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Bühne und Konzert Familiendrama

Corinna Harfouch altert zehn Jahre in fünf Sekunden

Feuilletonredakteur
Ein bisschen Ödipus steckt in jedem Sohn: Pawel (Alexander Khuon) nähert sich seiner Mama Wassa (Corina Harfouch) unziemlich Ein bisschen Ödipus steckt in jedem Sohn: Pawel (Alexander Khuon) nähert sich seiner Mama Wassa (Corina Harfouch) unziemlich
Ein bisschen Ödipus steckt in jedem Sohn: Pawel (Alexander Khuon) nähert sich seiner Mama Wassa (Corina Harfouch) unziemlich
Quelle: dpa
Regisseur Stephan Kimmig hat Gorkis Stück „Wassa Schelesnowa“ in Berlin ganz nahe an die Gegenwart gerückt. Viel wichtiger als jede Interpretation ist aber die grandiose Leistung der Schauspieler.

Wenn Tschechow ein Samowar ist, ist Gorki ein Wasserkocher für den Teebeutelaufguss: Alles Sehnsüchtige und Folkloristische, das bei dem einen noch durchscheint, hat der andere abzustreifen versucht, bis nur noch proletaroide und romantische Robustheit übrig bleibt. Dass ihm das glücklicherweise nicht ganz gelungen ist, zeigt sich darin, dass man Gorkis Stück auf Wunsch immer ein bisschen wie etwas dünnere Teebeutel-Tschechows spielen kann.

Der Regisseur Stephan Kimmig und die Dramaturgin Sonia Anders, die eine neue Stückfassung anfertigte, haben nun versucht, Gorki den letzten Hauch des Samowaresken auszutreiben. In Kimmigs Inszenierung von „Wassa Schelesnowa“ im Deutschen Theater Berlin ist der bedeutsame Fetisch eine von diesen bodenvasengroßen Thermoskannen, die man aus Fortbildungs-Seminarräumen, Konferenzen und anderen höllischen Unorten kennt.

Das Fuhrgeschäft wurde eine Container-Spedition

Gorki ist auch sonst weitestgehend in die schale Gegenwart transportiert. Aus Wassas Fuhrgeschäft wurde eine mittelständische Containerspediton, und die Kostüme, die auf der Bühne auf Ständern hängen und während der Aufführung mehrfach gewechselt werden, sind aktuelle. Wenn Wassas erotisch verantwortungslose Schwiegertochter Ljudmilla die Matriarchin beschwört, wie schön es doch bei der gemeinsamen Gartenarbeit war, erwartet man immerfort, dass sie sich als nächstes darüber beschwert, dass Wassa ihr „Landlust“-Abo gekündigt hat, um zu sparen.

Denn Geld zirkuliert in diesen Familienbetrieb schon lange nicht mehr, das müssen die Kinder am Ende erfahren, als sie ihre Mutter zwingen wollen, sie „auszuzahlen“. Stattdessen werden die Beziehungen durch die Fluktuation weitaus preiswerterer Flüssigkeiten definiert: Tee vor allem, ja, aber auch Körpersäfte, die vor allem Ljudmilla und Wassas Schwager und Gläubiger Prochor (Michael Goldberg) austauschen, aber auch, so wird es angedeutet, die Chefin und ihr Geschäftsführer.

Die Familie ist ein Geschäftsmodell

Die Überzeugung, die der Inszenierung nicht allzu verborgen zu Grunde liegt, ist, dass die Familienbeziehungen und überhaupt die Sphäre des Privaten in den letzten 100 Jahren noch weiter ökonomisiert worden sind als sie es – nach Gorkis Darstellung – schon damals waren. Man muss auf den Wahrheitsgehalt dieser These keine Kopeke geben und kann die Aufführung dennoch streckenweise mit staunend offenem Mund genießen. Denn es sind die Schauspieler, die hier regieren, nicht der Programmbuchstuss.

Im gewollt hässlichen Bühnenbild von Katja Haß ist Corinna Harfouch als Wassa die Königin im Zentrum des Wahnsinns. Sie dominiert die anderen, so wie sie ihre Familie beherrscht, und andere Schauspielhöchstleistungen ergeben sich fast immer in direkter Konfrontation mit ihr. Sie schafft es, diesen verzweifelten Mutterdragoner – streng gegen sich selbst und noch strenger gegen andere – unaufdringlich als Liebesuchende ein bisschen sympathisch zu machen. Und verglichen mit ihrer Brut, die genauso gierig, aber weniger diszipliniert ist als die Mutter, ist sie das ja auch. Wenn Wassa am Ende gewahr wird, dass all ihre Machenschaften wirkungslos waren, gelingt es Corinna Harfouch vor den Augen des Publikums um zehn Jahre zu altern.

Um diese Wassa Harfouchowa herum sind lauter Schauspieler, die hier in der Finsternis des Familienuntergangs heller leuchten als sonst meist im Alltagsgeschäft des Deutschen Theater üblich: Heraus ragen Alexander Khuon als der von seiner Ehefrau gedemütigte Sohn, der seine Gebärerin einmal mit einer angedeuteten Vergewaltigung daran erinnert, dass der Mutterschoß keine Einbahnstraße ist, Bernd Stempel als Geschäftsführer, der Wassa mit bürokratischer Trockeneiskälte klar macht, das Mord eine Option sein könnte und Katharina Marie Schubert als Ljudmilla, die sich bei ihrer Suche nach etwas jenseits des ökonomischen Geflechts an niemand unpassenderen hätte wenden können als an den Viagragockel Prochor.

Der Regisseur hatte eine große Chance und nutzte sie

Aber auch Regisseur Kimmig ist zu loben. Er, der unter dem frischen Eindruck einer schlimm an die Wand gefahrenen „Demetrius“-Inszenierung und eines viertelgaren „Kirschgarten“ von mir schon mal völlig übertrieben gedroschen wurde, erweist sich als der einzige Stammregisseur des DT und seines Intendanten Ulrich Khuon, der Verlässlichkeit und Innovation einigermaßen zuverlässig auszubalancieren in der Lage ist. Während Andreas Kriegenburg (durchaus zu meinem Bedauern) in einer Art esoterischem Bastelpuppentheater versunken ist, wusste Kimmig die Zaubermittel, die ihm mit einer Schauspielerin wie Corinna Harfouch zu Verfügung gestellt wurden, auch zu nutzen. Das ist in der Vergangenheit nicht jedem Regisseur gelungen – am allerwenigsten der Schauspielerin höchstpersönlich, wenn sie sich mal selbst inszenierte.

Termine: 24./25. Mai, 16./23./24. Juni, 2. Juli

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