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Psychologie Prokrastination

Was bei chronischem Aufschiebeverhalten hilft

Manchmal lassen sich Probleme gut aussitzen – dann kann das Aufschieben sinnvoll sein. Bei manchen Menschen verselbstständigt sich die „Aufschieberitis“ aber. Sie können ihr Leben dann kaum noch regeln Manchmal lassen sich Probleme gut aussitzen – dann kann das Aufschieben sinnvoll sein. Bei manchen Menschen verselbstständigt sich die „Aufschieberitis“ aber. Sie können ihr Leben dann kaum noch regeln
Manchmal lassen sich Probleme gut aussitzen – dann kann das Aufschieben sinnvoll sein. Bei manchen Menschen verselbstständigt sich die „Aufschieberitis“ aber. Sie können ihr Leben ...dann kaum noch regeln
Quelle: © Ann-Kathrin Mühlen/ Gestaltung Maud Radtke
Bis zu 20 Prozent der Erwachsenen leiden unter krankhafter Prokrastination. Sie können ihr Leben nicht mehr regeln. Trainings sollen ihnen helfen, den Alltag wieder in den Griff zu bekommen.

Manche Menschen sind zum Schriftsteller berufen – oder glauben es zumindest. Der Erzähler in Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ glaubt es. Und er leidet. Denn seine Berufung kollidiert mit einer, wie er es nennt, krankhaften Willensschwäche. Er möchte ja schreiben, jeden Tag. Aber er kann nicht.

Er hangelt sich von Vorsatz zu Vorsatz, um immer wieder festzustellen: „Unglücklicherweise war der folgende Tag auch nicht der den Dingen zugewendete, aufnahmebereite, auf den ich fieberhaft harrte. Als er zu Ende gegangen war, hatten meine Trägheit und mein mühevoller Kampf gegen gewisse innere Widerstände nur vierundzwanzig Stunden länger gedauert.“

Die träumerische Selbstüberschätzung des armen, von der Muse ungeküssten Erzählers, die Beschönigung seines Problems, der innere, in der Resignation endende Kampf – all das sind klassische Merkmale der Aufschieberitis, wie sie nicht nur angehende Großschriftsteller kennen. Das Wort hat einen negativen Beiklang. Es kostet schließlich Anstrengung, Wichtiges auszublenden und sich mit Unwichtigem abzulenken. Und es macht ein ordentlich schlechtes Gewissen, sich wieder einmal erfolgreich um das Wesentliche gedrückt zu haben.

Statt endlich die Steuererklärung zu machen wird die Wäsche gewaschen, der Kühlschrank abgetaut, die Schuhe werden geputzt. Es klingt nach mangelnder Selbstkontrolle, nach Verantwortungslosigkeit – und die Angst zu scheitern ist auch nicht fern.

Aufschieben kann nützlich sein

Dabei ist gelegentliches Aufschieben, oder Prokrastination, wie es in der Fachwelt heißt, zutiefst menschlich. Jeder macht es mal. Weil größere Vorhaben immer geplant werden müssen und nicht sofort erledigt werden können. Und weil das Aufschieben auch nützlich sein kann – viele unangenehme Anforderungen lassen sich auch effektiv aussitzen. Gut die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung gibt an, Unangenehmes oft bis zum letzten Moment hinauszuzögern.

Manche von ihnen entwickeln sich aber zu chronischen Aufschiebern, die alles vor sich herwälzen, was möglich ist – selbst Dinge, die eigentlich angenehm sind: Freunde treffen, ins Kino gehen, den Urlaub planen. Sie setzen sich unrealistische Ziele, planen ihre Zeit nicht richtig, setzen keine Prioritäten. Je nach Studie sind das zwischen 15 bis 20 Prozent der Erwachsenen. Bei einigen hilft ein simples Training – bei anderen aber stecken tiefer liegende Probleme hinter dem Aufschieben. Solange sie bestehen, ändert sich auch am Aufschieben nichts.

Lohnt sich die Flucht vor den Aufgaben?

Es fängt meist ganz harmlos an. Eine Seminararbeit ist fällig, ein ungeliebtes, weil schwieriges Projekt oder ein nerviger Behördenantrag. Kaum sitzt man am Schreibtisch, spürt man einen Impuls, der Hunger sein könnte oder Durst. Damit fängt es an, das Aufschieben – und der Selbstbetrug, sagt Hans-Werner Rückert. Er leitet die psychologische Beratung an der Freien Universität in Berlin. Ehe man sich versieht, führt der Weg in die Küche – und von dort aus überall hin, nur nicht an den Schreibtisch zurück.

Rückert hat 1999 das erste Buch zum Thema Aufschieben geschrieben, und hält oft Workshops in der jüngst eröffneten Prokrastinationspraxis der Uni dazu ab. Auf der ersten PowerPoint-Folie steht dann: „Informationsveranstaltung ,Schluss mit dem ewigen Aufschieben‘... beginnt heute etwas später.“

Wer dem verlockenden Impuls folge, sagt er, der bringe seinem Gehirn schnell bei: Die Flucht vor wichtigen Aufgaben lohnt sich. Denn die Ersatzhandlungen, die man stattdessen macht, führen zu einem Wohlgefühl. Entweder, weil sie einfach angenehm sind, wie Essen und Trinken, oder aber weil die Ersatzhandlungen andere Pflichten darstellen, denen man schon lange mal nachkommen wollte. „Es fühlt sich an, als hätte man trotzdem Wichtiges erledigt“, sagt Rückert. „Das schlechte Gewissen braucht seine Zeit, bis es sich meldet. Und dann ist es zu spät.“

Jeder schiebt auf – aber bei manchen wird es zum Problem

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Natürlich spielt es für diese Impulse eine Rolle, um welche Aufgaben es geht, wie relevant sie für einen sind und ob man das Gefühl hat, selbstbestimmt und erfolgreich an ihnen arbeiten zu können. Aber wer gern aufschiebt und wer eher nicht, das hängt zu einem großen Teil auch von der Persönlichkeit ab, wie die Psychologin Katrin Klingsieck von der Universität in Paderborn herausfand. Sie veröffentlichte 2013 einen sogenannten Review – eine Übersicht über alle Studien zum Thema Prokrastination, die bisher erschienen sind.

„Schiebt jeder Mensch auf? Ja, sicherlich“, sagt sie. „Aber nicht bei allen wird es zu einem solchen Problem, dass es den Alltag beeinträchtigt.“ Belastend wird es ihrer Untersuchung zufolge eher für jene, die emotional nicht sehr stabil sind. Vor allem dann, wenn sie zudem wenig gewissenhaft sind – also eher unordentlich, unorganisiert, und unpünktlich. Perfektionisten tappen häufig in die Aufschiebefalle, weil ihr hoher Anspruch sie daran hindert, Projekte zu beenden oder überhaupt anzufangen. Gefährdet sind auch Pessimisten und Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl.

Weil nicht jedes Aufschieben irrational ist, unterscheidet Klingsieck zwischen der Prokrastination und dem strategischen Aufschieben. Denn hinter jeder Form steckt eine andere Motivation. Während man bei der Prokrastination vor allem die Unlust beim Arbeiten vermeiden will, ist das strategische Aufschieben manchmal sinnvoll – etwa wenn man lästige Arbeiten verschiebt, weil zwischenzeitlich noch hilfreiche Informationen zu erwarten sind.

Zwei Arten des Aufschiebens

Zwei Typen von Aufschiebern gibt es laut Rückert. Der Erregungsaufschieber ist ein Adrenalinjunkie: Er mag das Hochgefühl, das entsteht, wenn man Arbeiten auf den letzten Drücker fertigstellt. Dafür anfällig sind nicht nur Kreative und Freiberufler, sondern auch Berufsgruppen, deren Alltag sonst eher wenig aufregend ist. „Juristen etwa schieben sehr gern auf“, sagt Rückert. „Nach drei Tagen Stress läuft ihnen das Adrenalin aus den Ohren, ein bombiges Gefühl.“ Außerdem habe man hinterher immer eine gute Geschichte zu erzählen.

Ausreden, ein wichtiges Element beim Aufschieben, fallen auch dem zweiten Typ ein, dem Vermeidungsaufschieber. Er hält nichts vom Hochgefühl, sondern verbindet die Arbeit mit soviel Negativem, dass er aus einem Bedürfnis nach Selbstschutz aufschiebt. Wer sich nur Dinge vornimmt, aber nichts erledigt, der hält alles in der Schwebe: Er kann sich selbst und andere nicht enttäuschen, nicht versagen. Das Aufschieben ist dann eine Möglichkeit, Erwartungen oder Konflikten aus dem Weg zu gehen.

Aufschieben mindert den Erfolg

Langfristig kann Aufschieben, egal aus welchen Gründen, aber wirklich schaden, wie Klingsiecks Untersuchung zeigt. Wer chronisch prokrastiniert hat weniger akademischen oder beruflichen Erfolg, ist finanziell schlechter aufgestellt und verfällt eher in depressive Verstimmungen. Umlernen ist möglich, dauert aber eine Weile, sagt Malte Leyhausen. Der Psychologe berät und coacht chronische Aufschieber und ist Autor des Buches „Jetzt tu ich erst mal nichts – und dann warte ich ab: Wie es sich mit Aufschieberitis gut leben lässt“.

Wer zu ihm kommt, lernt die BAR-Methode. Sie steht für Bewusstheit – Aktion – Rechenschaft. Die Aufschieber lernen, sich ihr Problem und die Ursachen dafür bewusst zu machen. Schieben sie auf, weil sie nicht hinter ihrem Ziel stehen? Weil sie ein Ziel verfolgen, das nicht zu ihnen passt? Weil ihnen die Techniken fehlen, ein Vorhaben in die Tat umzusetzen? Sind die Motive hinter dem Aufschieben klar, werden die großen Aufgaben in kleinste Häppchen zerteilt, und diese in sehr knapp bemessenen Zeiten erledigt. Dabei legen die Aufschieber täglich Rechenschaft ab über Fortschritte und Probleme. Wichtig sei auch, sagt Leyhausen, die Arbeit mit etwas Schönem zu verbinden, sich für jeden Schritt in die richtige Richtung zu belohnen. Also erst 20 Minuten schreiben, und dann dem Impuls Richtung Kühlschrank folgen.

Ein bisschen Praxis in Selbstmanagement hätte wohl auch dem Erzähler in Prousts Hauptwerk gut getan. „Ich machte es wie bisher“, lässt Proust ihn viele Seiten später sagen, „Ich ließ wieder, ohne irgendetwas zu tun, Regenschauer und helle Durchblicke zwischen den Wolken vorbeiziehen, während ich den festen Vorsatz fasste, mit der Arbeit am nächsten Tag zu beginnen.“ Weltberühmt ist er trotzdem geworden.

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