Auf den ersten Blick wirkt Tamara K. eher harmlos. Als Heilpraktikerin in einem Eifeldorf in NRW versucht sie, Menschen durch „ganzheitliche Naturheilkunde“ zu helfen. Sie trägt blonde Dreadlocks und jede Menge bunte Armringe. Auf Fotos lächelt sie meist freundlich. Doch als Corona-Leugner im August 2020 den Reichstag in Berlin zu stürmen versuchten, war sie eine der treibenden Kräfte. Per Mikro feuerte sie diese an: „Wir gehen da drauf und holen uns heute, hier und jetzt, unser Hausrecht zurück!“ Am Tag zuvor trat sie vor der russischen Botschaft auf. Dort kündigte sie an, sie wolle „dafür sorgen, dass diese BRD-Fake-Regierung abgewickelt wird!“ Dann bat sie Putins Botschafter, „auf uns aufzupassen, wir werden morgen für unsere Freiheit kämpfen“.
Während der Proteste von Corona-Leugnern und radikalen Impfgegnern lernte die Republik die brisante Verbindung zweier Milieus kennen, die bis dahin der breiten Öffentlichkeit unbekannt war: von Esoterikern und verfassungsfeindlichen, oft rechtsradikalen Verschwörungsgläubigen – wie bei besagter Heilpraktikerin, die den rechtsextremen Reichsbürgern nahestand. Was ist nun, nach der Hochphase der Pandemie, in NRW geblieben von dieser Milieu-Kreuzung? Von ihren Netzwerken? Und welche Gefahr geht von ihnen aktuell aus?
Diesen Fragen widmeten sich in Düsseldorf Experten bei einer Diskussionsveranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung über „Verschwörungsglauben in Esoterik und gesellschaftlicher Mitte“. Darüber hinaus schenkt auch der Verfassungsschutz dieser Mischszene seine Aufmerksamkeit. Beide zeichneten gegenüber WELT ein düsteres Bild: Die Szene sei keineswegs geschrumpft. In mancher Hinsicht sei sie aktuell gefährlicher denn je. Unverändert besteht die große Gefahr solcher Verschwörungsideologen laut NRW-Verfassungsschutz darin, dass sie politisch motivierte Kriminalität begünstigen, zumindest Toleranz dafür erzeugen.
Nur der harte Kern ist geschrumpft
Denn: Aus „ihrer Überzeugung, eine verborgene Wirklichkeit aufgedeckt zu haben“, aus ihrem Glauben, die Pandemie sei „nur ein Vorwand zur Aufhebung der Grundrechte“, leiteten sie ein Widerstandsrecht ab, so eine Sprecherin des Verfassungsschutzes. Vielfältig belegt ist auch, dass Corona-Leugner in sozialen Medien und auf Demonstrationen äußerten, die Demokratie mit freien Wahlen und der Rechtsstaat mit unabhängigen Gerichten seien Fiktion. In Wirklichkeit herrsche eine von geheimen Mächten gelenkte Diktatur mit dem Ziel, Impfskeptiker und Corona-Kritiker zu vernichten. Aus dieser Realitätsverkennung schlossen einzelne Corona-Leugner, es sei daher unvermeidlich, die politische Elite zu ermorden.
Doch das Abklingen der Pandemie haben diese Milieus schadlos überlebt, beobachtet Elisabeth Müller-Witt. Die Vize-Vorsitzende der SPD-Landtagsfraktion beschäftigt sich seit Jahren mit diesen Szenen. Auch nach der Pandemie-Hochphase existierten die Netzwerke esoterisch-staatsfeindlicher Verschwörungsgläubiger unvermindert weiter, sagt sie. Es sei „sehr schwierig, die sozial-mediale Selbstmanipulation zu beenden, in die sich viele Verschwörungsgläubige begeben haben“. Wer diesen Netzwerken angehöre, werde ja fortlaufend bestätigt in seinem Wahn – weil von Algorithmen getriebene Medien ihre Nutzer unablässig mit Kommentaren und (vermeintlichen) Nachrichten versorgten, die das Weltbild des Gläubigen untermauerten.
Auch die Beratungsstelle Sekten-Info NRW sagt, die Zahl um Hilfe bittender Angehöriger von Verschwörungsgläubigen sei keineswegs gesunken (2021 gab es deshalb 249 Anfragen). Und der Leipziger Autoritarismus-Studie von 2020 zufolge haben auch unabhängig von der Pandemie gut fünf Prozent der Bundesbürger „eine starke Neigung zu conspirituality“, also zu Glaubensgebäuden, in denen konspirative Verschwörungstheorie und esoterische Spiritualität zusammenfallen. Das sei auch nicht überraschend, meint Katharina Nocun, Autorin des Buches „Gefährlicher Glaube. Die radikale Gedankenwelt der Esoterik“. Verschwörungsglaube und Esoterik wiesen eine innere Affinität auf, „sie docken psychologisch an die gleichen Bedürfnisse an“ – mit ihrem Glauben, sie könnten durch eine täuschende Erscheinungswelt hindurchblicken und die wahren Zusammenhänge erkennen.
Es deute nichts darauf hin, dass die Szene verschwörungsgläubiger Corona-Leugner in NRW seit Mai 2021 geschrumpft sei, teilt auch der Verfassungsschutz auf Anfrage mit. Damals schätzte er vor allem anhand von Aktivitäten in sozialen Netzwerken, die Größe der Szene bewege sich „im niedrigen fünfstelligen Bereich“ – wobei nicht alle Aktiven strikt verfassungsfeindlich seien. Der harte Kern der sogenannten Delegitimierer-Szene, der es allein um die Delegitimierung des demokratischen Staates gehe, ist laut der Behörde jedoch etwas zurückgegangen. Derzeit gehörten ihm in NRW nur „50 bis 70 Personen“ an, darunter etliche Esoteriker. Auffällig sei, dass sich „derzeit Rechtsextremisten und die Delegitimierer-Szene noch stärker miteinander vernetzen als während der Corona-Proteste“: Damals habe es zum Teil deutliche Abgrenzungen gegeben. Damit sei nun Schluss. So unterstützten im September zum Beispiel Esoteriker-Kreise, aber auch die rechtsextreme Gruppe „Aufbruch Leverkusen“ eine pro-russische Demonstration in Köln. Bei der Versammlung von etwa 1000 Menschen wurden die Parolen munter gemischt: gegen Corona-Diktatur und Impfpflicht, für Putin, gegen die Nato. Dazu seien russische und deutsche Fahnen, aber auch die Regenbogenflagge geschwenkt worden.
Ukraine-Krieg als Ablenkungsmanöver
Darin zeigt sich ein Trend: Nach dem Abklingen der großen Wut auf die Corona-Schutzmaßnahmen hat sich die Szene aktuell dem Ukraine-Krieg und seinen Folgen zugewendet. Sie mobilisierten aufseiten der Putin-Unterstützer und bei Protesten gegen Ukraine-Flüchtlinge, berichtet auch Autorin Nocun. Der Bezug zu Corona geht dabei nicht verloren. So glaubt die Hälfte der Ungeimpften in Deutschland laut einer Umfrage, der Ukraine-Krieg sei vor allem „ein Manöver, um von der Pandemie-Politik abzulenken“, berichtet Nocun. Auch der Verfassungsschutz warnt, es würden „verstärkt tagesaktuelle politische Inhalte aufgegriffen und mit Verschwörungsmythen belegt“. Dazu zählten neben dem Angriff auf die Ukraine auch „gestiegene Gas- und Ölpreise und Lebenshaltungskosten, Klimawandel und Antiamerikanismus“.
Immerhin: Derzeit bringt die Szene, anders als in der Corona-Hochphase, landesweit keine 5000 und bundesweit keine 30.000 Demonstranten mehr auf die Straße. Das aber beruhigt die Expertinnen Müller-Witt und Nocun ebenso wenig wie den Verfassungsschutz. Denn: Ihre Netzwerke seien ja nach wie vor intakt und groß. Und noch im Mai 2022 gaben immerhin gut 60.000 Wahlberechtigte in NRW ihre Stimme der Partei „Die Basis“. Sie gilt vielen Beobachtern als politischer Arm der Pandemie-Leugner. Ihr Spitzenkandidat bei der Bundestagswahl 2021 sagte, die Bundesregierung plane ein KZ für Ungeimpfte und arbeite an Verbrechen, die schlimmer als der Holocaust seien.
Gleichwohl warnt die Beratungsstelle Sekten-Info NRW davor, politisierte esoterische Verschwörungsgläubige respektlos, undifferenziert oder überheblich zu behandeln. Dadurch würden sie meist nur bestärkt in ihrem Weltbild. Außerdem versammele sich unter dem Begriff Esoterik heutzutage eine extrem
vielschichtige Bewegung. Und in der begegnet man krudem Okkultismus und altgermanischem Runen-Zauber ebenso wie gesunden Tee-Rezepten und weithin anerkannten Praktiken wie etwa der Meditation. Und die entstammt nun mal den beiden Weltreligionen des Hinduismus und des Buddhismus – nicht der überhitzten Fantasie einiger Verschwörungsgläubiger.
10.000 Anhänger mindestens
Im Mai 2021 untersuchte der Verfassungsschutz das Personenpotenzial verschwörungsgläubiger Corona-Leugner in NRW. Er erfasste die Reichweite der Gruppen „Querdenken“ und „Corona-Rebellen“ in sozialen Netzwerken. Ihre NRW-Gruppen hatten auf Telegram zusammen 17.500 Mitglieder, bei Facebook rund 16.500 Abonnenten. Bereinigt geht der Verfassungsschutz von über 10.000 Anhängern aus.