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Deutschland Merkel vs. Voßkuhle

Der giftige Machtkampf zwischen Berlin und Karlsruhe

Bundeskanzlerin Angela Merkel und Andreas Voßkuhle, Präsident des Verfassungsgerichtes: Das fein austarierte Machtverhältnis zwischen Berlin und Karlsruhe ist aus der Balance geraten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Andreas Voßkuhle, Präsident des Verfassungsgerichtes: Das fein austarierte Machtverhältnis zwischen Berlin und Karlsruhe ist aus der Balance geraten
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Andreas Voßkuhle, Präsident des Verfassungsgerichtes: Das fein austarierte Machtverhältnis zwischen Berlin und Karlsruhe ist aus der Balance gera...ten
Quelle: Infografik Welt Online, dpa
Angela Merkel hat das Bundesverfassungsgericht unter Andreas Voßkuhle einmal mit gefährlichen Skorpionen verglichen – scherzhaft. Mittlerweile ist ihr das Lachen vergangen.

Vor einem Jahr sagte Angela Merkel einmal, was sie wirklich über das Bundesverfassungsgericht denkt. Damals feierte das Verfassungsorgan mit dem höchsten Ansehen in Deutschland seinen 60. Geburtstag, die Kanzlerin hielt die Festrede in Karlsruhe.

Sie hatte schon den Papst zitiert, die Väter und Mütter des Grundgesetzes erwähnt und allerlei Feierliches gesagt, als sie plötzlich einen Scherz wagte: Als "nine scorpions in a bottle" würden die Richter des US-Supreme-Court beschrieben, erzählte sie. Und bezog dies auf Deutschland, "um im Bild zu bleiben: Die Stiche der Skorpione treffen bisweilen auch die anderen Verfassungsorgane".

Das Publikum, immerhin die Spitzen der Republik, lachte.

Heute lacht keiner mehr. Denn die Skorpione haben mal wieder zugestochen. Nachdem das Verfassungsgericht in der vergangenen Woche den Bundespräsidenten bat, die Gesetze zum Fiskalpakt und zum auf Dauer angelegten Euro-Rettungsschirm ESM nicht sofort zu unterzeichnen, kann Merkel kaum verhehlen, dass sie sich empfindlich getroffen fühlt.

Denn das monumentale Gesetzeswerk, das Ende der Woche mit Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag verabschiedet werden soll und Deutschland mit 190 Milliarden Euro Haftung bindet, ist Merkels Plan zur Rettung der kriselnden Gemeinschaftswährung.

Nur Deutschland braucht länger als geplant

Sie hat es nicht nur SPD, Grünen und den Bundesländern abverhandelt, sondern auch noch den übrigen Europäern aufgezwungen: In 25 von 27 EU-Ländern wird der Fiskalpakt, der das Schuldenmachen begrenzen soll, ratifiziert – nur Deutschland braucht jetzt viel länger als geplant.

Steckbrief: Andreas Voßkuhle
Steckbrief: Andreas Voßkuhle
Quelle: Infografik Welt Online, dpa

Das liegt an den 16 Skorpionen in Karlsruhe. Die werden repräsentiert von einem Mann, der eher gemütlich dreinblickt: Andreas Voßkuhle. Doch sobald der 48-jährige Präsident des Verfassungsgerichtes zu formulieren beginnt, zeigt er tatsächlich seinen Stachel.

"Verfassungsgerichte dienen nicht der Stärkung der Regierung", so beschrieb Voßkuhle jüngst in der "Zeit" die Aufgabe seines Hauses. "Wir dringen darauf, dass die Regeln, die wir uns im Grundgesetz für die Entscheidung wichtiger politischer Fragen gegeben haben, eingehalten werden, auch in der Krise". Es ist der letzte Teil des Satzes, der das Gift enthält.

Denn gerade in der Euro-Krise geriet das ansonsten fein austarierte Machtverhältnis zwischen Verfassungsgericht und Bundesregierung aus der Balance. Seit seiner ersten Europaentscheidung im Jahr 1993 hat Karlsruhe die Frage, wie weit die europäische Integration mit dem Grundgesetz vereinbar ist, mit immer der gleichen Formel beantwortet: Die Verfassung sage Ja zu mehr Europa. Aber nur solange, wie ein Kern deutscher Staatlichkeit erhalten bleibe.

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Die Regierung habe weitgehende Gestaltungsfreiheiten, doch dürfe das Demokratieprinzip durch die Übertragung von Hoheitsrechten aus Berlin nach Brüssel nicht infrage gestellt werden. Das bedeutet: Der Bundestag als einziges unmittelbar vom Volk gewähltes Organ der Staatsleitung muss Aufgaben und Befugnisse von substanziellem Gewicht behalten.

Europäische Vertragswerke möglichst breit diskutieren

Statt das Parlament aber wie verlangt zu informieren und zu beteiligen, wurde es von der Kanzlerin bei der Euro-Rettung immer wieder vor vollendete Tatsachen gestellt. Im Urteil zum Zustandekommen des ESM heißt es deshalb tadelnd, die Bundesregierung sei verpflichtet, dem Parlament "nicht nur einen abschließend beratenen oder sogar beschlossenen Vertragstext" zuzuleiten.

Steckbrief: Angela Merkel
Steckbrief: Angela Merkel
Quelle: Infografik Welt Online

Sie müsse dem Bundestag vielmehr zum frühestmöglichen Zeitpunkt ihr vorliegende Zwischenergebnisse und Textstufen übermitteln.

Karlsruhe möchte, dass die europäischen Vertragswerke möglichst breit diskutiert werden. Die Politik, sagt Vosskuhle, brauchte "mehr Momente der Entschleunigung, Reflexionsschleifen, um über grundlegende Entscheidungen nachzudenken".

Die Kanzlerin dagegen möchte keine ausufernden Debatten in der Heimat, sondern freie Hand für ihre Verhandlungen in Europa. Das passt nicht zusammen, deshalb kracht es so vernehmlich zwischen den Verfassungsorganen in Berlin und Karlsruhe.

Dabei schätzt Angela Merkel Voßkuhle angeblich. Einmal im Jahr reist ihr Kabinett traditionell nach Karlsruhe, um ein gemeinsames Essen mit den Mitgliedern des Verfassungsgerichtes einzunehmen.

Merkel ist keine Juristin, dennoch verlässt sie sich nicht auf die Vermerke von Mitarbeitern, sondern liest die Urteile des höchsten Gerichtes persönlich und vollständig. Vertrauten gegenüber berichtet sie, dass sie diese Lektüre anregend fände: Man lerne dabei so viel.

Merkel wollte Voßkuhle einst zum Präsidenten machen

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Im März wollte Merkel den Gerichtspräsidenten sogar zum ersten Mann im Staate machen. Als Union und FDP nach dem Rücktritt Christian Wulffs nach einem Nachfolger für den Job des Bundespräsidenten suchten, kam Merkel auf die Idee, Voßkuhle zu fragen. Ihr Kalkül damals war gleichzeitig staatspolitisch, parteipolitisch und persönlich.

Staatspolitisch sprach aus Merkels Sicht für Voßkuhle, dass er mit den entscheidenden Institutionen vertraut sei. In der Krise brauche das Land einen, der wisse, wie die EU funktioniere, erklärte sie damals im CDU-Präsidium.

Parteipolitisch war Voßkuhle ein Schachzug zur Einbindung der SPD, auf deren Vorschlag er Verfassungsrichter wurde.

Persönlich versprach sich Merkel vom noch relativ jungen und in der Bevölkerung kaum bekannten Voßkuhle eine für sie günstigere als die klassische Repräsentanz durch ältere Herren: In der Ära Wulff war Merkel zum gefühlten realen Staatsoberhaupt der Deutschen aufgerückt – und hätte diese Position gern behalten.

Merkel holte sich eine Absage ein

Also rief sie Voßkuhle an – und holte sich eine Absage. Er wolle lieber bis 2020 Präsident des Verfassungsgerichts bleiben, sagt er nach wenigen Stunden Bedenkzeit. Der Höflichkeitsformel, das Angebot sei eine "sehr große Ehre", ließ er eine neuerliche Spitze folgen: Sein Gericht stehe gerade im Zuge der Europäisierung weiterhin vor großen Entscheidungen: "Da geht der Kapitän nicht vorzeitig von der Brücke".

Was er gemeint haben könnte: Die nächste Entscheidung Karlsruhes steht bereits vor der Tür: die Prüfung der Verträge zu Fiskalpakt und ESM. Und nicht wenige Auguren prophezeien, dass Voßkuhle und seine Mitstreiter es diesmal nicht bei Ermahnungen zu einer Einbeziehung des Bundestages belassen könnten, sondern dass sie die Übertragung von Teilen der Haushaltsautonomie des Parlamentes als Eingriff in den unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität bewerten.

Dann wäre die Merkelsche Rettungspolitik gescheitert. Es bliebe nur noch der in Artikel 146 des Grundgesetzes vorgezeichnete Weg, die Bürger per Volksentscheid über den weiteren Gang der Integration entscheiden zu lassen.

Die Skorpione taugen auch als Waffe

So weit ist es noch nicht. Noch kann die Kanzlerin sich das Gericht sogar zunutze machen. Denn in Europa taugen die Skorpione aus Karlsruhe ironischerweise als Waffe Merkels. Denn immer wieder zieht sich die deutsche Regierungschefin in Verhandlungen darauf zurück, auf einem Punkt beharren zu müssen, weil sie sonst Probleme mit ihrem Verfassungsgericht bekomme.

Die amtierende IWF-Chefin Christine Lagarde soll in ihrer Zeit als französische Finanzministerin sogar einmal in einer Sitzung wütend gerufen haben: "Wenn hier noch einmal einer Bundesverfassungsgericht sagt, gehe ich."

"Die Deutschen lieben ihre Gerichte, nicht?"

Und auch der neue französische Präsident Francoise Holland, der so viel in Europa anders machen will, hat die roten Roben schon kennen gelernt. Als in der vergangenen Woche das G-20-Treffen der mächtigsten Staats- und Regierungschefs im mexikanischen Los Cabos mit einem Feuerwerk zu Ende ging, nahm er die Kanzlerin auf der Terrasse des Konferenzzentrums beiseite, um sich persönlich erklären zu lassen, warum Deutschland ESM und Fiskalpakt nun doch später verabschieden werde.

 Anschließend, so wird kolportiert, habe Hollande mit dem Kopf geschüttelt und ironisch gefragt: "Die Deutschen lieben ihre Gerichte, nicht?"

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