Als letzter geschlossener Großverband der Wehrmacht verteidigte sich die Heeresgruppe Kurland noch bis zum 9. Mai 1945 – länger als die deutschen Truppen etwa in Berlin oder in Breslau. Zu den besten Kennern der Ostfront gehört der Historiker und Oberst a. D. Karl-Heinz Frieser. Er hat unter anderem den einschlägigen achten Band in dem Reihenwerk „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ herausgegeben. Darin behandeln Wissenschaftler des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam auf breiter Quellenbasis die Ostfront zwischen 1943 und 1945.
Die Welt: Auf der relativ kleinen Halbinsel Kurland ließ sich die Heeresgruppe auf direkten Befehl Hitlers im Oktober 1944 einschließen. Das waren rund doppelt so viele Soldaten wie im Kessel von Stalingrad. Eigentlich unverständlich, oder?
Karl-Heinz Frieser: Absolut unverständlich – jedenfalls für die Generalität. Obwohl an der Ostfront jeder Mann gebraucht wurde, musste sich eine von vier Heeresgruppen freiwillig einkesseln lassen. Generaloberst Heinz Guderian, der Chef des Generalstabs des Heeres, forderte 17 Mal vergeblich die Räumung Kurlands. Anfang Februar 1945 kam es deswegen zu jenem berühmten Zusammenstoß mit Hitler, als sich beide mit erhobenen Fäusten gegenüberstanden und Guderian gerade noch gebremst werden konnte.
Die Welt: Die Soldaten der Heeresgruppe Nord, die ab Ende Januar 1945 Heeresgruppe Kurland hieß, verteidigten sich sieben Monate lang erfolgreich gegen sechs Großoffensiven der Roten Armee. Wie war denn das Kräfteverhältnis?
Frieser: Zwei deutsche Armeen mussten sich zeitweilig gegen 16 sowjetische verteidigen. Die Luftwaffe (170 gegenüber 4700 sowjetischen Flugzeugen) war praktisch nicht existent. Stalin hatte voreilig die Eroberung Kurlands angekündigt und damit seine Generäle in Zugzwang gebracht. Deren Truppen griffen ohne Rücksicht auf Verluste an, wobei sie nach deutschen Schätzungen mehr als 2000 Panzer verloren.
Die Welt: Wie lässt sich dieser Abwehrerfolg erklären?
Frieser: Nach Einschätzung ausländischer Historiker lag eines der Erfolgsgeheimnisse der Wehrmacht im sogenannten Primärgruppeneffekt. In etlichen Einheiten der Heeresgruppe Kurland kämpften – durch Gruppenkohäsion zusammengeschweißt – teilweise noch dieselben Männer wie 1941. Diese Heeresgruppe war als einzige personell einigermaßen intakt geblieben. Deshalb wurde Hitlers Entscheidung, ausgerechnet die wohl besten Divisionen der Wehrmacht ins Abseits zu stellen, mit Unverständnis und Wut aufgenommen.
Die Welt: Zeitweise standen im Kurland-Kessel ebenso viele deutsche Panzer wie an der gesamten Westfront. Doch Hitler weigerte sich beharrlich, die Truppen aus Kurland zu evakuieren, obwohl sie die allerletzten noch einsetzbaren Reserven darstellten. War das reiner Starrsinn oder doch ein strategisches Kalkül?
Frieser: Für Hitler war Kurland kein Kessel, sondern ein Brückenkopf, also ein Sprungbrett für eine künftige Offensive. Er erklärte seinen engsten Vertrauten: „Ich rechne bald mit einer Änderung der Lage und brauche dann Kurland, um den Russen in die Flanke stoßen zu können.“
Die Welt: Wie lautet Ihre Erklärung für dieses „Kurland-Rätsel“?
Frieser: Die Lösung ist in den Wäldern der Ardennen zu finden. Dort sollte jene „Änderung der Lage“ durch eine Blitzoffensive gegen die Westmächte herbeigezwungen werden.
Die Welt: Was haben die Ardennenoffensive und Kurland miteinander zu tun?
Frieser: Hitler verfolgte 1944 eine Doppelstrategie: Phase 1: Im Westen schlagen – im Osten halten. Phase 2: Schwerpunktverlagerung nach Osten. Im Sommer wollte er die Westalliierten an der Atlantikküste besiegen und dann 35 Divisionen an die Ostfront werfen. Im Dezember plante er im Westen die Ardennenoffensive. Anschließend sollten die Panzerdivisionen nach Osten verlegt werden, um zusammen mit den aus Kurland hervorstoßenden Kräften große Teile der Roten Armee an der Ostsee einzukesseln.
Die Welt: War diese Idee des Doppelschlags erst im Westen und dann im Osten mehr als eine Wirklichkeitsverweigerung Hitlers?
Frieser: Der Diktator handelte – innerhalb seiner immanenten Logik – durchaus konsequent. Er hoffte darauf, dass er wie einst Friedrich der Große in einem eigentlich schon verlorenen Krieg durch den Zerfall der feindlichen Koalition gerettet werden würde. Deshalb plante er eine entscheidungssuchende Offensive gegen die Westmächte. Seiner Devise „Offensive oder Untergang“ entsprechend, spielte er Vabanque, wobei er sich schließlich in eine „autosuggestive Siegeseuphorie“ hineinsteigerte, wie Albert Speer es genannt hat.
Die Welt: Am 9. Mai 1945 gingen aus dem Kurland-Kessel rund 200.000 deutsche Soldaten, einschließlich lettischer Freiwilliger, in Gefangenschaft. Wenn Sie die Kurland-Schlachten bilanzieren – wie folgenreich war Hitlers Festlegung auf einen Schlag aus dem „Kurland-Brückenkopf“?
Frieser: Als die Rote Armee im Januar ihre Winteroffensive startete, brach die Ostfront wie ein Kartenhaus zusammen. Es fehlte nämlich eine operative Reserve, wofür die Heeresgruppe Kurland prädestiniert gewesen wäre. Ihre Soldaten stammten zumeist aus den deutschen Ostprovinzen. Nun mussten sie, eingeschlossen in der „baltischen Falle“, ohnmächtig zusehen, wie die Rotarmisten Gewaltexzesse an ihren Angehörigen verübten. Die Abseitsstellung dieser Heeresgruppe durch Hitler ist zurecht als „Ungeheuerlichkeit“ bezeichnet worden.