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Deutschland Menschen ohne Zuhause

Wenn Hass auf Obdachlose in tödlicher Gewalt endet

Politikredakteur
Obdachlosen-Lager unter einer S-Bahn-Brücke in Berlin-Charlottenburg Obdachlosen-Lager unter einer S-Bahn-Brücke in Berlin-Charlottenburg
Obdachlosen-Lager unter einer S-Bahn-Brücke in Berlin-Charlottenburg
Quelle: picture alliance/dpa/Fabian Sommer
Im vorigen Jahr wurden mindestens 16 Obdachlose getötet. Bei vielen Gewalttaten gegen Wohnungslose spielen „sozialdarwinistische“ Motive eine Rolle. Die Hälfte der Täter lebt ebenfalls auf der Straße oder in Notunterkünften. Eine Form der Gewalt bleibt unsichtbar.

In Deutschland wurden im vergangenen Jahr mindestens 16 Obdachlose getötet. Dies geht aus einer systematischen Presseauswertung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) hervor, die WELT vorliegt. Demnach waren die Täter in acht der tödlichen Gewaltfälle ebenfalls obdachlos. Von den tödlichen Gewalttaten im Jahr 2021 waren 15 Männer und eine Frau betroffen. Die BAGW dokumentierte zudem 142 weitere Gewaltfälle, bei denen 169 Menschen ohne Wohnung verletzt wurden.

In beiden Statistiken geht der Dachverband der Wohnungslosenhilfe von deutlich höheren Dunkelziffern aus, da ausschließlich Fälle in ihre Dokumentation einfließen, über die lokale oder bundesweite Medien berichten.

Zudem gebe es viele wohnungslose Frauen, die unter sexualisierter Gewalt litten, die im Verborgenen passiere und in der Auswertung unsichtbar bleibe, da es weder Anzeigen noch Berichterstattung über einzelne Fälle gebe. So würden in sogenannten Mitwohnverhältnissen häufig sexuelle Dienste als „Gegenleistungen“ verlangt oder erpresst.

„Gewalt gegen Obdachlose ist ein Dauerbrenner. Seit Beginn unserer Dokumentation im Jahr 1989 sind die schweren und tödlichen Gewaltfälle auf einem hohen Niveau“, sagt die Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe, Werena Rosenke. Von den nicht-wohnungslosen Tätern würden die Betroffenen häufig als minderwertig betrachtet, mit denen man machen könne, was man wolle, da sich sowieso niemand darum kümmere.

Offene Gewalt sei dabei nur das deutlichste Zeichen von Missachtung und Stigmatisierung. „Solange Menschen gezwungen sind oder sich gezwungen sehen, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten, und solange diese Menschen stigmatisiert und diskriminiert werden, werden sie leicht zum Opfer“, so Rosenke.

E-Scooter auf einen Schlafenden geworfen

Es sind grausame Nachrichten, die der Verband das ganze Jahr über dokumentiert. Bei zahlreichen Fällen vermutet die BAGW einen sozialdarwinistischen Hintergrund. In solchen Fällen gehen die Täter davon aus, dass ihre Opfer aufgrund der Wohnungslosigkeit minderwertig, arbeitsscheu oder gar lebensunwert seien.

So wurden etwa am 31. Januar 2021 in Berlin zwei 60-jährige Obdachlose aus solchen Motiven verletzt: Ein Mann warf zunächst einen E-Scooter auf einen Schlafenden, attackierte einen Zweiten mit Tritten und beschimpfte beide währenddessen herablassend.

Am 26. Februar wurde ein 59-jähriger Obdachloser in der Hauptstadt von drei männlichen Jugendlichen aus einem Zelt getrieben und mit Stöcken geschlagen. Im Oktober und November gab es in Köln mindestens zehn Farbattacken auf Obdachlose: Während sie schliefen, wurden sie mit weißer Farbe übergossen. Ein Serientäter wird vermutet.

WELT zeigte in einer Recherche im Jahr 2021, dass in den vorherigen Jahren viele schwere Gewalttaten gegen Obdachlose aus den vergangenen Jahren straffrei blieben. Die Recherche machte zudem zwei Fälle von tödlicher Gewalt gegen Obdachlose bekannt, die von den Behörden nicht als politisch motivierte Tötungsdelikte aufgeführt werden, obwohl in den Gerichtsurteilen sozialdarwinistische Motive genannt werden.

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BAGW-Geschäftsführerin Rosenke fordert einen Perspektivwechsel: Obdachlose müssten als potenzielle Gewaltopfer und nicht als Störung der öffentlichen Ordnung wahrgenommen werden. Zudem brauche es mehr Chancen für die Menschen, „die eigene Tür zumachen zu können“, um in Sicherheit zu sein. „Der beste Schutz vor Gewalt ist die eigene Wohnung.“

Die Presseauswertung umfasst auch 74 Gewaltfälle unter Wohnungslosen. In den meisten Fällen sind dabei Obdachlosenunterkünfte die Tatorte, noch vor Bahnhöfen oder anderen Orten des öffentlichen Raums. Zu den Hintergründen ist dort etwa vermerkt: Streit unter Bekannten, Streit über die Aufteilung des Zimmers, Streit um einen trockenen Schlafplatz, Streit über geklaute Pfandflaschen, Geldschulden, Raub.

„Die wohnungslosen Täter sind selbst für ihr Handeln verantwortlich. Dennoch ist es wichtig zu analysieren, welche Umstände in der Lebenssituation oder der Unterbringung zu einer geringen Toleranzschwelle führen“, sagt Rosenke.

Das Leben auf der Straße oder in dicht belegten Notunterkünften sei äußerst prekär, Obdachlose stünden unter Dauerstress. „Wenn man wenig hat und dann noch jemand einem etwas wegnehmen will, kann das eine Situation schnell eskalieren lassen.“ Für eine höhere Sicherheit in den Unterkünften bräuchte es bessere Standards bezüglich der Belegung, des Personalschlüssels und der Schulung des Personals.

Auf der Straße wird die Kälte lebensbedrohlich

Die Zahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland wird auf 256.000 Menschen geschätzt. Wegen der coronabedingt eingeschränkten Hilfsangebote dürften es sogar noch mehr sein. In den kalten Wintermonaten haben sie es besonders schwer.

Quelle: WELT/Vivien Krüger

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