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Warum wir Vorurteile nicht loswerden können

Menschen verinnerlichen die Vorurteile die gegen sie ausgesetzt werden. Menschen verinnerlichen die Vorurteile die gegen sie ausgesetzt werden.
Menschen verinnerlichen die Vorurteile die gegen sie ausgesetzt werden.
Quelle: dpa/Jens Schierenbeck
In Bruchteilen von Sekunden entscheiden wir, ob jemand vertrauenswürdig, intelligent oder kriminell aussieht. Manchmal ordnen wir einen Menschen gar nach seinem Namen ein. Unser Leben wird von Vorurteilen geleitet. Dabei sind diese nicht harmlos – und fast unmöglich aus dem Bewusstsein zu löschen.

"Gewisse Vorurteile hat jeder Mensch“, war Sir Peter Ustinov überzeugt, „sonst könnte er nicht einmal seine Koffer packen.“ So lassen sich Urlauber vor der Reise nach Indien gewissenhaft impfen, auch gegen Krankheiten, die dort gar nicht grassieren. Der Polenreisende prüft mehrmals nervös, ob das Auto auch abgeschlossen, die Alarmanlage wirklich aktiv ist. Schließlich möchte man ja nicht mit der Bahn heimfahren. Harmlos? Nein – fand Ustinov und schrieb mit „Achtung! Vorurteile“ ein Buch über den „womöglich größten Schurken in der Geschichte von uns Menschen“.

Denn die Grenze zwischen harmlosen Witzeleien und verletzenden Vorurteilen ist fließend. Selbst der dümmste Blondinenwitz hinterlässt seine Spuren und prägt sich fest in unser Gehirn ein. Mit einem primitiven Auftrag: uns das Denken zu erleichtern. „Der Mensch ist ein kognitiver Geizkragen“, sagt Lars-Eric Petersen, Psychologe und Mitherausgeber des Buches „Stereotype, Vorurteile und soziale Diskriminierung“, „er versucht, mit so wenig Denkarbeit wie möglich durch das Leben zu kommen.“

Dafür teilen wir die Welt in möglichst einfache Kategorien ein. In Alt und Jung, männlich und weiblich, schwarz und weiß, dick und dünn – um nur die offensichtlichsten zu nennen. Die Flut an Informationen wird so zu kleinen, verdaubaren Häppchen gefiltert. Je weiter oder globaler eine Kategorie gefasst wird, desto mehr individuelle Informationen gehen dabei über ihre Mitglieder verloren. Das verführt zu Verallgemeinerungen und Stereotypen. „Bei Vorurteilen kommt eine starke emotionale Komponente hinzu“, erklärt Petersen. Sie lassen uns nicht kalt, lösen Misstrauen oder Verachtung aus. „In neun von zehn Fällen sind Vorurteile negativ.“ Dabei kommen sie selten so laut und rüpelhaft daher wie an Stammtischen. Meist sind sie sehr viel diskreter und werden in unserem Denken ohne unser Zutun und oft auch gegen unseren Willen aktiviert.

Aus dem Unterbewusstsein in das Leben

Eine Hinterhältigkeit, die Joshua Correll von der Universität Chicago 2002 in einem Experiment näher untersuchte. In schnellem Wechsel erschienen auf einem Bildschirm Fotos von schwarzen oder weißen Männern. In der Hand entweder eine Waffe oder ein harmloser Fotoapparat. Die Testpersonen wurden gebeten, die bewaffneten Männer zu erschießen. In Sekundenschnelle mussten sie nun entscheiden, ob der eingeblendete Mann eine Gefahr darstellt oder nicht.

Der Zeitdruck führte zu einer hohen Fehlerquote. Doch wesentlich häufiger erschossen die Probanden unbewaffnete Schwarze als unbewaffnete Weiße. Scheinbar brachten sie eine dunkle Hautfarbe automatisch mit Gefahr in Verbindung, und es blieb keine Zeit, diese Einordnung zu überdenken. Bemerkenswert ist dabei vor allem, dass der Effekt bei allen Testpersonen zu beobachten war – unabhängig von ihrer eigenen Hautfarbe.

Aber wie entstehen solche Vorurteile? Um eine Antwort auf diese Frage zu finden, hat sich Juliane Degner entschieden, Psychologie zu studieren. Mittlerweile hat sie ihr Studium abgeschlossen, lehrt an der Universität Amsterdam und ist Mitglied der DFG-Forschergruppe „Diskriminierung und Toleranz“. Beantworten kann sie die Frage jedoch noch immer nicht. Zumindest nicht eindeutig.

„Wir werden mit der Fähigkeit geboren, zwischen der eigenen und einer fremden Gruppe zu unterscheiden“, sagt Degner. Schon Babys betrachten Gesichter, die der eigenen Gruppe zugeordnet werden, wesentlich länger. Auch lernen sie schnell, diesem Unterschied eine soziale Bedeutung beizumessen. Und – „natürlich sympathisieren wir dabei mit unserer Gruppe und stellen sie über die Fremdgruppe. Purer Selbstschutz“, sagt Degner.

Wie die Fremdgruppe dann beurteilt wird, hängt von verschiedenen Faktoren ab. Vom Elternhaus beispielsweise und vom sozialen Umfeld, von eigenen Erfahrungen und von Medienberichten. Genauso gibt es Stereotype, über die in einer Gesellschaft weitgehend Konsens besteht. So gelten Frauen als emotional, Männer als triebgesteuert.

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Durch Trends geprägt

Dabei sind Vorurteile durchaus abhängig von der Gesellschaft und unterliegen Trends. So, wie Models seit den 1950ern kontinuierlich dünner wurden, wuchs die Benachteiligung dicker Menschen. „Es ist relativ neu, Vorurteile gegenüber dicken Menschen zu haben“, sagt Degner. „Früher war das Gegenteil der Fall. Dick war nur, wer reich war. Also etwas Positives.“

So kultiviert jeder Mensch seinen eigenen Jahrmarkt an Vorurteilen. Nichts und niemand bleibt von ihnen verschont. Vom lichtscheuen Informatiker bis zum rücksichtslosen Audi-Fahrer. Dabei klammern wir uns an jeden noch so dünnen Strohhalm. Schon mit der kleinsten Information über einen Menschen suchen wir die passende Schublade für ihn.

Ein Vorname scheint zunächst nichts über einen Menschen auszusagen. Doch bei Elfriede, Sieglinde oder Horst haben wir andere Personen vor Augen als bei Laura, Anna oder Jonas. Der Psychologe Udo Rudolph von der Technischen Universität Chemnitz fand heraus, dass ein Name für uns eine wahre Flut an Informationen bereithält. Namen sind Modeerscheinungen und lassen so Rückschlüsse auf das Alter der Person zu. Außerdem wird aus dem Namen auf das Aussehen und die Intelligenz der Person geschlossen. Eine wahre Vorurteilsorgie. Und was hier noch relativ banal klingt, kann enorme Auswirkungen haben, wie Marianne Bertrand von der Universität Chicago in ihren Studien herausfand. In den Vereinigten Staaten werden Bewerbungen prinzipiell ohne Foto verschickt. So gilt der erste Blick nicht dem Bild, sondern der ersten Information – dem Namen des Bewerbers.

Also verschickte Bertrand fingierte Bewerbungen an verschiedene Unternehmen. Die einzige Variable: der Name. Einmal benutzte sie Namen, die besonders weiß klangen, wie Emily Walsh oder Brendan Baker. Für andere Bewerbungen Namen wie Lakisha Washington oder Jamal Jones, die in der schwarzen Bevölkerung besonders beliebt sind. Emily und Brendan wurden doppelt so häufig zu Bewerbungsgesprächen eingeladen wie Lakisha oder Jamal. Das zeigt: Namen sind perfekte Vehikel für Vorurteile.

Statt Vorurteile zu löschen, formt man neue

Wenn sich Vorurteile erst mal etabliert haben, sind sie nur schwer wieder loszuwerden. Wie Parasiten haben sie Überlebensstrategien entwickelt, um hartnäckig in unserem Bewusstsein kleben zu bleiben. So werden Informationen, die nicht zu einem Stereotyp passen, kurzerhand ausgelagert. „Wenn alle Frauen für mich ,Heimchen am Herd‘ sind, fallen dabei natürlich einige Frauen aus dem Muster“, erklärt Petersen. Doch anstatt erfolgreiche Frauen mit einzubeziehen und die Schublade zu erweitern, wird eine neue geöffnet. Da eine erfolgreiche Frau nicht in das ursprüngliche Heimchen-Klischee passt, wird für sie die Gruppe der Karrierefrau geschaffen. „So bekommt die erfolgreiche Frau einen neuen Stempel, und das ursprüngliche Stereotyp bleibt unverändert bestehen“, sagt Petersen.

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Informationen, die mit unseren Vorurteilen Hand in Hand gehen, werden viel leichter wahrgenommen. Bei widersprechenden Informationen neigen wir dazu, sie vorurteilsgerecht hinzubiegen. Doch nicht nur die Wahrnehmung ändert sich durch Vorurteile, sie prägen auch unser Verhalten. Der amerikanische Psychologe Robert Rosenthal führte in den 1960ern bei Schülern einen Intelligenztest durch. Dem Lehrer der Klasse jedoch gab er nur eine zufällige Auswahl an Namen. Diese Schüler seien „Spätzünder“ und würden im nächsten Schuljahr aufblühen, teilte Rosenthal dem Lehrer mit. Der Lehrer veränderte daraufhin sein Verhalten gegenüber diesen Schülern. Er förderte sie mehr, sorgte für ein besseres Arbeitsklima und ermutigte sie.

Das wirkte sich wiederum auf die Schüler aus. Sie wurden selbstbewusster, trauten sich mehr zu und arbeiteten fleißiger. Nach acht Monaten wurde der Intelligenztest wiederholt – die willkürlich ausgewählten „Spätzünder“ schnitten tatsächlich deutlich besser ab als im ersten Test. Sie waren zu dem geworden, was Rosenthal ihnen zufällig und über die Bande des Lehrers gespielt auferlegt hatte. Pygmalion- oder Rosenthal-Effekt wird dieses Phänomen heute in der Psychologie genannt, allgemein bekannt als „selbsterfüllende Prophezeiung“.

Menschen wissen es, wenn sie unter Vorurteil stehen

Doch die Erwartungshaltung, die an Vorurteile geknüpft ist, kann auch negative Auswirkungen haben. So ist den meisten Menschen durchaus bewusst, wenn ihnen Vorurteile entgegengebracht werden. Das führt dazu, dass sie Angst davor haben, diese zu bestätigen.

Eine Angst, die lähmt. Bei einem Mathematiktest reicht die Ankündigung „dieser Test ist geschlechtssensitiv“, und Frauen schneiden wesentlich schlechter ab. Einmal auf ihr Geschlecht aufmerksam gemacht, wird unbewusst das Vorurteil „Frauen sind mathematisch unbegabt“ aktiviert. Genauso schneiden Männer schlechter ab, wenn ihre Sprachkompetenz gefragt ist.

Vorurteile sind somit weder harmlos noch witzig. Doch Schubladen lassen sich nicht so einfach abschaffen. Juliane Degner hält ein vorurteilsfreies Leben für eine Utopie. „Aber wir können sie uns bewusst machen und dafür sorgen, dass sie unsere Entscheidungen und unser Verhalten nicht beeinflussen.“ Eine Verantwortung, die jeder für sich übernehmen sollte. Sie teilt die Meinung von Sir Peter Ustinov, der schrieb: „Es spricht vieles dafür, dass in einem leeren Kopf die Vorurteile besonders blühen.“ Degner drückt es einfacher aus: „Das beste Mittel gegen Vorurteile ist – sich Zeit zum Denken nehmen“

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