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Partnerschaft Keine „wilde“ Kindheit

Verweichlichen unsere Kinder, weil wir sie überbehüten?

Wer keinen Frosch geküsst hat, war nie richtig Kind? Wer keinen Frosch geküsst hat, war nie richtig Kind?
Wer keinen Frosch geküsst hat, war nie richtig Kind?
Quelle: Getty Images/Elva Etienne
Eltern wollen ihre Kinder gerne vor jedem Übel bewahren. Geht das – und was macht es aus den Kleinen? „Weicheier“, fürchtet eine „Stern“-Kolumnistin. Das stimmt nicht, meint unsere Autorin.

Am Tisch aßen die Erwachsenen, darunter untersuchte ein neun Monate altes Baby ihre Schuhe auf Straßendreck. Die Mutter des Babys war tiefenentspannt, auch dann noch, als ihr Kind die Stufen hinter dem Esstisch herauf und wieder herunter krabbelte. Das Kind gluckste fröhlich, die Mutter unterhielt sich gut, aber einige Dinnergäste schauten besorgt: Was, wenn sich das Kind den Kopf am Tisch stößt? Von der Treppe fällt? Sich Hundekot in den Mund schiebt? Nichts davon passierte.

Insgeheim bewunderte ich die Frau um ihren lässigen Umgang mit ihrem Kind. Viele Eltern hätten so ein kleines Baby wohl nicht allein durch den Raum krabbeln lassen – wenn sie es denn überhaupt zu einem Abendessen mitgebracht hätten. Bei Instagram sehe ich Eltern, die die Ecken ihrer Couchtische abkleben, damit sich die Kinder nicht stoßen. Im Bekanntenkreis verfolgt mindestens eine Mutter per Tracking-App auf dem Handy, wann und wo sich der schulpflichtige Nachwuchs hinbewegt. Und meine eigenen Eltern können nicht nachvollziehen, warum ich meine Tochter niemals allein in einem Hotelzimmer schlafen lassen würde, um noch ein Bier an der Bar zu trinken.

Zu viel Sicherheit?

Väter und Mütter wünschen sich, dass ihre Kinder sicher aufwachsen, am liebsten würden sie sie vor allem beschützen. Auch davor, vom Klettergerüst zu fallen oder auf einem Kindergeburtstag nicht sofort einen Spielkameraden zu finden. Viele nennen solche Eltern herablassend „Helikoptereltern“, weil sie angeblich andauernd um den Nachwuchs herumschwirren und ihn mit Übervorsicht davon abhalten, eine freie und wilde Kindheit zu erleben.

Denn die habe es mal gegeben, meinen Menschen, die vor 30 oder 40 Jahren Kind waren. Sie verbrachten ihre Nachmittage ohne nörgelnde Erwachsene in Wäldern und Parks und stellten dabei auch mal dummes Zeug an. Dafür kamen sie dann vielleicht mit Schrammen nach Hause oder hatten zu viele Süßigkeiten gegessen. Meine eigene Kindheit auf dem Dorf war ein wenig so: Um 18 Uhr, wenn die Kirchturmglocke läutet, musste ich nach Hause gehen. Ansonsten interessierte meine Eltern kaum, was ich so trieb. Mit Freundinnen baute ich ein Baumhaus auf einem sicherlich 15 Meter hohen Baum, der weitab unseres Ortes in einem Waldstück stand. Mein Vater gab mir Hammer und Säge mit, da waren wir vielleicht elf.

Und heute? Lassen manche Eltern ihre Kinder sich noch im Schulalter an Kindermessern ohne funktionierende Klinge abmühen. Eine Kolumnistin des „Stern“ findet das übertrieben, mehr noch: Sie findet es schädlich. Überbesorgte Eltern verziehen ihre Kinder zu „Weicheiern in Outdoorkleidung“, lautet ihre Überzeugung. Sie bereiten sie nicht auf die Widrigkeiten des Lebens vor, nehmen ihnen alles ab, ermöglichen ihnen keine Autonomie, verhindern, dass sie selbstbewusst werden. Obwohl sie doch selbst „Rabauken“ waren, früher, und das auch sein durften.

Eine steile These. Wie überhaupt alles eine steile These ist, das über die Eltern und die Kinder Allgemeingültigkeit behauptet, wo es sehr wahrscheinlich keine gibt. Denn es gibt ja alles, die entspannte Mutter des Babys oben genauso wie die Eltern mit den Tracking-Apps, Eltern auf dem Land und in der Stadt (das macht einen Unterschied!). Sicherlich beschäftigen sich Eltern heute mehr mit ihren Kindern als es noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war. Sie wollen ihren Kindern gerecht werden und sie fördern, wo es möglich ist. Ich kenne trotzdem kein einziges Kleinkind mit Chinesisch-Unterricht, und ich wohne in Berlin Prenzlauer Berg. Wo sind die Kinder mit mehr Terminen als Managerinnen? Die gar keine Zeit mehr haben, Kind zu sein?

Interessant ist doch, dass Kritik an Eltern dieser Tage vor allem in eine Richtung geht: Angeblich bemühen sie sich zu viel. Vielleicht spricht da aus der Großelterngeneration, von der das überwiegend kommt, auch etwas Bedauern. Damals war es normal, dass die Kinder einfach so „mitliefen“, dass sie sich selbst beschäftigten. Die Erwachsenen hatten schlicht und ergreifend noch mehr zu tun, allein im Haushalt. Mittlerweile müssen Eltern nicht mal mehr den Wocheneinkauf machen, wenn sie lieber mit ihren Kindern auf den Spielplatz gehen wollen – kann man schließlich alles liefern lassen.

Ist es nicht schön, dass Eltern und Kinder sich vielfach näher sind, als es früher der Fall war? Wieso wird diese Nähe mit Kontrolle und Überfürsorge gleichgesetzt? Dass aus Kindern, um die man sich viel und gerne kümmert, später einmal „Weicheier“ werden, darf jedenfalls längst als widerlegt gelten. Man muss sich nur die erste Kindergeneration der sogenannten Helikoptereltern ansehen, die jetzt mit 12, 13 oder 14 für Friday‘s For Future auf der Straße demonstriert. Mag schon sein, dass diese Jugendlichen sich nie an der Kante eines Couchtisches gestoßen haben, weil ihre Eltern sie selbst davor bewahrt haben, deshalb stehen sie nicht weniger entschlossen für ihre Zukunft ein.

Der Kinderarzt Herbert Renz-Polster („Kinder verstehen“, Kösel) hat in einem Interview gesagt, das Entscheidende in der Kindererziehung sei „Autonomie in Verbundenheit“ zu fördern. Also das Gefühl, dass da immer eine sichere Elternbasis ist, auf die sich die Kinder in ihrem Bestreben nach mehr Selbstständigkeit stützen können. Sicherheit spielt also eine wichtige Rolle – und Eltern, die sie bieten, machen gewiss keinen Fehler.

In der Kolumne „Kindskopf“ schreiben zwei Mütter (die Kinder sind vier und elf Jahre alt) über alles, was sie beschäftigt. Von den besten Hebammen-Ratschlägen bis zu fiesen Mütter-Kommentaren. Alle Folgen finden Sie hier.

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