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Die Gesundheit von Jungen wird vernachlässigt

Jungs sind aggressiver und lassen sich auf mehr Risiken ein - eine wichtige Rolle spielt dabei das Hormon Testosteron Jungs sind aggressiver und lassen sich auf mehr Risiken ein - eine wichtige Rolle spielt dabei das Hormon Testosteron
Jungs sind aggressiver und lassen sich auf mehr Risiken ein - eine wichtige Rolle spielt dabei das Hormon Testosteron
Quelle: pa/beyond/Bernd Eberle
Ob Bronchitis, Neurodermitis oder ADHS: Jungen sind häufiger krank und verletzen sich öfter als Mädchen. Doch es gibt kaum spezifische Hilfsangebote für sie.

Unter den unzähligen Ratgeberbüchern über Mädchenprobleme und Frauengesundheit biegen sich die Regalbretter in den Buchhandlungen. Das Stichwort "Jungs" oder "Knaben" sucht man dagegen meist vergebens. Für die Probleme von Mädchen gibt es längst kompetente Ansprechpartner.

Fast überall bieten Kinder- und Jugendärzte, Frauenärzte und Kinder- und Jugendpsychiater mädchenspezifische Angebote an wie etwa Teenagersprechstunde, Mädchensprechstunde, Kinder- und Jugendgynäkologie. Für Jungs gibt es Vergleichbares kaum.

Dabei sind ihre gesundheitlichen Probleme mindestens so beachtenswert wie die der Mädchen, eigentlich sogar noch schwerwiegender. Chronische Krankheiten kommen bei Jungen in fast allen Altersgruppen nahezu doppelt so häufig vor wie bei Mädchen, ergab eine Expertise der Berliner Charité für das Bundesgesundheitsministerium.

Die Belastung durch Krankheiten beginnt schon früh, das belegt schon ein flüchtiger Blick in die aktuelle Liste der häufigsten Diagnosen in den Praxen von Kinderärztinnen und Kinderärzten.

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Häufiger als Mädchen werden Jungen bei folgenden Krankheitsbildern zum Arzt gebracht: Husten, akute Bronchitis, Neurodermitis, Asthma, gestörte Sprachentwicklung, Bauchweh, Zappelphilipp-Syndrom (dreimal häufiger als bei Mädchen!), Halsweh, allergischer Schnupfen und motorische Entwicklungsstörungen.

„Alle hacken auf den bösen Jungen herum, dabei sind sie das eigentlich benachteiligte Geschlecht“, gaben Experten auf einem Kongress der Kinder- und Jugendärzte in Potsdam zu Protokoll.

Nach aktuellen Daten sind Jungen im Vergleich zu ihren weiblichen Altersgenossen viermal so häufig von Stottern, Legasthenie, Bettnässen und Autismus betroffen, erklärte Kinderarzt und Jugendgynäkologe Nikolaus Weissenrieder aus München.

Der Mediziner verwies auf aktuelle Daten des Statistischen Bundesamtes: Danach erleiden über alle Altersgruppen hinweg Jungen bis zu viermal häufiger Stürze mit tödlichem Ausgang als Mädchen. Das Gleiche zeigt die Statistik für den Tod durch Ertrinken. Verbrennungen, Vergiftungen und Verkehrsunfälle führen bei Jungen drei- bis viermal häufiger zum Tod.

Ein Grund für die erhöhte Verletzungsgefahr dürfte der steigende Testosteronspiegel während der Pubertät sein. Das für die Bildung der typischen Merkmale des männlichen Organismus zuständige maskulinisierende Hormon bewirkt bereits beim ungeborenen männlichen Baby eine andere Entwicklung des Gehirns als bei einem weiblichen Fetus.

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Das Männerhormon führt zu einer erheblich höheren Bereitschaft zu aggressivem und antisozialem Verhalten. Der Anstieg des Hormonspiegels in der Pubertät ist offenbar auch verantwortlich für die ausgeprägte Suche nach Risiken und erregenden Erlebnissen, „sensation seeking“ genannt.

Weissenrieder: „Jungen suchen sich besonders gern risikoreiche Sportarten aus wie Snowboarden in der Halfpipe, Kitesurfen oder Rafting. Das Risiko, auf dem Fahrrad zu verunglücken, ist bei Jungen pro Kilometer 4,5 Mal so hoch wie bei den Mädchen.“

Viele Männer sind auch später auf der ständigen Suche nach Spannung, Abwechslung und neuen Erlebnissen und erleiden Verletzungen durch Unbekümmertheit oder durch Alkohol-, Nikotin- und Drogenkonsum. Ihre Gesundheit wird auch durch sexuell übertragbare Krankheiten stärker bedroht.

So sind Männer gefährdeter als Frauen, obwohl eigentlich einige Faktoren ihre Gesundheit begünstigen. So haben Männer beispielsweise Vorteile durch ihre längeren Arme, die das Heben und Tragen von Lasten erleichtern.

Auch ihre Wirbelsäule hält mehr aus. Die ist bei Frauen gekrümmter als bei Männern. Deshalb treten bei ihnen häufiger als bei Männern Rückenschmerzen nach körperlichen Belastungen auf.

Doch im Alter bleiben die Frauen dann länger „rüstig“. So ist es keine Seltenheit, dass ein Mann nach Jahren in Saft und Kraft jenseits der 60er-Jahre wesentlich schneller abbaut als seine Partnerin.

„Es wird schlicht zu wenig beachtet, dass Männermedizin bei den Jungs anfängt“, bedauert Kinder- und Jugendarzt Bernhard Stier aus dem hessischen Butzbach. Er gehört zu den wenigen Medizinern, die sich schon länger um die speziellen Gesundheitsprobleme männlicher Jugendlicher kümmern.

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„Die gesundheitliche Benachteiligung von Jungen ist ein Paradox unseres Gesundheitssystems. Jungen haben höhere Risiken für Krankheit und Tod, dennoch gibt es mehr Versorgungsstrukturen für Mädchen und Frauen.“

Der Mediziner weiß, dass sich auch Jungs durchaus Sorgen um ihre Gesundheit machen. Sie neigen aber dazu, bei Krankheitszeichen erst einmal abzuwarten. Ihre Beschwerden sind ihnen einfach nur peinlich, und Hilfe suchen werten sie als Zeichen von Schwäche. Sie gehen deshalb seltener zum Arzt und nehmen auch Beratungsangebote seltener in Anspruch.

Stier betont: „Auch männliche Jugendliche brauchen einen Arzt, der ihre spezifischen Probleme, Ängste und Verhaltensweisen versteht. Wir sollten ihnen mehr geschlechterbewusste Beratungsangebote machen, um ihre Gesundheitskompetenz zu verbessern.“

Auch Jungen sollten eingehend über die ärztliche Schweigepflicht informiert werden, damit sie das nötige Vertrauen fassen, auch über ihnen besonders peinliche Erkrankungen, etwa im Bereich ihrer Geschlechtsorgane, zu sprechen.

Ein wichtiges Anliegen des Kinder- und Jugendarztes: Jungen sollten zur Selbstuntersuchung der Geschlechtsorgane und auch der Brust angeleitet werden. So können Erkrankungen von Hoden, Vorhaut und Brustdrüsen frühzeitig erkannt und behandelt werden.

Ein von Stier entworfener Flyer mit dem griffigen Titel „Achte auf deine Nüsse“ wird vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte den an der Jungenmedizin interessierten pädiatrischen Praxen zur Verfügung gestellt

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