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Deutschland Arabische Männer

Sind Sexualmoral und Ehrbegriff veränderbar?

Politikredakteurin
Yilmaz Atmaca, Asmen Ilhan und Deniz Ince (v. l.) sind Projektleiter von „Heroes“, einem preisgekrönten Projekt. Sie versuchen, das Frauenbild von Jungen und Männern aus sogenannten Ehrkulturen zu hinterfragen Yilmaz Atmaca, Asmen Ilhan und Deniz Ince (v. l.) sind Projektleiter von „Heroes“, einem preisgekrönten Projekt. Sie versuchen, das Frauenbild von Jungen und Männern aus sogenannten Ehrkulturen zu hinterfragen
Yilmaz Atmaca, Asmen Ilhan und Deniz Ince (v. l.) sind Projektleiter von „Heroes“, einem preisgekrönten Projekt. Sie versuchen, das Frauenbild von Jungen und Männern aus sogenannte...n Ehrkulturen zu hinterfragen
Quelle: Amin Akhtar
Die Übergriffe in Köln haben zur einer Debatte über das archaische Frauenbild vieler arabischer Männer geführt. Kann dieses überhaupt verändert werden? Das Berliner Projekt „Heroes“ versucht es.

Was bedeutet Ehre? Das ist meist die erste Frage an die Jugendlichen, deren Eltern aus der Türkei oder aus Palästina und anderen arabischen Ländern kommen. Und fast immer kommt prompt als Antwort: Ehre, das ist die Jungfräulichkeit der Schwester. Diese gelte es zu verteidigen – und das folgt den immer gleichen Mustern.

Vater: „Steh auf, wenn dein Vater nach Hause kommt! Wo ist deine Schwester? Du bist der Mann im Haus, wenn ich nicht da bin! Geh’ sie gefälligst holen!“ Der Sohn telefoniert auf Anweisung des Vaters und findet heraus: Seine Schwester Zeynep ist im Einkaufscenter. Widerwillig geht der Junge dorthin und trifft einen Kumpel. Der setzt ihn ebenfalls unter Druck. „Dein Vater macht Stress? Zu Recht! Hol’ Zeynep wie ein Mann nach Hause! Was sollen die anderen denken?“ Schließlich schlägt er seine Schwester, weil diese sich weigert, mit nach Hause zu kommen. Sein Kumpel nickt anerkennend.

Szenen, wie sie sich so ähnlich in Berlin, Frankfurt, Duisburg wohl erschreckend häufig abspielen. Und es sind solche Szenen, die Teil eines Rollenspiels des Berliner Projekts „Heroes“ sind, das sich an junge Männer aus „Ehrkulturen“ wendet. Der palästinensisch-israelische Psychologe Ahmad Mansour hat es vor neun Jahren ins Leben gerufen und dafür viele Preise bekommen.

Flüchtlingsfrauen klagen über sexuelle Übergriffe

Der Anteil der Frauen, die als Flüchtlinge nach Europa kommen, ist gering. Umso häufiger werden sie Zielscheibe sexueller Übergriffe während der Flucht. Das berichtet nun Amnesty International.

Quelle: Die Welt

Bald könnten es noch mehr werden. Nach den Ereignissen von Köln haben viele europäische Länder über die Konsequenzen gesprochen. Und ganz Deutschland, so scheint es, redet nun über die Psyche des arabischen Mannes. Der dazu erzogen wird, Frauen abzuwerten, verbunden mit einer höheren Bereitschaft, sexuell übergriffig zu werden. „Für uns ist das nicht ein Thema, seitdem viele Flüchtlinge im Land sind“, sagt Mansours Partner und Gruppenleiter Yilmaz Atmaca. „Wir reden da seit neun Jahren drüber.“

Tausende Jugendliche haben die „Heroes“ mit ihren Rollenspielen schon erreicht; sie sind mittlerweile in ganz Deutschland unterwegs und haben Einladungen nach Österreich und Dänemark. Dort sollen Asylbewerber schon in den Unterkünften in speziellen Kursen in Sexualmoral unterrichtet werden, fordern die dänischen Sozialdemokraten nach der Kölner Silvesternacht. Von Anfang an sollen sie Regeln zum Umgang mit Frauen vermittelt bekommen und verinnerlichen. Ein Kuss ist keine Einladung zum Sex. Frauen können im Minirock allein in der Stadt unterwegs sein, ohne auf der Suche nach einem Mann zu sein. In Norwegen gibt es diese Kurse bereits seit fünf Jahren. Zuvor hatte es vermehrt Vergewaltigungen durch Migranten gegeben.

Für Mansour ist klar: „In manchen arabischen Kulturen führen Erziehungsmethoden, die auf Tabuisierung der Sexualität und Abwertung von Frauen basieren, zu solchen Taten.“ In arabischen Ländern komme es immer wieder zu sexuellen Belästigungen. Jeder, der einen gesunden, normalen Umgang zwischen den Geschlechtern untersagt, dürfe sich darüber nicht wundern. „Darunter leiden nicht nur blonde westliche Frauen, sondern auch jede Frau, die die krankhaften traditionellen Vorstellungen ablehnt und versucht frei zu leben“, sagt Mansour.

Ein Ansatz des Projektes - Männer treten für Frauen ein

Wöchentlich trainieren er und seine Kollegen junge Männer im Neuköllner Büro der „Heroes“. Männer treten für Frauen ein – das ist ein Ansatz des Projekts. Fast alle sind in muslimischen Familien aufgewachsen. Sie werden geschult darin, archaische Denkmuster zu hinterfragen, sich gegen Gewalt einzusetzen. Und so zu „Heroes“ zu werden.

Im Schnellballprinzip verbreiten sie die Haltung, dass man das, was die Eltern sagen, hinterfragen und anders machen kann. Sie gehen in Schulen und Jugendzentren und versuchen dort, muslimische Jugendliche zum Umdenken anzuregen, die Unterdrückung der Frau und den Ehrbegriff infrage zu stellen.

Jugendliche, die geeignet sind, solche Multiplikatoren zu werden, sind nicht einfach zu finden. Es geht nur über Mund-zu-Mund-Propaganda. Die meisten stammen aus liberalen türkischen Familien, haben aber trotzdem Zugang zu streng traditionellen Milieus. „Das ist der Grund, warum man uns zuhört“, sagt Gruppenleiter Deniz Ince. „Wir kommen aus derselben Kultur, wir fühlen uns wohl darin, aber wir hinterfragen trotzdem. Wenn das ein deutscher Lehrer sagen würde, dann sagen die Jugendlichen: ‚Du kennst meine Kultur nicht, du hast mir nichts zu sagen!‘“

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Menschen wie die „Heroes“ ringen mit vielen Widerständen und setzen sich über die Prägung ihrer Community hinweg. Das ist mutig. Und es funktioniert, weil es Türken, Palästinenser, Araber sind, die die Unterdrückung der Frauen infrage stellen.

Ich denke nicht immer so, wie meine Familie es erwartet. Ich bin aber trotzdem selbstbewusst
Deniz Ince, Projektleiter von „Heroes“

Gruppenleiter Ince ist so einer, der Gehör findet. Seine Eltern stammen aus der Türkei. Er ist in Berlin-Kreuzberg geboren und studiert Sozialarbeit. Ince wurde liberal erzogen und dazu ermutigt, Tradition und Religion zu hinterfragen. Doch trotz seiner liberalen Kernfamilie kam er über Schulkameraden, die Familien von Freunden, die Community in Kontakt mit traditionellen und religiösen Strukturen. Mit dem Gegensatz zwischen Tradition und Moderne ist er aufgewachsen. „Ich denke nicht immer so, wie meine Familie es erwartet. Ich bin aber trotzdem selbstbewusst, ich werde respektiert und habe nichtsdestotrotz meine eigene Definition von Ehre.“

Ince findet Zugang zu den Jugendlichen, weil er keine Ansagen macht, sondern Denkanstöße gibt. Sie müssten selber drauf kommen, dass man es anders lösen könne als mit Gewalt und Unterdrückung, sagt er. Sonst funktioniere es nicht.

Bei „Heroes“ wird nach den Rollenspielen mit den Jugendlichen diskutiert. „Richtig so!“, sagt ein Mädchen zu dem Macho-Gehabe des Jungen. Und ein anderer Jugendlicher ergänzt: „Mein Vater ist genauso!“ Ince fragt sie: „Warum handelt er so? Aus Sorge um das Wohl der Tochter?“ – „Ich glaube, aus Angst um ihre Jungfräulichkeit“, sagt der Junge mit der Lederjacke.

Schockierende Aussagen vieler Jugendlicher

„Und warum handelt der Bruder so?“, setzt Ince nach. „Weil ihm der Vater im Nacken sitzt und sein Freund. Aber eigentlich will er nicht so sein!“ – „Aber hat der Freund denn nicht recht? Die Tochter muss doch nach Hause!“ – „Ja, natürlich, und wenn der Bruder sie nicht schlägt, respektiert sie ihn nicht!“ – „Hilft ihr das denn? Bringt das ihre Jungfräulichkeit zurück?“ – „Also ich hätte lieber einen Bruder, der mich versteht!“, sagt ein Mädchen. Ince stellt Fragen. Könnte man Zeynep vielleicht auch ohne Ohrfeige nach Hause holen? Oder den Vater anders beruhigen?

Oft ist er schockiert von den Aussagen der Jugendlichen. „Ich würde meine Schwester umbringen, wenn sie in der Öffentlichkeit mit jemandem rummacht!“ oder „Die kriegt ’ne Bombe ins Gesicht!“ Jugendliche, die 15, 16, 17 Jahre lang mit solchen Einstellungen aufwachsen, krempelt man nicht in ein paar Stunden um. „Es reicht, wenn man mal die Perspektive wechselt und zeigt, dass man nicht automatisch so denken muss wie seine Eltern“, sagt Ince.

„Auf einmal sind die Jugendlichen mitten in einer Diskussion über die Jungfräulichkeit der Schwester, das ist schon die halbe Miete“, findet Gruppenleiter Atmaca. „So kann man das Bewusstsein schaffen: Ich will archaische Vorstellungen nicht an meine Kinder weitergeben, und eine Frau muss nicht unbedingt mit 18 heiraten.“

Unterricht in deutscher Rechtskunde für Flüchtlinge

In den Herkunftsländern von Migranten herrschen teilweise andere Regeln als in Deutschland. Um das Zusammenleben in Zukunft zu erleichtern, sollen Flüchtlinge Unterricht in Rechtskunde erhalten.

Quelle: Die Welt

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Gruppenleiter Atmaca ist Schauspieler und Theaterpädagoge, er studiert die Rollenspiele mit den Jugendlichen ein. Gern besetzt er die Rolle des hilflosen Mädchens mit einem Freiwilligen, am liebsten mit dem Klassenclown, dem Großmaul, um ihn hinterher fragen zu können, wie er sich gefühlt hat in der Lage, bedroht von seinem Bruder, bloßgestellt vor den Freunden. „Nicht so cool“, kommt dann häufig. Oder: „War ein Scheißgefühl.“

Ince und Atmaca bieten Auswege aus den verfahrenen Situationen an. Welche Alternativen hätte der Sohn? Im Gespräch findet sich eine neue Variante: Der Sohn weist die Forderung seines Kumpels zurück: „Ist gut jetzt, es ist meine Schwester, okay?“ Den Vater beruhigt er: „Zeynep kommt gleich. Alles ist gut.“

In Deutschland soll das Thema Sexualmoral ab sofort in die Integrationskurse aufgenommen werden. Und die „Heroes“ haben in der vergangenen Woche ihre erste Anfrage von einem Flüchtlingsheim bekommen, in dem sie bald ihren Workshop machen wollen.

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