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Politik Kriegsverbrechen

Die serbische Schizophrenie nach Karadzic

Wie der als Heiler verkleidete Kriegsverbrecher Karadzic so leben auch die Serben ihr Leben als Posse. Sie wissen nicht mehr, wer sie sind. Das betrifft besonders die jungen Leute, die abgeschnitten von Europa und der Welt aufwuchsen. Dabei müssten sie jetzt endlich die Masken fallen lassen.

Die ersten Fotos des verhafteten Radovan Karadzic offenbarten, dass sein neues Aussehen sehr an Draza Mihajlovic, den Tschetnikführer und Kollaborateur aus dem Zweiten Weltkrieg, erinnert. Dieser General der königlichen jugoslawischen Armee diente treu dem deutschen Besatzer, verübte unerhörte Verbrechen an seinem Volk und fiel, verraten von den eigenen Leuten.

So wärmt Karadzic mit seinem heutigen Aussehen die Nostalgie eines Teils der serbischen Nation gegenüber dem königlichen General wieder auf, ungeachtet seiner Verbrechen. Ich weiß nicht, ob der so sehr gesuchte Flüchtling diese Übereinstimmung im Kopf hatte, aber seine Verwandlungsleidenschaft war enorm. Seit seiner frühen Jugend auf dem Land gab sich Karadzic immer wieder für etwas aus, was er nicht war, für einen Dichter, einen Psychiater, den Chef eines erfundenen Staates. Zwar durchaus legal: Er hatte Bücher veröffentlicht, ein Examen als Mediziner abgelegt, war Präsident der Republika Srpska.

Aber nur in einem Land, das zur globalen Schauspielerei neigt, kann man mit erbärmlichen Versen als Dichter existieren, mit bescheidenem medizinischem Talent ein große ärztliche Karriere machen, ein Volksführer sein, der ebendieses Volk in Massenverbrechen führt. Seine ganze Biografie hat etwas Künstliches, sie ist ein Werdegang, der zur Fälschung, zum Falsifikat strebt.

Die serbische Nation heilen

Die Umstände, in die er geriet, nachdem der Ball geplatzt war, sich seine Regierung als Stab von Mördern erwies und ihn eine ganze Rechtsmaschinerie zu jagen begonnen hatte – nicht immer entschlossen, aber doch mächtig –, diese Verhältnisse inspirierten Karadzic aufs Neue. Manchmal bereiten solche Bedingungen einem Menschen auf der Flucht sogar Genuss, verschiedene Masken aufzusetzen, fremde Kleider anzulegen und fremde Namen anzunehmen. Hat nicht sein heroischer General Ratko Mladic, dieser Mörder von Srebrenica, eine Zeit lang den Rock einer Klosterfrau getragen, in der Meinung, er sei eine Art Graf von Monte Cristo der neueren serbischen Geschichte?

So hat sich wahrscheinlich auch Karadzic zurechtgefunden, indem er fremde Papiere an sich nahm, die manchmal Toten gehörten, Ermordeten oder Verstorbenen. Wer weiß, wo er sich überall aufhielt, was er alles war, wie er hieß. Unter solchen Umständen entwickelt sich ein enormer Eros, ein abenteuerlicher, am Rande der Todesgefahr. Der Flüchtling ist dazu verurteilt, erfinderisch zu sein, mitunter ingeniös in seinen Unterfangen.


So kam einer der Hauptschuldigen an den Massenverbrechen im Bosnienkrieg in seiner Verkleidung zu einem wunderlichen Projekt: zur Idee, die serbische Nation mit den Mitteln der alternativen Medizin gesund zu machen, ganz wie die Wunderheiler früher auf dem Dorf. Das war eine der letzten Rollen dieses Tenors im Chor der historischen Oper Europas und sein couragiertestes Unterfangen. Sich in der Hauptstadt des unverhofft demokratischen Serbiens niederzulassen, als Arzt, medizinischer Prophet, Vorführer einer neuen Sicht auf die Probleme von Körper und Geist. Sein neues Leben schien dadurch gänzlich legalisiert, als hätte er selbst geglaubt, dass die geschauspielerte Existenz seine natürliche Aura sei und die Lüge, in der er sich einzurichten begonnen hatte, eine reale Grundlage habe.


Ansonsten ist die Frage, wie dieser ausgesprochen dekorativ aussehende Herr mit dem durch ein Gummi zusammengehaltenen Haarschwänzchen auf dem Kopf, wie dieses, wie die Leute sagen, beredsame und geistreiche Subjekt die Absicht haben konnte, eine Bevölkerung zu heilen, eine eigentlich unheilbare. In deren Krankenakte auch dieses Syndrom eingeht, das Verstellungssyndrom.

Die internationale Gendarmerie an der Nase herumgeführt

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Seit Jahrzehnten verstellen sich diese seltsamen Menschen, zuerst taten sie, als wären sie für den König und das Vaterland, dann, als wären sie mit Herz und Seele für Titos Kommunismus, irgendwann waren sie sogar für einen besessenen Bankangestellten, der an Bluthochdruck litt und Slobodan Milosevic hieß. Schlecht beraten ist jeder Führer dieser Nation, wenn er ihr glaubt. Es sind dieselben Leute, die erst rote Fahnen über dem Kopf schwenken und einen Moment später in den Kirchen herumknien und die Hände der Popen küssen.

Und so konnte jener Herr, den die Polizei der ganzen Welt suchte, nur oberflächlich verwandelt unter diesen Leuten und mit ihnen Kaffee trinken in den Belgrader Cafés und auf öffentlichen Veranstaltungen auftreten. Er konnte vorgeben, sie von Schlaflosigkeit zu heilen. Diese seine Mitbürger stellten sich dumm, als würden sie seine bekannte Stimme, seinen Blick, seine Bewegungen nicht erkennen. Das taten auch diejenigen, die ihm fremde Papiere ausstellten, die ihm eine Wohnung mieteten, die Tag für Tag mit ihm in Sachen Hygiene des Landes Serbien zusammenarbeiteten.

All das war in Wirklichkeit sehr unhygienisch, weil um diesen Mann herum ein unüberschaubares Massengrab seinen Gestank verströmte. Jetzt ist deutlich, dass an dieser Maskerade viele, vielleicht Tausende beteiligt waren. Mit der großen Genugtuung, die internationale Gendarmerie an der Nase herumzuführen, weil sie mit ihrem beliebten Verbrecher wie mit einer normalen, nicht versteckten Person umgingen, die gerade dadurch geschützt war, durch ihr unwahrscheinliches Talent, sich für etwas anderes auszugeben.

Andere betrügen und hereinlegen

Manchmal sind sie gefährlich in diesem ihrem Talent, dem zur Metamorphose. Handelt es sich doch um dasselbe Volk, von dem ein alter europäischer Reiseschriftsteller aus dem Barock behauptet hatte, es sei nicht vernünftig, ihm den Rücken zuzukehren, des Nachts.

Manche Leute aus diesem Volk überlegen ständig, wie sie alle anderen betrügen, alle anderen hereinlegen können. Es sind diese Leute, die jetzt den entlegensten Briefkasten Serbiens suchen, um den Einspruch gegen eine Auslieferung eine Minute vor Verstreichen der Frist einzuwerfen. Weil sie denken, sie seien klüger als die anderen, sodass sie imstande sind auszutricksen, wen sie gerade wollen. Es sind dieselben Individuen, die geglaubt haben, ihr wahnsinniger Führer führe auf der Anklagebank in Den Haag die ganze internationale Rechtsprechung an der Nase herum und jener andere Angeklagte dort mache das ganze Tribunal mit seinen Frechheiten zum Gespött. Diese Leute scheuen nicht vor der Maske zurück, die sie sich selbst aufsetzen, der Maske der Verrücktheit.

Auch heute gibt es mitten in Belgrad eine Kneipe, in der Bilder von Kriegsverbrechern hängen und die „Narrenhaus“ heißt, kein Wunder, dass Doktor Karadzic ausgerechnet dort seinen Stammtisch hatte. Dieses Objekt, diese Kneipe kommt mir wie ein symbolischer Punkt vor, wie eine Art Zentralkomitee eines rückwärtsgewandten Serbiens. Weil sich dort Tag für Tag ein seltsames Volk versammelt, ein überwiegend kostümiertes. Die meisten Stammgäste wirken, als seien sie Figuren einer ethnografischen Sammlung, sodass der ahnungslose Passant auf die Idee kommen kann, er sei in ein Museum geraten.

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Aufgewachsen in einer rauen Isolation

Natürlich wird dort jeden Tag auf der Gusle gespielt, das ist ein Instrument, das in der Zeit Goethes aktuell war. In vielen Ländern lässt sich schon einmal ein Verrückter finden, der altertümliche Kleidung trägt. Aber die Serben, die die Uniformen und die Kleidung ihrer Heiducken-Urväter anziehen, wollen dem Publikum etwas anderes mitteilen: dass sie tatsächlich aus einer vergangenen Epoche sind und in dieser Epoche bleiben möchten.

Doch dadurch bestätigen sie nur eins: dass sie nicht wissen, wo und wer sie sind. Das betrifft besonders die jungen Leute, eine traurige Generation, abgeschnitten von Europa und der Welt, aufgewachsen in einer rauen Isolation, die zu Ignoranz und Autismus führt. Daher der ingeniöse Name „Narrenhaus“ jenes Lokals mitten im modernen Belgrad. Weil alles, was sich dort abspielt, das Leben in diesem Land als närrisch darstellen soll. Sonst wäre es schwer, mit ein bisschen Verstand sich selbst so viel Ungemach zuzufügen wie die Serben.

Wann immer ich in den letzten Jahren zu Besuch in meiner ehemaligen Heimat war, besonders in Belgrad, wo der größte Teil meines Leben verstrichen ist, hatte ich den Eindruck, ich sei in einen ebenfalls verkleideten Raum geraten, der dem von früher nur gleicht. Ein weiterer Beweis dafür, dass wir es mit einer Umgebung zu tun haben, die dem Theater, dem Possenreißen mit dem eigenen Leben sehr nahekommt. Ich erinnere mich, wie beliebt in der serbischen Provinz in meiner Kindheit Wanderbühnen waren. Das waren kleine Gruppen bescheidener und armer Darsteller, dem Zirkus sehr nahe, zwei oder drei Schauspieler, doch mit ziemlich großen Ambitionen. Und so spielte ein und derselbe Darsteller sich selbst und die eigene Mutter, indem er nur flink den Platz auf der Bühne und die Perücke wechselte.

Verstehen diese schwitzenden jungen Leute, die in Belgrad auf das Fürst-Mihajlo-Denkmal geklettert sind, von wo sie ihre Tschetnikfahnen für den verhafteten Karadzic schwenken, begreifen sie, wen sie vertreten, was ihr karnevalesker Auftritt bedeutet, welche Rolle sie in dieser Tragikomödie spielen?

Einmal muss der Vorhang fallen, damit auf der Belgrader Bühne eine Diskussion direkt unter den Schauspielern dieser dilettantischen Vorstellung beginnen kann: was sie sind, wer sie sind, wohin sie gehen.

Bora Cosic wurde 1932 in Zagreb geboren und wuchs in Belgrad auf. Er lebt heute in Berlin. 2002 bekam er den Leipziger Buchpreis.

Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Grießhaber

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