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Fernreisen Papua-Neuguinea

Aus Kannibalen und Kopfjägern wurden Fischer

Im tropischen Dschungel von Papua-Neuguinea braucht man starke Nerven. Denn noch bis vor wenigen Jahrzehnten lebten hier Kopfjäger und Kannibalen – manche behaupten sogar, es gebe sie immer noch.

Plötzlich standen ihm ein Dutzend Krieger gegenüber. Sie waren vom Stamm der Beoni und blickten ihn finster an. Ihre Bögen waren gespannt, die Pfeile zielten auf ihn: Gottfried Oosterwal, Anthropologe und Missionar. Sie nahmen ihn mit in ihr Dorf. Irgendetwas war dort im Gange. Oosterwals Blick schweifte umher und blieb an ein paar Frauen hängen, die Sago zubereiteten. Sie mischten es mit einer grauen Masse.

Was mag das graue Zeugs wohl sein? Dann schoss es ihm durch den Kopf: Menschenhirn! Sein Magen bäumte sich auf. Nun bemerkte er auch, was neben den Frauen lag: Fleischstücke, von Menschen! Mit einem Gefühl lähmenden Entsetzens begriff er, dass er in die Vorbereitungen für ein Kannibalenfest geraten war, dessen Gäste sich schon bald durch Trommelgeräusche aus den Tiefen des Dschungels ankündigten.

Oosterwal will es um das Jahr 1960 so erlebt haben, in der West-Hälfte Neuguineas, die damals Niederländisch-Neuguinea hieß und heute als West-Papua zu Indonesien gehört. Manche zweifelten am Wahrheitsgehalt solcher Geschichten, besonders, wenn sie von Kirchenleuten stammten. Man unterstellte ihnen, sie als Vorwand zur Missionierung zu nutzen. Doch auch Forschungsreisende, Polizisten und Einheimische erzählten von Kannibalen, nicht nur im Westen, auch im Osten, der seit 1975 den Staat Papua-Neuguinea bildet.

Kannibalismus gehörte zum Alltag

Was ist dran an den Geschichten? Neuguinea liegt am Ende der Welt. Eine riesige wilde Tropeninsel nördlich von Australien. Sie ist mehr als doppelt so groß wie Deutschland, Heimat der legendären Paradiesvögel, Ort Hunderter Sprachen und Dialekte.

Quelle: Die Welt Infografik

Noch im 21. Jahrhundert ist sie voller Geheimnisse und Rätsel, trotz um sich greifender Moderne, westlicher Kleidung, Autos und Mobiltelefonen. Erst 1933 drangen Weiße ins Hochland vor und erfuhren, dass dort Menschen leben. Es waren Hunderttausende. Die Welt hatte sie vergessen. Und Kannibalismus gehörte zum Alltag.

Der berühmteste Fall ereignete sich im Westen und drehte sich um Michael Rockefeller, Spross des Rockefeller-Clans. 1961 verschwand er spurlos an der Südküste. Viele glauben, dass er den Asmat in die Hände fiel; die waren für ihre Kopfjagd berüchtigt.

Heute leben sie friedlich, die alten Zeiten sind vorbei. Von den im Südosten lebenden Korowai wird allerdings behauptet, sie würden in schwer zugänglichen Gegenden noch immer Kannibalismus praktizieren. Aber manche sagen, dieses Gerücht würde für touristische Zwecke gestreut.

Legendär – wegen der Schnitzkunst und der Kopfjagd

Auch in der Osthälfte der Insel, im heutigen Papua-Neuguinea, waren Kopfjagd und Kannibalismus weit verbreitet. Teilweise noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg. So sorgten die kriegerischen Kukukukus südöstlich des Hochlands für Angst und Schrecken.

Im Nordwesten soll es kannibalische Raubzüge gegeben haben, und entlang des Sepik-Flusses lauerten notorische Kopfjäger. Nicht weit entfernt, am Karawari, lag ebenfalls ein gefürchtetes Kannibalen-Gebiet.

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Es gibt zwar Straßen, doch nicht überall. Ohne Flugzeug geht hier nichts. Und viele Gebiete sind noch immer von dichtem Dschungel durchzogen. Die Anreise dauert bis zu zwei Tage, und nach jedem Umstieg werden die Flugzeuge kleiner. Wer in abgelegene Gebiete will, sitzt zum Schluss in einer kleinmotorigen Maschine. Ihr Ziel: Timbunke, am mittleren Sepik.

Der Fluss „steht für Moskitos, Krokodile, Kannibalen und im Wasser treibende Leichen – und ich kann versichern, ich habe alles gesehen“, schrieb 1932 die US-Ethnologin Margaret Mead. Schon damals war der Sepik legendär, wegen der Schnitzkunst seiner Anwohner, doch vor allem wegen ihrer Kopfjagd.

Nur der Schädel interessierte – als Trophäe

Männer begaben sich in die Kulthäuser, riefen die Ahnen an, vollzogen Riten, schlugen die Trommeln. Wenn es dunkel wurde, begann die Jagd. Oft zogen ganze Gruppen los. Bis an die Zähne bewaffnet stiegen sie in ihre Kanus. Das Ziel wurde vorher ausgekundschaftet. Dort legten sie sich auf die Lauer. Wenn die ahnungslosen Opfer nahten, griffen sie an. Sie töteten jeden, der ihnen vor die Speere kam.

In Kanganamun zeigt ein Dorfbewohner einen alten, übermannsgroßen Speer. „Der wurde noch für die Kopfjagd genutzt“, sagt er. Nachdem das Opfer getötet wurde, trennte man den Kopf ab. „Den Körper ließ man meist zurück“, sagt ein anderer. Man war oftmals nur am Schädel interessiert. Als Trophäe.

Eine von ihnen liegt unter jedem Pfosten ihres Geisterhauses, dem Haus Tambaran: Zentrum jedes Sepik-Dorfes, Ort geheimer Zeremonien, bei denen Frauen nicht erlaubt sind. Ein Dritter präsentiert zwei Holztrompeten. „Die sind uralt und wurden noch mit Steinwerkzeugen geschnitzt.“ Als er hineinbläst, hallt ein monumentaler Ton über das Areal hinweg. „Das sind Kopfjagdtrompeten. Man nutzte sie, wenn eine Schädeltrophäe erbeutet wurde.“

Im Dorf Palimbei erzählt Dorfvorsteher Aron, wie es weiterging: „Die Köpfe wurden auf Blutsteinen vor dem Geisterhaus deponiert. Anschließend hat man sie gekocht, um das Fleisch zu lösen. Dem Sud wurde manchmal Hundefleisch hinzugegeben und daraus Suppe gemacht, für verdiente Krieger und wichtige Leute. Danach wurde der Schädel präpariert, bemalt und dekoriert, schließlich auf einem Schädelständer im Geisterhaus platziert.“

Je mehr, desto besser, sie bedeuteten Macht und Prestige. Heute sind die Schädel verschwunden – verboten, vergraben, verkauft. Statt ihrer künden Seile vom Ruhm ihrer Vorfahren, genauer: die Knoten darin. Ein Knoten steht für einen Kopf. Das Seil in Palimbei ist voll davon.

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Heute braucht am Sepik niemand mehr Angst um seinen Schädel zu haben. Die Kopfjäger haben ihre Aktivitäten schon vor Jahrzehnten eingestellt. Der Brauch gilt als erloschen. Das sagen auch die Einheimischen. Stattdessen klingeln Handys im Geisterhaus.

Bizarre Werke, wie aus einer anderen Welt

Eine halbe Flugstunde entfernt liegt der Karawari, ein südlicher Nebenfluss des Sepik und einstiges Kannibalen-Gebiet. Wie ein Mäanderband schlängelt sich der Fluss durch Sumpfland und Dschungel, der wie ein grüner Teppich daliegt, ausgerollt bis zum Horizont. Hier und da werden Hütten sichtbar, aus denen Rauch aufsteigt.

Die Maschine geht runter und setzt auf. Als der Propeller still steht, öffnet sich die Tür zu einer wilden, fremden Welt – irgendwo im Nirgendwo. Extreme Luftfeuchtigkeit schlägt einem ins Gesicht und merkwürdige Tiergeräusche drängen ins Ohr; der Sound einer der entlegensten und ursprünglichsten Regionen. Es weht kein Wind. Nicht mal ein Hauch. Und es ist brütend heiß. Ringsherum nur dampfender Dschungel. Und der Karawari.

Tourist filmt zufällig Vulkan-Ausbruch

Es sind wohl die spektakulärsten Videobilder seines Lebens. Phil McNamara war als Tourist am Mount Tavurvur in Papua-Neuguinea. Zufällig filmte er den jüngsten Ausbruch des Vulkans - ein Viral-Hit!

Quelle: Zoomin.TV

Bis vor wenigen Jahrzehnten war die Region fast unbekannt. Und mit ihr die Bewohner, ihre Kultur und einzigartige Holzschnitzkunst. Es war eine New Yorker Ausstellung, die die Welt 1968 erstmals auf die hier lebenden Menschen und ihre Kunst aufmerksam machte.

Bizarre Werke, wie aus einer anderen Welt. Sie sind plastischer Ausdruck von Geistersphären und verkörpern oft Dämonen, die bei der Jagd behilflich waren – nicht nur auf Tiere, wie die Einheimischen sagen. Auch auf Menschen.

„Alle hier waren alle Kannibalen“, sagt Paul, „bis in die 60er-Jahre. Dann war Schluss.“ Der Mittvierziger wuchs am Karawari auf, er lebt in einem der 50 Dörfer, die sich entlang des Flusses reihen, Heimat von ein paar Tausend Menschen. „Viele Dörfer sind kaum älter als ein, zwei Generationen. Zu Kannibalismus-Zeiten war es gefährlich, am Fluss zu wohnen. Es drohten jederzeit Überfälle.“ Vielerorts herrschte permanenter Kriegszustand.

Figuren mit dem Blut der Opfer eingeschmiert

Mit einem Jet-Boot geht es zum Dorf Tanganimbit. Hier steht das Männerhaus. Kultische Schnitzereien und Jagddämonen lehnen an der Rückwand. Aufgereiht daneben sieben Totenschädel. Manche scheinen sich mit ihren Zähnen am Brett festzukrallen. Es sind Trophäen von Kopfjagden. Die gab es hier auch.

Alle initiierten Männer aßen das Fleisch
Paul, Einwohner von Karawari

Dorfbewohner Joseph zeigt die Schnitzereien vor. „Manche sind sehr alt. Sie stammen aus umliegenden Felshöhlen. Von dort kommen auch meine Ahnen.“ Im Dorf hat sich herumgesprochen, dass Besuch da ist. Ganze Familien strömen aus ihren Hütten, während die Männer von den Jagdfiguren erzählen.

In Ritualen wurden sie vor jedem Vorhaben magisch aufgeladen. Jäger sollten sie so zu ihrer Beute führen und Krieger zu ihren Feinden. Nach erfolgreicher Jagd wurden die Figuren mit dem Blut der Opfer eingeschmiert. Getötete Feinde wurden auch verspeist. „Alle initiierten Männer aßen das Fleisch“, sagt Paul.

Wer hier reisen will, nutzt Kanus – Einbäume, die Wassertaxis vom Karawari. Ständig paddeln Einheimische vorbei, Männer im Stehen, Frauen im Sitzen. Für sie ist der Fluss die einzige Verbindung zur Außenwelt. Straßen gibt es nicht. Die nächste Stadt ist ein paar Tagesreisen entfernt.

Die isolierte Lage bewahrte ihre weitgehend traditionelle Lebensweise. Trotz westlicher Kleidung, Generatoren und ein paar Mobiltelefonen geht hier alles seinen gewohnten Gang. Ohne Hektik. Niemand hat es eilig, nicht mal die Tiere, wie ein vorüberziehender Nashornvogel zeigt, der mit langsamem Flügelschlag gemächlich das Idyll planschender Kinder am Ufer passiert.

Wenn es etwas gibt, das hier jeder hat, ist es Zeit. Fragt man die Menschen nach ihrem Alter, bringt man sie in Verlegenheit – sie wissen es oft nicht. Es interessiert auch niemanden.

Manche sollen Tote aus den Gräbern holen

An einer Flussbiegung sitzen Frauen im Einbaum und fischen. Was sie fangen, landet schnell auf der Feuerstelle ihrer Hütten, die, wie am Sepik, auf Pfählen ruhen – wegen Überschwemmungsgefahr. Was sie sonst brauchen, bauen sie an: Tabak, Süßkartoffeln, Taro, Gemüse, Bananen. Reguläre Arbeit gibt es kaum.

Wer kann, fertigt Souvenirs, meist Schnitzereien von Jagddämonen – für Touristen. Rund 300 verirren sich pro Jahr hierher, sagt Augus, Manager der „Karawari Lodge“. Er muss es wissen, es ist die einzige komfortable Unterkunft weit und breit. Sie liegt auf einer Anhöhe. Das Panorama ist überwältigend, besonders in der Dämmerung, wenn sich Nebelschwaden über den Fluss wälzen.

Nächte gelten hier als unheilschwanger. Es ist die Zeit, in der sich dunkle Mächte umhertreiben. Für viele Menschen in Neuguinea sind Hexen, Zauberer und schwarze Magie realer Bestandteil ihrer Welt, zu der sich in Gegenden wie dieser noch Kannibalismus gesellte.

Inzwischen hat sich der Speiseplan am Karawari geändert. Der Brauch gilt gemeinhin als ausgestorben. Doch garantieren kann das niemand. Noch heute existieren abgelegene Gebiete. Und im Hochland erzählt man sich, dass manche Menschen Tote aus den Gräbern holen.

Die Teilnahme an der Reise wurde unterstützt von Trans Niugini Tours, Papua New Guinea Tourism und Singapore Airlines. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter www.axelspringer.de/unabhaengigkeit.

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