Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat angesichts des Rückzugs russischer Truppen aus Cherson von einem „historischen Tag“ gesprochen. „Wir erobern Cherson zurück“, sagte er in seiner täglichen Videobotschaft im Onlinedienst Telegram am Freitag. Zuvor hatte er geschrieben, die Stadt gehöre wieder „unserem Volk“. Der Kreml erklärte, Cherson bleibe trotz des Truppenabzugs Teil des russischen Staatsgebiets.
Die ukrainische Armee befinde sich derzeit am Stadtrand, erklärte Selenskyj auf Telegram. „Aber Spezialeinheiten sind bereits in der Stadt“, fügte er hinzu. Der ukrainische Präsident lobte den Mut der Einwohner Chersons, die seit Mitte März unter russischer Besatzung waren. „Sie haben die Ukraine nie aufgegeben“, sagte Selenskyj. „Cherson ist die Ukraine“, erklärte auch Kiews Bürgermeister Vitali Klitschko in einem Onlinedienst.
Die ukrainischen Streitkräfte hatten mit Skepsis und Vorsicht auf die offizielle Bekanntgabe aus Moskau reagiert, russische Truppen hätten sich komplett vom Dnipro-Westufer zurückgezogen. Sie befürchteten Fallen und Hinterhalte. Auch Stunden nach dem laut dem Moskauer Verteidigungsministerium um 05.00 Uhr vollzogenen Rückzug aus der gleichnamigen Regionalhauptstadt Cherson und anderen Orten am westlichen Ufer des Dnipros erklärte der Militärgeheimdienst am Freitag, „eine Operation zur Befreiung Chersons“ sei im Gange.
In sozialen Medien verbreitete Videos und Fotos zeigten in der Region zuvor einen begeisterten Empfang für offensichtlich ankommende ukrainische Soldaten. Ukrainische Fahnen schwenkend, jubelten Einwohner den Truppen zu und umarmten Soldaten. Doch offiziell wurde zunächst nicht bestätigt, dass die Stadt Cherson wieder in ukrainischer Hand sei. „Es wird nur möglich sein, nach einem offiziellen Bericht des Generalstabs über die Herstellung ukrainischer Kontrolle über die Stadt zu reden“, sagte Heeressprecher Andrij Jussow der Nachrichtenagentur AP.
Kurz nach dem Abzug der eigenen Truppen aus der ukrainischen Gebietshauptstadt Cherson und weiteren Orten hat Russland eigenen Angaben zufolge mit Angriffen auf die gerade erst aufgegebene Region begonnen. „Aktuell werden Truppen und Militärtechnik der ukrainischen Streitkräfte auf dem rechten Ufer des Flusses Dnipro beschossen“, teilte Russlands Verteidigungsministerium am Freitag mit.
Nur wenige Stunden zuvor hatte Ministeriumssprecher Igor Konaschenkow mitgeteilt, alle russischen Einheiten in dem südukrainischen Gebiet seien auf die linke Flussseite gebracht worden. Insgesamt handelt es sich laut Angaben aus Moskau um mehr als 30.000 Soldaten, die nun südöstlich des Dnipro stationiert seien.
Die ukrainische Seite hatte sich auf Angriffe auf die gerade erst zurückeroberten Orte bereits eingestellt. Die Pressesprecherin des Kommandos Süd der ukrainischen Armee, Natalija Humenjuk, erklärte am Freitag im Fernsehen, die Streitkräfte rechneten mit „massivem Beschuss“ Chersons. Das sei alleine schon durch die Nähe der neuen Verteidigungslinie der Russen auf dem gegenüberliegenden Ufer des Dnipro begründet, sagte sie.
Russland hatte am Mittwoch den Truppenabzug aus den nordwestlich des Dnipro gelegenen Gebieten angekündigt, weil die Versorgung der eigenen Soldaten etwa durch nicht mehr nutzbare Brücken unmöglich war. Seither meldeten die ukrainischen Streitkräfte ein schrittweises Vorrücken in der Region. Ungeachtet des russischen Abzugs bezeichnet Moskau das Gebiet Cherson, das es erst im September völkerrechtswidrig annektiert hatte, weiter als eigenes Staatsgebiet.
Selenskyj: Weitere Ortschaften im Süden befreit
Die ukrainische Armee war am Vortag weiter vorgerückt und konnte laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj bereits mehr als 40 Ortschaften in der Region im Süden des Landes befreit. „Die Zahl der ukrainischen Flaggen, die im Rahmen der laufenden Verteidigungsoperation an ihren rechtmäßigen Platz zurückkehren, beträgt bereits Dutzende“, sagte er am Donnerstagabend in seiner täglichen Videobotschaft.
Gleichzeitig warnte er vor den Gefahren in den nunmehr von den Besatzern aufgegebenen Gebieten. „Die erste und grundlegende Aufgabe ist die Minenräumung“, sagte Selenskyj. Die Besatzer ließen Tausende Blindgänger und Munition zurück. „Ich habe oft Schätzungen gehört, dass die Räumung der Ukraine von russischen Minen Jahrzehnte dauern wird.“ Nach seinen Erkenntnissen seien noch rund 170.000 Quadratkilometer des Landes minenverseucht.
Medienberichten zufolge hinterließen die Russen eine verwüstete Stadt. Neben dem Fernsehzentrum seien unter anderem Fernheizungsanlagen und Funkmasten gesprengt worden, berichtete die „Ukrajinska Prawda“. Zudem sei in der Stadt der Strom komplett ausgefallen, ebenso wie das Internet.
Zudem soll die wichtige und zuletzt durch ukrainischen Beschuss schwerbeschädigte Antoniwka-Brücke über den Fluss Dnipro gesprengt worden sein. In sozialen Netzwerken war ein zunächst nicht überprüfbares Video zu sehen, das eine Aufnahme von einer schweren Explosion zeigen sollte. Die ukrainische Rundfunkanstalt Suspilne berichtete unter Berufung auf Anwohner, dass die Brücke eingestürzt sei. Die nächste Flussquerung für Fahrzeuge sei mehr als 70 Kilometer von Cherson entfernt.
Die massiven Schäden an wichtigen Brücken hatten dazu geführt, dass Russland keine militärische Ausrüstung und Lebensmittel mehr in die russisch besetzten Gebiete westlich des Flusses transportieren konnte. Bereits in den vergangenen Tagen waren mehrere Brücken über den Dnipro gesprengt worden.
Selenskyj reagierte misstrauisch auf den russischen Rückzug. „Der Feind macht uns keine Geschenke, macht keine ‚Gesten des guten Willens‘“, warnte er. Daher gehe die ukrainische Armee „sehr vorsichtig, ohne Emotionen, ohne unnötiges Risiko“ vor. Selenskyj bekräftigte das Ziel der Ukraine, „unser gesamtes Land zu befreien und die Verluste so niedrig wie möglich zu halten.“
Selenskyj wies darauf hin, dass die aktuellen Erfolge der ukrainischen Streitkräfte „durch Monate brutalen Kampfes“ erreicht worden seien. „Es ist nicht der Feind, der geht – es sind die Ukrainer, die die Besatzer verjagen“, sagte Selenskyj. „Und wir müssen den ganzen Weg gehen – auf dem Schlachtfeld und in der Diplomatie – damit überall in unserem Land, entlang unserer gesamten international anerkannten Grenze, unsere Flaggen – ukrainische Flaggen – zu sehen sind. Und keine feindlichen Trikoloren mehr.“