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Literatur Poesie des Aborts

Peter Handke ehrt das Örtchen

Abgeschlossenheit, „Nächstenferne“? Was zum Schreiben hätte dieser junge Mann schon mal dabei Abgeschlossenheit, „Nächstenferne“? Was zum Schreiben hätte dieser junge Mann schon mal dabei
Abgeschlossenheit, „Nächstenferne“? Was zum Schreiben hätte dieser junge Mann schon mal dabei
Quelle: Getty Images/Johner RF
Schlüsselerlebnis in der Tempelgartentoilette: Peter Handke setzt die Reihe seiner „Versuche“ fort. Diesmal feiert er den „stillen Ort“. Gott sei Dank ist der Autor nicht Riecher, sondern „Äuger“.

Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Am Nikolaustag, dem 6. Dezember, wird Peter Handke siebzig. Daher lud Österreichs Staatsoberhaupt Heinz Fischer bereits jetzt zu einem Abend für den Dichter. Und der kam tatsächlich in die Hofburg: in die Josephskapelle des Leopoldinischen Trakts, von deren Existenz die meisten Wiener gar nichts wissen.

Ein Maultrommelvirtuose spielte virtuos, und nicht nur der beste Rezitator des Landes, Peter Matić, sondern auch begabte Laien, darunter der Bundespräsident, lasen aus Handkes Werk. Ungeachtet des sakralen Ambientes weder Hochamt noch Society-Peinlichkeit, eher eine Geste der Wertschätzung und des Respekts, fast der Freundschaft.

Halten zu Gnaden, das „Scheißhaus“

Peter Handke revanchierte sich beim Gastgeber mit einem druckfrischen Exemplar seines Buches „Versuch über den Stillen Ort“. Zu Kaisers Zeiten wäre die Gabe eine Majestätsbeleidigung gewesen, in unseren republikanischen: bloß eine hübsche Pointe.

Denn der „Stille Ort“ ist naturgemäß nichts als, mit der Definition aus dem virtuellen Konversationslexikon gesagt: „die sanitäre Vorrichtung zur Aufnahme von Körperausscheidungen (insbesondere Kot und Urin)“. Solch keimfreier Diktion befleißigt sich ein waschechter Schriftsteller freilich nie und nimmer, lieber spricht er, halten zu Gnaden, vom „Scheißhaus“. Das tut auch Peter Handke einmal.

Wie er das tut, kann sich hören und sehen lassen. Kein anderer Autor der Gegenwart brächte derlei zuwege: das Mit- und Ineinander von spottferner Ironie und Ernst, von Pathos und Poesie; im Verknüpfen des vermeintlich Höchsten mit dem vermeintlich Niedrigsten. Es ist in der Tat wieder einmal eine Erkundungsreise, zu der uns Handke hier verführt.

Asyl im Abort-Bezirk

Vor zwei Jahrzehnten hat er sich zyklisch, in einer kleinen Trilogie, mit dieser Form auseinander gesetzt: Auf „Versuch über die Müdigkeit“ (1989) folgten „Versuch über die Jukebox“ (1990) und „Versuch über den geglückten Tag“ (1991). Lauter sehr persönliche Essays, ein stetes Erwägen und Abwägen, eine behutsame Annäherung auf vielen Abseitspfaden an das jeweilige Thema.

Der nunmehrige Versuch eines Versuchs enthält den höchsten autobiografischen Anteil von allen. Erfahrungssplitter aus später Kindheit und früher Jugend, die sich zu fragmentarischen Geschichten weiten, verdeutlichen, wie sehr Handke den „Stillen Ort“ als Rückzugsraum, ja als eine Art Asyl benötigte.

Er war und ist in erster Linie Beobachter, der Betrachter schlechthin, oder wie es da heißt: ein „Äuger“, kein Riecher. Also bleibt uns jeglicher Hinweis auf die im Abort-Bezirk unvermeidliche Geruchsbelästigung verwehrt, beziehungsweise erspart.

„Die Sterne blicken herab“

Um Missverständnisse zu vermeiden: Der Sprachversucher Handke leidet nicht unter einer Latrinen-Obsession, und von einer Häusel-Elegie ist sein erzählender Essay ebenso weit entfernt wie von kulturanthropologischer Feldforschung. Zweifellos hat er diesbezüglich eine Menge Wissenswertes recherchiert – und dann verworfen.

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Sein „lebenslanges Umkreisen und Einkreisen der Stillen Orte und der stillen Orte“ beginnt mit einer literarischen Reminiszenz: an A.J. Cronins Erfolgsroman „Die Sterne blicken herab“.

Einer der jugendlichen Helden, einzig und allein daran vermag sich Handke zu erinnern, sucht des Öfteren das Klosett auf, und zwar „ohne Not“. Er will sich einfach absentieren, der „Stille lauschen“. Und weil der Abtritt kein Dach hat, passt der Titel auch auf diese Szene: „The Stars Look Down“.

Schlüsselerlebnis in der Tempelgartentoilette

Abgeschlossenheit, „Nächstenferne“, Ruhe, Ver- und Geborgenheit sind die Begriffe, die magische Wirkung auf ihn ausüben. Ein Schlüsselerlebnis hatte er einst in einer japanischen Tempelgartentoilette: Er verspürte so etwas wie den Augenblick der wahren Empfindung, die Energie der Stille, die ihm das fremde Land und dessen Leute, den „Fernen Osten“, plötzlich nahe brachte.

Peter Handkes Schriften handeln auch und gerade von Momenten der Epiphanie des „Grundanderen“, die alles, ein ganzes Leben in neues Licht zu tauchen imstande sind. Mit esoterischen Anwandlungen hat derlei wenig zu tun.

Auf seinen Ein-Mann-Expeditionen, den buchstäblichen und den geistigen, sammelt er unermüdlich Eindrücke: Er zieht sie an sich, formt sie um, verleiht ihnen dauerhafte Gestalt. Er zeigt uns die Dinge, wie wir sie vorher nicht wahrgenommen hatten. Der übergenaue Blick des Künstlers, der er ist, hat die Macht des Verzauberns.

„Ziemlich menschenleere Gegend“

Handkes „Versuche“ entstanden in der Regel im Winter, auch der „über den Stillen Ort“. Er wurde in der zweiten Dezemberhälfte 2011 geschrieben, im Département Val-d’Oise, einer „ziemlich menschenleeren Gegend“. Peter Handke frönte seinen Lieblingsbeschäftigungen: dem einsamen Gehen querfeldein, dem Innehalten und dem Innewerden.

Er grüßt einen aus der Wildnis ragenden „tausendjährigen Kirchturm“. Mit Fug und Recht, möchten wir ergänzen, könnte er doch von Van Gogh gemalt worden sein. Er entdeckt eine „Wildschweinfamilie, die, nachdem sie wieder einen Jagdtag überlebt hatte, in der Nacht vielstimmig grunzte im Unterholz gleich neben der Landstraße, wo kein Jäger sie vermutete, sich vielrückig aus dem Fastdunkel sich buckelte und, nein, nicht grunzte, sondern tuschelte, tuschelte und sich buckelte.“

Utopie des Gegenorts

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Und im Wandern und Nachsinnen wird ihm endgültig klar, worin für ihn der Reiz der stillen Orte liegt, auch jener mit Großbuchstaben. Es ist die gelebte Utopie eines Gegenorts zum ohrenbetäubenden Gelärm der Zeit. „Draußen: Verstummen, Verstummtheit, Sprachloswerden, Sprachlosigkeit, Sprache verlieren. Sprachverlust. Einsilbig geworden durch die Worte wie Wörter der andern, von ihnen zum Schweigen gebracht – angeödet – verödet.“

Drinnen jedoch, am Stillen Ort der Stille, nichts als Erleichterung, Befreiung von innerem und äußerem Druck: „Die Sprach- und Wörterquelle springt frisch auf“. Honni soit qui mal y pense. Das „Grölen, Gellen, Toben und Kreischen draußen: verwandelt in Volksgemurmel und Weltgeräusch.“

Und den temporären Einsiedler überkommt die Lust, wenn er seiner Fantasie Beine und Flügel gemacht hat, sich unter die sonst so störenden Leute, die die Seinen sind, zu mischen. Aber das ist eine andere Geschichte.

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