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Die Deutschen sind in der Stimmungsfalle

Redakteur im Feuilleton
Stimmung kann schon mal mit einem durchgehen: Bei der Feier zum WM-Titel 2014 besangen die deutschen Fußballer die unterlegenen Argentinier mit dem Schmach-Song: „So gehen die Gauchos!“ Stimmung kann schon mal mit einem durchgehen: Bei der Feier zum WM-Titel 2014 besangen die deutschen Fußballer die unterlegenen Argentinier mit dem Schmach-Song: „So gehen die Gauchos!“
Stimmung kann schon mal mit einem durchgehen: Bei der Feier zum WM-Titel 2014 besangen die deutschen Fußballer die unterlegenen Argentinier mit dem Schmach-Song: „So gehen die Gauc...hos!“
Quelle: picture alliance/GES/Markus Gilliar
Wer sind wir – und wenn ja, wie anfällig? Der Soziologie Heinz Bude hat die Macht von Stimmungen studiert. Sie entscheiden WM-Feiern, Willkommenskultur und Wahlen. Im Facebook-Zeitalter mehr denn je.

Und, wie ist die Stimmung so? Sie ist jeden Fall immer da. Man kann nicht nicht gestimmt sein, sagt Heinz Bude (mit Paul Watzlawick und Martin Heidegger), und instinktiv stimmen wir ihm zu: Wenn man an die Stimmung beim letzten Stadionbesuch, am Arbeitsplatz oder in bestimmten Lebensabschnitten denkt (Abitur, Geburt des ersten Kindes) – als biografische, individuell erfahrbare Kategorie leuchtet Stimmung sofort ein.

„Aber wie kann man sich den Prozess des Gestimmtwerdens durch eine gesellschaftsgeschichtliche Situation vorstellen?“, fragt Bude, Professor für Makrosoziologie an der Uni Kassel und Spezialist für Zeitgeistthemen wie „Bildungspanik“ (2011) oder „Gesellschaft der Angst“ (2014). Sein neues Buch „Das Gefühl der Welt“ hat das Anliegen, die Macht von Stimmungen als soziologisches Thema zu markieren.

Das Thema liegt in der Luft – nicht nur, weil AfD und Pegida Stimmung gegen die Flüchtlingspolitik machen

Die Kategorie liegt in der Luft, und zwar nicht nur, weil in diesen Tagen jede Landtags-, ja sogar die hessische Kommunalwahl als sogenannter Stimmungstest fürs große Ganze herhalten muss. Aktuelle Protestbewegungen wie Pegida und AfD „machen Stimmung“ gegen die Kanzlerin, die mit ihrer Flüchtlingspolitik „ungefragt unser Land verändert“.

Medien raunten lange vor der Kölner Silvesternacht, dass „die Stimmung kippt“, bevor sie dann tatsächlich kippte. Die Kategorie der Stimmung scheint auch virulent, wenn sich in vielen europäischen Ländern eine islamfeindliche oder wenigstens misstrauische Atmosphäre breitmacht. Europa selbst steht als gedachte Solidar- und Wertegemeinschaft unter Vorbehalt wie noch nie.

Stimmung gegen das Establishment

In Amerika bewirbt sich ein Kandidat ums Präsidentenamt, der eine schon länger schwelende Grundstimmung gegen das politische Establishment in Washington zum Markenkern seiner Kampagne gemacht hat. Und im Internet, wo die unzivilisierte Hassrede Urständ feiert, ist die Stimmung generell gern im Weltverschwörungseimer.

Ein vielleicht Letztes noch, für das Stimmungsbarometer von immerhin 1,5 Milliarden online organisierten Menschen relevant: Facebook hat soeben seine Währung, den Like-Button, für mehr Stimmungen als bloße Zustimmung („Gefällt mir“) diversifiziert. Auch wenn User lieben, lachen, überrascht, traurig oder wütend sind, sollen sie das künftig ausweisen dürfen.

Heinz Bude, Jahrgang 1954, ist Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel
Heinz Bude, Jahrgang 1954, ist Professor für Makrosoziologie an der Universität Kassel
Quelle: picture alliance / dpa

Alles Stimmung, oder was? Bude geht von einem Manko aus: die Sozialwissenschaften hätten sich, von der konkreten Markt- und Meinungsforschung der Umfrageinstitute abgesehen, kaum grundsätzlich mit der Kategorie der Stimmung befasst, die die Philosophie und Ästhetik immerhin seit Kant beschäftigt.

Sprachlich vordergründig haben wir es übrigens mit einem deutschen Sonderweg zu tun: Anders als die meisten anderen Sprachen, die die subjektive und objektive Komponente der Stimmung in zwei Wörter scheiden (mood und atmosphere), impliziert der deutsche Begriff beides, sowohl die persönliche Laune wie die gesellschaftliche Atmosphäre. Und um genau den Konnex geht es Bude.

Gereizte Stimmung

Wenn wir an so manche Silvesterböllerei in deutschen Großstädten denken, leuchtet seine Grunddiagnose sofort ein: Er bescheinigt unserer Gegenwart eine „generelle Stimmung der Gereiztheit“. Die einen – Bude nennt sie „heimatlose Antikapitalisten“ – sind ein bisschen gereizter als die anderen, die bei Bude „Systemfatalisten“ heißen.

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Ein kollektives Unbehagen am Kapitalismus prägt uns alle, glaubt Bude, und zwar sowohl historisch wie gegenwärtig. „Das Gefühl der Welt“ ist keine systematische Gesellschaftsstudie, sondern essayistisch angelegt, in lose Gedankenblöcke gegliedert.

Die Erfindung der „Fühlungsnahme“

Bude skizziert die Stimmung aufeinanderfolgender Generationen (die ihn als Forscher schon länger umtreiben). Er erzählt vom Erfolg epochaler Stimmungsumschwünge, etwa Willy Brandts Losung „Wir wollen mehr Demokratie wagen“, die 1969 zum Ausdruck brachte, dass der Staat sich nicht mehr nur autoritär auf seine Institutionen verlassen konnte, sondern um die „ständige Fühlungsnahme mit den repräsentativen Gruppen unseres Volkes“ bemüht sein wollte.

Mit „Fühlungsnahme“ (gemeint war wohl Tuchfühlung) wurde qua Regierungsverlautbarung deutlich, dass „Stimmung die Münze der Politik“ ist.

Zur allerjüngsten Stimmungsgeschichte des Landes zählt die Willkommenskultur für Flüchtlinge im letzten Sommer.

Im Nachhinein, so Bude jüngst gegenüber dem „Spiegel“, könne man bereits die Fußballweltmeisterschaft 2006 (Motto: Die Welt zu Gast bei Freunden) als Auftakt jener „Fremdenfreundlichkeit“ lesen, mit der sich Deutschland gern selbst gefällt – schon um sein historisch belastetes Image und seine regional und lokal weiter aufwallende Fremdenfeindlichkeit zu kompensieren.

Ostdeutsche sehen sich gegenüber den etablierten Westdeutschen immer noch in der Rolle der Außenseiter
Heinz Bude

Was bedeutet es, wenn syrische Flüchtlinge mit Applaus begrüßt werden? Hat diese Geste der Willkommenskultur etablierte „Hierarchien des Hierseins“ außer Kraft gesetzt, fragt Bude – mit Blick auf die Stimmung im Land. Er liefert eine Erklärung, warum Ostdeutsche und Migranten der zweiten Generation sich in ihrer Ablehnung von aktuellen Flüchtlingen durchaus einig sein können.

Für beide Gruppen, so Bude, stelle Deutschland eine Ankunftsgesellschaft dar. Es definiere sich durch Etablierte und Zugereiste. Die Etablierten beherrschen das Feld, die Zugereisten sind Außenseiter:

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Die für die Unterscheidung von Außenseitern und Etablierten entscheidende Frage, wer zuerst da war, begünstige einen gelegentlichen „Ethnorassismus“ unter Einwanderergruppen, etwa die Ablehnung von Flüchtlingen durch Russlanddeutsche. Sie erklärt auch regional verstärkte Gefühle von Neid, Missgunst und Angst gegenüber Migranten: „Ostdeutsche sehen sich gegenüber den etablierten Westdeutschen immer noch in der Rolle der Außenseiter.“

Sächsische Polizei hat „große Sympathien“ für Pegida

Der sächsische SPD-Vorsitzende Martin Dulig sieht bei der eigenen Polizei eine Nähe zu Pegida. Es gebe nicht nur ein quantitatives Problem bei der Polizei, sondern auch ein qualitatives.

Quelle: Die Welt

An dieser Stelle ist Bude beim Kern seiner Fragestellung: Gesellschaftliche Gestimmtheit, egal wie naiv oder munitioniert kommuniziert, stellt „eine Realität eigener Art“ dar, die dringend einer „Soziologie der Stimmung“ bedarf. Genau diese Soziologie – im Sinne eines Grundlagenwerks – liefert Bude nicht, dazu ist er dann doch Bude, und nicht Bourdieu, Luhmann oder Habermas. Wichtige Ansatzpunkte enthält sein Essay aber allemal.

Gilt die Schweigespirale noch?

Besonders ergiebig – und ausbaufähig – scheint sein Bezug auf die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann und ihre Theorie der Schweigespirale. Die besagt, dass Menschen nur dann zu ihrem Standpunkt stehen, wenn sie sich von der Gesellschaft bestätigt fühlen und sich nicht einer divergierenden Mehrheitsmeinung gegenübergestellt sehen.

Wer merkt, dass die eigene Meinung (medial) zunimmt, ist gestärkt, redet öffentlich. Wer notiert, dass seine Meinung an Boden verliert, schweigt. Dieses Gesetz galt, solange die veröffentlichte Meinung eine relativ knappe, von professionellen Journalisten exklusiv in Massenmedien besorgte Ressource war. In der Netzgesellschaft können sich Minderheiten noch im kleinsten Nischenforum gegenseitig groß machen und großartig finden.

Historisch gesehen hat die Massenpresse das Gefühl, in einer gemeinsamen sozialen Welt zu leben, seit dem 19. Jahrhundert demokratisiert.

Das Internet hat die „demokratische Teilhabe an Stimmungen“, die sich vormedial im wesentlichen lokal formierte (Motto: die Piazza protestiert vor dem Palazzo), erheblich verstärkt, es hat die „Räume der Stimmung, die durch einen gleichmäßigen Strom von relevanten Informationen und gemeinsamen Erregungen aufrecht erhalten werden und das Erleben von Gesellschaft intensivieren“, erheblich erweitert und das Prinzip der „Publikumsdemokratie“ – allerorten ausgewiesen durch Statistiken wie „Meist gelesene Artikel“ oder „Likes“ bei Facebook – etabliert.

Das Prinzip der Publikumsdemokratie

„Publikumsdemokratie“ in der digitalen Gesellschaft heißt, dass die Erlebnisintensität immer dann am höchsten scheint, wenn ganz viele irgendetwas gleichzeitig tun und finden.

Ob Shitstorm oder Solidarisierungswelle: Das Internet dynamisiert jede „Wildheit des Massenverhaltens“. Im Zeichen von „Systemaversion, Betrogenheitsempfindung und Selbstmandatierung“ finden sich die „Besorgten, Übergangenen und Verbitterten“ in ihren, wie Bude hübsch formuliert, „kommunikativen Katakomben einer rebellischen Grundstimmung“ zusammen.

Publikumsdemokratie suggeriert, dass man sich noch im abseitigsten Forum als eine – und wenn nur heimliche – Macht begreifen kann, die es besser weiß und „sich gegen die vermittelnden Instanzen der Repräsentation eines allgemeinen Interesses wendet: gegen die ‚Medienkaste‘ genauso wie gegen die ‚Politikerkaste‘, die sich anmaßen, in einem System der Gewaltenteilung … für das Volk zu sprechen, anstatt das Volk selbst sprechen zu lassen.“

Mechanismen der Exklusion

Budes Argument für die zunehmende Macht von Stimmungen ist aber nur in Teilen ein mediales. Es hat einen harten sozialen Kern, in etwa umrissen durch das, was Thomas Piketty oder George Packer in ihren Büchern und nicht nur für die USA beschrieben haben.

Man darf Bude, der sich mit Mechanismen von Exklusion beschäftigt hat, glauben, dass die gesellschaftliche Kohäsion in dem Maße verloren geht, in dem die Mittelschicht schwindet und sich, jenseits von Kollektivkategorien wie Klasse, Nation oder Generation, ein wachsendes Gefühl des Unbehagens zwischen Etablierten und Außenseitern der Gesellschaft manifestiert.

Heinz Bude: „Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen.“ Hanser, München. 160 Seiten, 18,90 €.
Heinz Bude: „Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen.“ Hanser, München. 160 Seiten, 18,90 €.
Quelle: Hanser Verlag

„In dem Maße, wie die Bindung an Großgruppenkategorien wie Arbeiter, Bürger oder Mittelstand zurückgeht und zudem das Publikum von Werbung, Unterhaltung und Berichterstattung in weiteren als nur lokalen oder nationalen Bezügen angesprochen wird, werden die Einzelnen zum Spielball von Anreizen, Verführungen und Belustigungen.

So erfährt sich das Ich als ein affektives Wesen, das auf Verstärkungen angewiesen und Stimmungen ausgesetzt ist. Dieses Ich ist schreckhaft und schweigsam, wenn es sich allein gelassen fühlt, und es blüht auf und findet Anklang, wenn es glauben kann, dass viele andere auch so denken und fühlen wie es selbst.“

Nervös wie Hugo von Hofmannsthal

Die gesellschaftliche Stimmung, so kann man Bude lesen, ist volatiler geworden, weil die Individuen anfälliger für Stimmungen geworden sind. Im Zeitalter der Infosphäre ticken immer mehr Menschen so, als seien sie Hugo von Hofmannsthal, den Bude seinem Buch als Motto – und gleichsam als dichterischen Gewährsmann für nervösen Dauerempfang – vorangestellt hat:

„Er kann nichts auslassen. Keinem Wesen, keinem Ding, keinem Phantom, keiner Spukgeburt des menschlichen Hirns darf er seine Augen verschließen. Es ist, als hätten seine Augen keine Lider … In ihm muss und will alles zusammenkommen. Er ist es, der in sich die Elemente der Zeit verknüpft.“

Ob es einer Gesellschaft guttut, wenn sie sich im Informationszeitalter permanent die Stimmung misst, ist eine müßige Frage, die auch Bude nicht beantwortet. Wir leben in keiner anderen Gesellschaft.

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