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Literatur Holocaust-Gedenktag

Auch Fiktionen können historische Pflichtlektüren sein

Literarischer Korrespondent
POLAND - JANUARY 01: Warsaw ghetto insurgence, April/May 1943: Little boy with raised hands, women and other children are leaving a house, which was captured by the German troops. Photography, 1943. (Photo by Imagno/Getty Images) [Warschauer Ghettoaufstand April/Mai 1943: Kleiner Bub mit erhobenen Haenden, Frauen und andere Kinder kommen aus einem von den deutschen Truppen eroberten Haus. Aus dem Album von ss-Gruppenfuehrer und Polizei-Generalmajor Juergen Stroop. Photographie, 1943.] POLAND - JANUARY 01: Warsaw ghetto insurgence, April/May 1943: Little boy with raised hands, women and other children are leaving a house, which was captured by the German troops. Photography, 1943. (Photo by Imagno/Getty Images) [Warschauer Ghettoaufstand April/Mai 1943: Kleiner Bub mit erhobenen Haenden, Frauen und andere Kinder kommen aus einem von den deutschen Truppen eroberten Haus. Aus dem Album von ss-Gruppenfuehrer und Polizei-Generalmajor Juergen Stroop. Photographie, 1943.]
Während des Aufstands im Warschauer Getto im Frühjahr 1943
Quelle: Getty Images
Neben die Zeugnisliteratur über den Holocaust treten zunehmend Fiktionen. Vom Warschauer Getto erzählt neben Reich-Ranickis „Mein Leben“ auch der neue Roman von Szczepan Twardoch. Man sollte beide Bücher nebeneinander lesen.

Wenn man von „Pflichtlektüren“ spricht, meint man damit Bücher, die ein historisches Unrecht, ein Verbrechen, eine Schuld exemplarisch darstellen und damit im Bewusstsein auch späterer Generationen gegenwärtig halten. Für Deutsche sind dies Bücher über den Holocaust. Sachbücher selbstverständlich, in erster Linie jedoch Erinnerungen und Zeugnisse der Opfer, sei es von Überlebenden, sei es von Ermordeten wie etwa Anne Frank.

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Der Kanon dieser Zeugnisliteratur ist groß, aber doch begrenzt, einzelne Neuentdeckungen natürlich nicht ausgeschlossen. Die letzten Zeugen sterben; im vergangenen Jahr etwa die Auschwitz-Überlebende Ruth Klüger, deren Bericht „weiter leben“ von 1992 zu den bedeutendsten Holocausterinnerungen deutscher Sprache zählt. So stetig die historische Fachliteratur wächst, so unvermeidlich ist, dass die Fiktion eine immer größere Rolle in der Holocaustliteratur beansprucht. Doch können auch Romane Pflichtlektüren sein?

Die Diskussion darüber, wie legitim erfundene Geschichten neben authentischen Erinnerungen und Dokumenten sind, wird immer wieder neu geführt werden müssen. Zuletzt entzündete sie sich an Takis Würgers Roman „Stella“: Kritik an der klischeehaften Erzählweise vermischte sich mit einer moralischen Empörung über das sensationalistische Ausschlachten eines historischen Stoffes.

Solange Romane durch eigene Erfahrungen beglaubigt waren, wie beispielsweise bei Jorge Semprún oder Imre Kertész, stellten sich poetologische Fragen vor allem auf der Ebene des Verhältnisses von Sprache und (ungeheuerlicher) Wirklichkeit, von Erinnerung und Erzählung. Wie überhaupt Worte für das Unfassbare finden? Ist der eigenen Geschichte zu trauen? Wo stößt die Ordnung des Erzählens an die Grenze einer Realität, die das Vorstellungsvermögen übersteigt?

Was aber, wenn jemand eine Geschichte über den Holocaust erfindet, der selbst kein Opfer oder ein Nachfahre ist? Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch hat genau dies getan. Sein jüngster Roman „Das schwarze Königreich“ (Rowohlt Berlin) spielt im Warschauer Getto, und arbeitet mit allen Mitteln, die einer Spannungsdramaturgie zu Verfügung stehen, Ichperspektive, Cliffhanger, auch dem Pathos einer allwissend-jenseitigen Rückschau.

Szczepan Twardoch - polnischer Schriftsteller
Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch
Quelle: Martin U. K. Lengemann/WELT

Der Roman ist die Fortsetzung von „Der Boxer“ und erzählt vom weiteren Schicksal des jüdischen Mafioso Jakub Shapiro und seiner Familie im Krieg und unter deutscher Terrorherrschaft. Da wir aus dem Vorgänger schon wissen, dass Shapiro und seine Geliebte Ryfka überleben und nach Israel auswandern werden, verlagert sich die Erzählung teilweise auf seinen Sohn David, der sich nach Shapiros opportunistischer Trennung von der Familie – er ist als hohes Tier im „Jüdischen Ordnungsdienst“ zunächst privilegiert – auf eigene Faust im Getto durchschlägt, als eines von Tausenden Schmugglerkindern. Aus seinen und aus Ryfkas Erzählungen ergibt sich ein eindrückliches Bild vom Überleben und dem (vielfach wahrscheinlicheren) Sterben im Getto, von Flucht und vom Dahinvegetieren in den Trümmern der Stadt.

Für deutsche Leser ist die Erinnerung an das Warschauer Getto durch Marcel Reich-Ranickis Bestseller „Mein Leben“ geprägt, auch dies eine Geschichte vom glücklichen Überleben, von Flucht, angstvollem Verbergen. Man kann Shapiros fiktives und Reich-Ranickis reales Schicksal zusammenlesen, der detailversessene Rechercheur Twardoch wird diesen und viele andere Berichte gelesen haben. Beide Werke sind, auf ihre Weise, Pflichtlektüre für uns Deutsche, Twardoch auch im Blick auf das, was wir den Polen angetan haben.

Marcel Reich-Ranicki in Hamburg, Anfang der 1960er-Jahre. / Nutzung des Bildes nur in Verbindung mit der Sendung - keine Rechte für Social Media Weiterer Text über ots und www.presseportal.de/nr/7840 / Die Verwendung dieses Bildes ist für redaktionelle Zwecke honorarfrei. Veröffentlichung bitte unter Quellenangabe: "obs/ZDF/Privatarchiv"
Überlebte gemeinsam mit seiner Frau Tosia den Holocaust: Marcel Reich-Ranicki, Anfang der 60 Jahre
Quelle: ZDF

Historisches Bewusstsein ist das eine, eine affektive Reaktion auf fremdes Leid und eigener, in nationaler Identität eingesenkter Schuld das andere. In beiden Büchern gibt es den Punkt, an dem die Pflicht zum Wissen in Trauer und Scham umschlägt.

Bei Twardoch ist es der Schluss, in dem er das Bilderverbot durchbricht und von den letzten Gedanken einer Mutter mit ihrem Kind vor der Gaskammer von Treblinka erzählt. Selbst wenn man das als Überschreitung empfindet, als Verletzung des Respekts vor den Opfern – kalt kann diese Passage niemanden lassen.

Bei Marcel Reich-Ranicki gibt es eine vergleichbare Stelle, als er seine Eltern zur Selektion begleitet, die für sie zum „Umschlagplatz“ führt, in den sicheren Tod. Reich-Ranicki beschreibt nur ihre Kleidung, ihren Gang, den ratlosen Blick seines Vaters. Er stellt sich nichts vor, er zitiert nur, was ein beteiligter „Kommandant der jüdischen Miliz“ ihm am nächsten Tag gesagt hat: „‚Ich habe Ihren Eltern ein Brot gegeben, mehr konnte ich für sie nicht tun. Dann habe ich ihnen noch in den Waggon geholfen.‘“

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Journalisten der FreeTech – Academy of Journalism and Technology – starten ein interaktives Videoprojekt zum Judenhass in Deutschland. „Jeder Vierte“ wendet sich gegen das Wegschauen.

Quelle: WELT/jedervierte.com

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