Natürlich hat Novalis recht. Von ihm stammt ja die romantische Weltformel. Sie lautet bekanntlich: „Nach innen geht der geheimnisvolle Weg.“ Nie hätte E.T.A. Hoffmann, einer seiner größten Fans, gewagt, dem zu widersprechen. „Die unversiegliche Diamantengrube unseres Inneren“ war ihm gleichfalls heilig. Aber der Weg dorthin? Na, er ging erst einmal lieber in den Tiergarten. Umwege erhöhen die Ortskenntnis. Und von Umwegen verstand der Mann was. War er nicht zuvörderst ein exzellenter Jurist? Wollte er nicht vor allem anderen ein genialer Komponist sein? Zur Literatur kam er jedenfalls auf sehr verschlungenen Pfaden. Im Grunde währte auch seine literarische Karriere lediglich ein gutes Dutzend Jahre. Und ja doch, der Tiergarten spielt darin keine geringe Rolle.
„Der Spätherbst in Berlin hat gewöhnlich noch einige schöne Tage“: So en passant beginnt das tolle, das übersprudelnde, das unvergleichliche Schaffen des einzigen deutschen Romantikdichters von Weltgeltung. So lautet der erste Satz seiner ersten Erzählung – übrigens mit einer kleinen Verbeugung vor Diderot, einem weiteren seiner literarischen Hausgötter. Wer wollte da nicht weiterlesen? Wer wollte nicht wissen, was der Berliner Spätherbst dem Erzähler wohl beschert? Wer würde ihn nicht sofort begleiten bei seinem Gang in den Tiergarten, wo es ihn zur Vergnügungsmeile „In den Zelten“ zieht (die es nicht mehr gibt). Dort wartet eine Begegnung der besonderen Art auf ihn.
Ein Mann ist es, der dem Erzähler sofort durch seinen aus der Zeit gefallenen Anzug auffällt. Anscheinend versteht er etwas von Musik, denn er beklagt wortreich und gallig die Kapelle, die sich da im Freien produziert. Der Erzähler lässt dem Fremden lange sein Geheimnis. Schließlich sind sie beide urbane Naturen, sie lieben die Anonymität der Stadt. Und sie neigen beide auch zum Witz, zur Pointe, was man schon daran merkt, dass der Fremde dem Erzähler erst einmal zu verstehen gibt: „Ich kenne Sie nicht, dafür kennen Sie mich aber auch nicht.“ Nach mehreren Zufallsbegegnungen in den nächsten spätherbstlichen Berliner Tagen erfährt der Erzähler schließlich doch, mit wem er es zu tun hat. „Ich bin der Ritter Gluck“: So schließt, mit Aplomb und nicht ohne einen leisen Grusel, der Text, der Hoffmanns literarischen Durchbruch bezeichnet. Von seinem Erscheinen im Jahr 1809 an geht es dann Schlag auf Schlag mit den literarischen Veröffentlichungen. Bis Hoffmann, nur 46 Jahre alt, am 25. Juni 1822 in seiner Wohnung Tauben-/Ecke Charlottenstraße am Gendarmenmarkt stirbt. Da ist er der meistgelesene deutsche Schriftsteller seiner Zeit.
Ein Rittergut in Atlantis
Und der Ritter Gluck? Nun, dieser Erneuerer der Oper, Vorläufer der von Hoffmann über alles geliebten Mozart und Beethoven, Christoph Willibald Gluck also, er ist zum Zeitpunkt der Begegnung im Berliner Tiergarten schon mehr als 20 Jahre tot. Aber treten bei E.T.A. Hoffmann nicht auch zwei holländische Naturforscher des 17. Jahrhunderts, Leeuwenhoek und Swammerdam, ganz munter im Frankfurt des Jahres 1820 auf? Zusammen mit dem Langzeitstudenten George Pepusch, der von sich glaubhaft versichert, die Distel Zeredith zu sein?
Wer geht schon in der bürgerlichen Charaktermaske auf, die er sich übergestülpt hat? Jedenfalls nicht der hochwohllöbliche Archivarius Lindhorst, von dem der angehende Dichter Anselmus bald erfahren muss, dass es sich bei Lindhorst in Wahrheit um einen Feuersalamander handelt. Deshalb ist sein Töchterlein Serpentina, in das sich Anselmus bis über beide Ohren verliebt, auch ein veritables Schlänglein. Und doch zieht er Serpentina der nicht minder hübschen Veronika vor, die er dann gern dem Registrator Heerbrand überlässt, mit dem sie Frau Hofrat werden kann. Träumt doch Anselmus lieber von einem „Rittergut in Atlantis“.
Waren wir nicht auf dem Weg nach innen? Aber ja, und wir sind es noch, sind sogar schon ein gutes Stück vorangekommen. Denn zum Wissen um die „innere Welt“, die Hoffmann sich natürlich als die „höhere“ vorstellt, gehört die Erkenntnis, dass wir alle multiple Wesen sind, nicht nur identisch mit unserem Alltagsoutfit im Hier und Jetzt, sondern eben auch in längst vergangene Zeiten und weit entlegene Zonen hineinreichen. Jedoch, E.T.A. Hoffmann versichert seiner „geneigten Leserin“ und seinem „lieben Leser“ immer wieder, dass „jenes herrliche Reich“, das sich nur auf dem Weg nach innen erschließt, „viel näher liegt, als Du sonst wohl meintest“.
Das war sie eben, Hoffmanns ureigene Entdeckung, auch zum „serapiontischen Prinzip“ erhöht: Die Innenwelt beginnt in der Außenwelt. Dieses Prinzip benannte Hoffmann nach dem frühchristlichen Märtyrer Serapion, den der Dichter um 1810 in einem Wäldchen bei Bamberg entdeckt haben will, wo der Eremit, sich in der „Thebaischen Wüste“ nahe Alexandria wähnend, den Gast gern empfängt, nachdem er kurz zuvor noch Besuch von Dante und Ariost hatte. E.T.A. Hoffmann zögert nicht, diesen Serapion einen Wahnsinnigen zu nennen.
Im Reich des Imaginären
Er kennt die psychiatrische Literatur seiner Zeit wie kein anderer romantischer Schriftsteller, ist übrigens auch mit dem Bamberger Arzt und Leiter des „Irrenhauses“ Albert Friedrich Marcus befreundet, der dem Serapion sein Einsiedlerleben im Wäldchen und also außerhalb seiner Anstalt überhaupt erst ermöglicht hat. Aber Hoffmann weiß auch, dass dieser irreversible, wiewohl friedliche Wahnsinn nur der Endpunkt einer langen Stufenreihe von Ausflügen ins Reich des Imaginären darstellt, Ausflügen, die jeder sensible und kreative Mensch unternimmt.
Die verschiedenen Stadien des Lebens im Wahn werden schnell das große Thema von E.T.A. Hoffmann. Sie haben sich nicht selten mit dem Grausamen und Unheimlichen verbunden. Das trug dem Autor dann die Zuordnung zur „schwarzen Romantik“, das Etikett „Gespenster-Hoffmann“ ein. Und in der Tat kann man den Goldschmied Cardillac aus der Kriminalnovelle „Das Fräulein von Scuderi“ oder den Mönch Medardus, Held der gothic novel „Die Elixiere des Teufels“, diesem Genre zuordnen. Beider destruktive Energien, die übrigens aus frühkindlicher Traumatisierung herrühren, die Hoffmann ebenfalls als Erster zu einem strukturbildenden Merkmal seiner Protagonisten macht, führen schließlich zu Mord und Totschlag. Bei einer anderen berühmten Figur, dem Nathanael aus der Erzählung „Der Sandmann“, leitet die frühkindliche Traumatisierung wiederum in die Selbstdestruktion: Der Held stürzt sich am Ende von einem Turm in den Tod.
Keine Frage: Diese Spielarten des Wahnsinns, die sich noch dazu mit anderen Störungen wie Persönlichkeitsspaltung, Doppelgängertum sowie mit dem verbinden, was der große Germanist und Romantik-Spezialist Jochen Schmidt „isolationistische Selbstverfallenheit“ genannt hat, sie sind es, die vor allem bei der internationalen Rezeption E.T.A. Hoffmanns die Hauptrolle gespielt haben. Sie greifen ein gesamtromantisches Motiv auf. Aber Hoffmann gestaltet diese Spielarten so vielfältig, so differenziert, weil er selbst für manche von ihnen anfällig war.
Der Zerrissene
Ja, anders als Novalis, Ludwig Tieck oder später Joseph von Eichendorff war E.T.A. Hoffmann der Zerrissene unter den Dichtern der deutschen Romantik. Er war es schon qua Amt, war es als (zum Schluss) Kammergerichtsrat mit sehr auskömmlichem Gehalt, war es als langjähriger Musikdirektor an verschiedenen Bühnen, der mit seiner „Undine“ einen der großen Opernerfolge seiner Zeit landen konnte. Aber er war es natürlich in erster Linie charakterlich. Der quirlige, hektische, exzentrische kleine Mann, ungeheuer unterhaltsam für die einen, eher unheimlich und überdies, wie sein Freund, der Verleger Hitzig, behauptete, mit einem „zu nichts weniger als zur Annäherung aufforderndem Äußeren“ geschlagen, er wurde geradezu heimgesucht von immer neuen Einfällen, von denen er nur einen Bruchteil realisieren konnte.
Zumal er mit der Zeit und vor allem in seinen letzten Berliner Jahren die Angewohnheit annahm, im geselligen Verein mit seinen Zechkumpanen, allen voran dem Schauspieler Ludwig Devrient, seine Ideen Papierschlangen gleich in die Stickluft des Weinlokals „Lutter und Wegner“ zu werfen. Hier hatte er sein Quartier aufgeschlagen, hier empfing er seine Freunde, saß er jeden Abend bis zum frühen Morgen bei Wein und Punsch und redete, fantasierte, probierte Erzählungen aus, die ihm dann am nächsten Tag schreibend genauso atemberaubend schnell und fieberhaft in die Feder flossen, wie er sie zuvor artikuliert hatte – sofern er sich noch an sie erinnerte.
Denn, ja, zur ganzen Wahrheit über den großartigen Autor E.T.A. Hoffmann gehört auch, dass seine Texte mitunter wenig durchgearbeitet, auch stilistisch nicht immer ausgefeilt sind. Gar nicht davon zu reden, dass er über das Erzählte mitunter den Überblick verlor und sich dann bei seinem Verleger erkundigen musste, was es denn mit dieser oder jener Figur, die bei ihm vorkam, eigentlich auf sich habe.
Selbstzerstörerische Züge
Keine Frage, hier spielt auch Flucht vor sich selbst eine Rolle, macht sich ein selbstzerstörerischer Zug bemerkbar. Nach innen führt der geheimnisvolle Weg? Schon recht. Aber er bringt auch den Blick in die eigenen Abgründe mit sich. Äußere Bedrohungen haben Hoffmann nichts ausgemacht. Er hat den Kampf um Dresden 1813 erlebt, hat Gedärme aus toten Soldatenkörpern quellen sehen, mit einem Glas Wein in der Hand die Leichen neugierig betrachtend. Was in diesen Tagen entstand, war die Novelle „Der goldene Topf“, zweifellos die heiterste seiner Erzählungen. Aber wenn er in sein Inneres schaute, dann stieß der Dichter auf Dämonen: Ängste, Schamgefühle, nicht zuletzt den Hass auf seinen kümmerlichen Körper, unter dem er ganz ungewöhnlich litt.
Trotzdem blieb er der Marschroute nach innen treu. Was hielt denn auch das Außen seiner Zeit, wenn man sich ganz darauf beschränkte, für ihn parat? „Die höllischen Qualen der Tees“ und Salons, deren Kunstprätention ihn bald so anödete, dass er sein „Weinhausleben“ ganz entschieden vorzog. Oder der reaktionäre Zug der Zeit mit ihrer Gesinnungsschnüffelei aus Angst vor „Demagogen“ – seine Demontage des Berliner Polizeipräsidenten von Kamptz in Hoffmanns letzter Novelle vom „Meister Floh“ zeugt davon. Herausgekommen ist das Porträt eines „Philologen des Verdachts“, wie Rüdiger Safranski das genannt hat, will sagen: eines „furchtbaren Juristen“, der die Auffassung vertrat, habe man erst den Verbrecher, würde sich auch schnell ein Verbrechen „ausmitteln“ lassen.
Aber die sogenannten Progressiven nahm er eben – beispielsweise im Märchen „Klein Zaches, genannt Zinnober“ – auch aufs Korn. Dort regiert ein Fürst, der mit seiner „Aufklärungspolizei“ die Wundergläubigen verfolgen lässt und vor allem Feen „ins Ländchen Dschinnistan“ verbannt. Auch eine Naturwissenschaft, die sich anmaßt, alle Phänomene rational erklären zu können, stieß bei E.T.A. Hoffmann auf Hohn und Spott. Da hielt er es eben doch mit dem Alten aus Weimar, der ihn um zehn Jahre überleben sollte. Denn die große Abschlussrede des Peregrinus Tyß im „Meister Floh“ kulminiert sinngemäß in der goetheschen Maxime: „Das höchste Glück für den denkenden Menschen ist es, das Erforschliche zu erforschen und das Unerforschliche ruhig zu verehren.“ Aber das geht eben nur, wenn einen der Weg nach innen geführt hat.