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Die Kurden und das Geburtenproblem in der Türkei

Aus Sicht der Regierung in Istanbul ist diese Karte beunruhigend, denn danach steigen die Geburtenraten im Osten des Landes stark, in der Zentraltürkei und im modernen Westen hingegen sind sie niedrig oder sinken sogar Aus Sicht der Regierung in Istanbul ist diese Karte beunruhigend, denn danach steigen die Geburtenraten im Osten des Landes stark, in der Zentraltürkei und im modernen Westen hingegen sind sie niedrig oder sinken sogar
Aus Sicht der Regierung in Istanbul ist diese Karte beunruhigend, denn danach steigen die Geburtenraten im Osten des Landes stark, in der Zentraltürkei und im modernen Westen hinge...gen sind sie niedrig oder sinken sogar
Quelle: Infografik Die Welt
Im „europäischen” Westen des Landes kommen kaum Kinder zur Welt, im Osten und Südosten viele. Der Regierung ist beunruhigt, denn die Menschen dort betrachten sich weniger als Türken denn als Kurden.

Bei den letzten Parlamentswahlen in der Türkei im Jahr 2011 stellte sich einer der Kandidaten der Regierungspartei AKP zum Gespräch mit Honoratioren der Stadt Sanliurfa, im Südosten der Türkei. Er selbst war aus dem Norden. Jemand fragte ihn, was er denn für die Frauen zu tun gedenke. „Wir müssen die Geburtenrate senken”, war die Antwort.

Ministerpräsident Erdogan habe ja die Parole ausgegeben, jede Frau solle drei Kinder bekommen, und auch in der geburtenlahmen EU sei das die vergeblich angestrebte Zahl – hier aber „beginnt es ja bei sieben Kindern und geht bis 23”. Es sollte wohl locker klingen, unter den Anwesenden war keine einzige Frau. Es kam aber nicht gut an, Kindersegen gilt hier noch als Gottessegen.

Der Mann hatte aber ungewollt durchscheinen lassen, dass die Geburtenraten in der Türkei der Regierung ganz andere Sorgen bereiten, als gemeinhin angenommen wird. Erdogans Schlagwort von den drei Kindern wird immer als Ermunterung zum Kindermachen verstanden, vor dem Hintergrund sinkender Geburtenraten in der immer moderneren Türkei. Die Rate liegt seit zwei Jahren unter der magischen Schwelle von 2,1 Kindern pro Frau, ein Wert, der gerade ausreicht, um die Bevölkerungszahl stabil zu halten.

Je europäischer, desto weniger Kinder

Aber nicht nur die auf nationaler Ebene sinkende Geburtenrate wird als Problem gesehen, sondern auch die sehr hohen Geburtenraten im Osten und Südosten des Landes. Die würde man am liebsten senken, jene im Westen der Türkei und in Zentralanatolien dagegen anheben. Dafür gibt es einen einfachen Grund: Die Geburtenraten sind unter anderem dort am höchsten, wo die Menschen sich am wenigsten als Türken betrachten. Sondern eher als Kurden.

In den vergangenen Wochen wurden zwei interessante Sozial-Landkarten der Türkei veröffentlicht. Die eine betrifft die Entwicklung der Geburtenraten in unterschiedlichen Teilen des Landes. Im Westen, also im kulturell europäischsten Teil der Türkei, liegt die Rate bei nur 1,5 – ein Wert, der europäischen Verhältnissen entspricht, nur dass die Geburtenrate einer jener Bereiche ist, in dem die Türkei sich lieber kein Beispiel an Europa nehmen möchte.

Demografen haben festgestellt, dass es im kinderarmen Westen dennoch kinderreiche Segmente der Gesellschaft gibt, vor allem zugewanderte Kurden in den Großstädten. Mit anderen Worten, die Geburtenrate für den ethnisch türkischen Teil der westtürkischen Bevölkerung liegt wahrscheinlich noch niedriger als 1,5. Die Geburtenrate wächst sogar in einzelnen Gebieten im Westen, nämlich überall da, wo es hohe Zuwanderung gibt, etwa Istanbul und das südwestliche Antalya.

Weniger Geburten in AKP-Hochburgen

Stark sinkende Geburtenraten, allerdings von einem höheren Ausgangsniveau, gibt es in zentralanatolischen Regionen, die politisch als Rückgrat der Regierungspartei AKP gelten. In Yozgat, eine der frühesten und solidesten Hochburgen der AKP, ist die Geburtenrate in den zehn Jahren der AKP-Regierung um 36 Prozent gesunken.

Im fernen Osten und Südosten der Türkei dagegen liegt die Geburtenrate bei 3,5 Kindern pro Frau. Die Gründe dafür sind wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Natur – es ist die am wenigsten entwickelte Region des Landes, zugleich sind die Möglichkeiten für Frauen begrenzter, gegen den Widerstand der patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen speziell bei den Kurden Zugang zu Bildung und beruflichen Chancen zu erlangen.

Was das in künftigen Jahrzehnten für die Türkei politisch bedeuten mag, ergibt sich aus einer anderen Landkarte, die des „Nationalstolzes”. Sie entstammt einer Studie der Bahcesehir-Universität und überschneidet sich teilweise mit der Geburten-Landkarte: Wo die Geburtenraten am höchsten sind, ist das Bekenntnis zur Türkei am schwächsten. Im kurdisch bevölkerten Südosten, wo viel mehr Kinder geboren werden als anderswo, sind nur 23 Prozent der Menschen „stolz” auf die Türkei. Fast überall sonst sind es 70 bis 85 Prozent.

Die Türkei wird immer kurdischer

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Mit anderen Worten: Während in Deutschland laute Klagen zu hören sind – teilweise mit brisanten politischen Untertönen – dass “Migranten” (gemeint sind vor allem Türken) sich munter vermehren, während die Deutschen aussterben, hat die Türkei ein ähnliches Problem. Wenn der Trend anhält, wird sie in einigen Jahrzehnten ein sehr viel kurdischeres Land sein als jetzt. Das kann mit erheblichen politischen Verwerfungen einhergehen.

Es bedeutet freilich nicht, dass dann etwa die PKK die Macht übernimmt. Die kurdische Rebellen- oder Terrororganisation (je nach Weltanschauung) hat zwar dazu beigetragen, die Herausbildung einer eigenen kurdischen Identität in der Türkei zu fördern. Aber sie spaltet die Kurden auch, und die jeweilige PKK-nahe Partei vermag es bei Wahlen nicht, landesweit mehr als ungefähr sechs oder sieben Prozent der Stimmen zu erringen.

Niemand weiß genau, wie viele Kurden es in der Türkei gibt, es gibt darüber keine Erhebungen. Die besten Schätzungen gehen von rund 18 Prozent der Gesamtbevölkerung aus, der Bogen reicht von 15 bis 25 Prozent. Aber landesweit sechs Prozent als Wahlergebnis sind auf jeden Fall weniger als die Hälfte der kurdischen Bevölkerung.

Istanbul gilt als „größte kurdische Stadt“

Es gibt seit den 90er Jahren eine massive kurdische Abwanderung aus dem Südosten in die Großtädte. Istanbul gilt mittlerweile als “größte kurdische Stadt”. Aber dort, im Westen, in den Städten, vollzieht sich meistens sehr rasch ein Sinneswandel – abgewanderte Kurden werden dort sehr viel “türkischer”, gemäßigter, wenden sich ab von der Idee eines kurdischen Separatismus.

Wenn aber eines Tages eine gemäßigte Kurdenpartei auftreten sollte, und über ein demografisch stark gewachsenes Wählerpotenzial verfügt, dann kann es zu großen Veränderungen in der Türkei kommen. Die AKP weiß es nur zu gut: Ihr eigener Aufstieg wurzelte im demografischen, aber auch wirtschaftlichen Aufstieg konservativer, zentralanatolischer Muslime im Vergleich zu den säkularen, kinderarmen “Westlern”.

Erdogan hat in der Vergangenheit vor einer “katastrophalen Lage” gewarnt, wenn der demografische Trend bis zum Jahr 2038 ungebrochen anhält. Was er da genau berechnete, ist nicht bekannt.

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