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Zweiter Weltkrieg Vertriebene nach 1945

„Die Flüchtlinge müssen hinausgeworfen werden“

Die Rhetorik, die nach 1945 deutschen Vertriebenen im Westen entgegenschlug, ist durchaus mit Pegida-Parolen zu vergleichen. Allerdings war die Belastung für die Einheimischen ungleich höher als heute.

Eigentlich hatte Jakob Fischbacher Pfarrer werden wollen. Dann aber studierte er doch lieber Rechts- und Staatswissenschaften sowie Geschichte und Philosophie. Im Oktober 1946 gehörte er zu den Mitbegründern der Bayernpartei, die sich als Sammelbecken von Konservativen und Separatisten verstand. Parallel dazu machte er im Bauernverband Karriere und wurde einer seiner Kreisdirektoren.

Fischbacher hatte ein Gespür dafür, was sein Publikum hören wollte, als er am Ostermontag 1947 im oberbayerischen Traunstein ans Rednerpult trat. „Die Flüchtlinge müssen hinausgeworfen werden, und die Bauern müssen dabei tatkräftig mithelfen“, schärfte Fischbacher seinen Zuhörern ein. Und er nennt es „Blutschande“, wenn ein „Bauernsohn eine norddeutsche Blondine heirate“. Am besten schicke man die Preußen mit ihren „geschminkten Weibsen mit lackierten Fingernägeln“ gleich „nach Sibirien“. Die Hassrede findet ihren Weg bis nach Hamburg in die Redaktion des „Spiegels“, dessen erste Ausgabe am Jahresanfang erschienen war. Das Magazin berichtete am 19. April ausführlich.

Zwar wurde Fischbacher umgehend von CSU und SPD zur Ordnung gerufen, das Staatskommissariat für das Flüchtlingswesen forderte seine Verhaftung, und selbst seine Parteifreunde gingen vorsichtig auf Distanz. Aber die Wutrede blieb beileibe kein Einzelfall.

Landtagspräsident Michael Horlacher, einer der Mitbegründer der CSU, machte sich dafür stark, dass Bayern den Bayern gehöre. „Neubürger“, wie er sie nannten, hätten sich den herrschenden Sitten anzupassen. Und wenig später klagte Andreas Schachner von der Bayernpartei, dass sich so viele Fremde an den bayerischen Futterkrippen bedienten, „dass Pogrome nötig wären, um die Gerechtigkeit wiederherzustellen“.

Die Massenflucht vor der Roten Armee und die anschließende Vertreibung der Deutschen aus Mittel- und Osteuropa brachte 1944 und 1945 knapp 700.000 Flüchtlinge nach Bayern, 1946 folgten etwa 800.000 Menschen. Insgesamt nahm Bayern bis 1950 1,8 Millionen Flüchtlinge und Vertriebene auf; ein Bevölkerungszuwachs um knapp 30 Prozent und Vielfaches der heutigen Flüchtlingszahlen. Zum Vergleich: 2014 wurden knapp 26.000 Asylbewerber in Bayern untergebracht, in diesem Jahr waren es bis Ende September etwa 110.000.

Und anders als heute waren Massenflucht und Vertreibung für die einheimische Bevölkerung mit schweren Belastungen und Einschnitten verbunden. „Größere und viele kleinere Städte waren schwer zerstört, die Wirtschaft lag darnieder, und die Versorgung in den städtischen Zentren war zusammengebrochen“, sagt der Historiker Thomas Schlemmer, Spezialist für die bayerische Nachkriegsgeschichte am Institut für Zeitgeschichte in München. „Der Alltag war geprägt von allgegenwärtigem Mangel. Da kam es natürlich zu Verteilungskämpfen.“

Denn für die Flüchtlinge gab es nicht genug Platz. „Wohnungsbeschlagnahme, Einquartierung und andere Zwangsmaßnahmen führten zu schweren Verwerfungen“, sagt Schlemmer. Verhasst bei vielen Einheimischen war der „Lastenausgleich“: Die Vertriebenen erhielten Wiedergutmachung für ihr verlorenes Eigentum im Osten – widerwillig bezahlt von der einheimischen Bevölkerung, die oft selbst schwere wirtschaftliche Verluste erlitten hatte. Die Zahler mussten die Hälfte ihres Vermögens abgeben, gestreckt über 30 Jahre.

Nach 70 Jahren ist weitgehend in Vergessenheit geraten, wie ungeheuer schwierig die Integration der Vertriebenen nach Ende des Zweiten Weltkrieges war. Auf die heutige Bevölkerungszahl umgerechnet, würde dies bedeuten, dass 3,8 Millionen deutschsprachige Neubürger zwangsweise nach Bayern umsiedeln müssten und die Kosten durch eine fünfzigprozentige Vermögensabgabe den Einheimischen aufgebürdet würden. Möglicherweise verlöre dann sogar die CSU einmal eine Landtagswahl.

„Eine evangelisch-lutherische Frau zu heiraten, konnte dazu führen, dass zwei Familien gesprengt wurden“: Thomas Schlemmer ist Historiker am Institut für Zeitgeschichte in München
„Eine evangelisch-lutherische Frau zu heiraten, konnte dazu führen, dass zwei Familien gesprengt wurden“: Thomas Schlemmer ist Historiker am Institut für Zeitgeschichte in München
Quelle: dpa

Zudem war die bayerische Bevölkerung damals Fremde noch nicht gewohnt. Die Sudetendeutschen standen den Bayern vergleichsweise nah, nicht jedoch Ostpreußen, Schlesier oder die deutschen Minderheiten vom Balkan, in der Mehrheit Protestanten. Die beiden großen christlichen Konfessionen einte nicht die Ökumene, sondern trennte eine tiefe Kluft. „Es kamen bewusste Protestanten in fast hundertprozentig katholische Gegenden“, sagt Schlemmer. „Eine evangelisch-lutherische Frau zu heiraten, konnte dazu führen, dass zwei Familien gesprengt wurden.“

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Doch trotz der katastrophalen Voraussetzungen gelang die Integration – sehr viel besser, als notleidende Bürger und Politiker das in der unmittelbaren Nachkriegszeit zu hoffen wagten.

Ein ganz wesentliches Element war naturgemäß, dass die damaligen Flüchtlinge und Vertriebenen ungeachtet aller Anfeindungen und Diskriminierungen Deutsche waren und über ein vergleichbares, in vielen Fällen sogar höheres Bildungsniveau verfügten als die Einheimischen. Ein weiterer Faktor: Zwang. Weder Bürger noch bayerische Behörden hatten ein Mittel des Widerstands gegen die Anordnungen des Alliierten Kontrollrats.

Und der Boom der 50er-Jahre erleichterte die Integration ganz ungemein: „Die Bedeutung des Wirtschaftswunders ist dabei überhaupt nicht zu überschätzen“, sagt Schlemmer. „Auch die Sozialpolitik hat eine Rolle gespielt. Durch Umverteilung von Vermögen wurde es den Vertriebenen ermöglicht, eine neue Existenz aufzubauen.“ Es habe jedoch viele gegeben, „die vom Verlust der Heimat sowie von Flucht und Vertreibung traumatisiert waren und nie wieder auf die Füße gekommen sind“.

Und heute? Als Muster für die aktuelle Situation taugen die aus der Not geborenen Zwangsmaßnahmen der Nachkriegsgeschichte sicher nicht. Wohnungsbeschlagnahmen und 50-prozentige Vermögensabgabe sind undenkbar. Doch sind die Ausgangsvoraussetzungen heute um ein Vielfaches günstiger als 1945. Und die erfolgreiche Integration der Vertriebenen zeigt zumindest, dass auch zunächst ganz unmöglich erscheinende Aufgaben gemeistert werden können.

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