als Langfristvorhaben über zwölf Jahre hinweg finanziert.
Grundlage sind Papyri, die seit mehr als 100 Jahren in den Magazinen des Robertinums, des archäologischen Museums der Universität Halle, lagern. Althistoriker und Papyrologe Stefan Pfeiffer vom Institut für Altertumswissenschaften der Universität sichtet die wertvollen Stücke. Jedes einzelne Blatt ist durch Glasplatten vor Beschädigungen und Zerfall gesichert.
„Ägypten ist das einzige Land, aus dem wir Papyri aus der antiken Welt haben, weil sie im trockenen Klima nicht verrotteten. Das erlaubt ungefilterte Einblicke in das tatsächliche Leben in der Antike. Die Papyrus-Aufzeichnungen belegen, was der Systemwechsel für den einzelnen Menschen bedeutete“, sagt Armoni. „Es sind Informationen, die wir über literarische Texte nicht bekommen können.“
Die Stücke in den meisten Papyri-Sammlungen in Deutschland stammen vom „Papyruskartell“. Das war ein Zusammenschluss mehrerer deutscher Universitäten, die vor 1913 Papyrusblätter auf dem Kunstmarkt kauften und sie dann per Los auf Universitäten und andere Institutionen verteilten. Die Papyri aus Halle waren in der Regel nicht für eine langfristige Überlieferung gedacht und beschreiben oft konkrete Alltagserlebnisse. Das bietet Pfeiffer zufolge die einzigartige Chance, die Ursprünge zahlreicher Prinzipien und Praktiken herrschaftlicher Verwaltung und Einflussnahme zu identifizieren und ihre Entwicklung nachzuzeichnen.
Beispielsweise wurde folgende Szene aus dem Alltagsleben auf einem Papyrusblatt übermittelt: Ein Grieche geht durch ein ägyptisches Dorf. Eine Ägypterin aus dem zweiten Stock schüttet einen Urintopf über ihm aus. Riesige Aufregung, die Frau kommt aus dem Haus und zerreißt das Gewand des Griechen. Und was macht dieser? Er verprügelt die Frau nicht, sondern schreibt eine Eingabe an den König. Darin steht, er sei von der Ägypterin misshandelt worden.
„Das Erstaunliche: Der Grieche beschreitet im Grunde genommen schon damals den Rechtsweg“, sagt Pfeiffer. Das wirft ein helles Licht über den Alltag in einer multikulturellen Gesellschaft, in der neben Griechen, Makedonen und Ägyptern auch zahlreiche weitere Völkerschaften wie Juden und Nubier lebten.
Insgesamt werden in Halle und Köln etwa 6500 hellenistische Papyri aus aller Welt analysiert. Zudem sind zehn Buchveröffentlichungen geplant. Es geht um die Themen Herrschaft, Recht und Verwaltung. „Die Texte werden neu übersetzt, historisch ausgewertet und kommentiert“, sagt der Lehrstuhlinhaber für klassische Philologie und Papyrologie der Universität zu Köln, Jürgen Hammerstaedt. Im Rahmen des Projektes werden die Papyri digitalisiert und im Internet frei zugänglich gemacht.
In Halle gibt es etwa 250 Papyri. Hierbei ist eine Sammlung der Gesetze Alexandrias von besonderem Interesse, die sogenannte Dikaiomata. Im Bestand der Universität Halle befinden sich auch Quittungen und Privatbriefe, die für die Forschung neu erschlossen werden.
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