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Sport Böser Fehlstart

Fußtritte für die Euphorie beim HSV

03.08.2018, Hamburg: Fußball 2. Bundesliga, Hamburger SV - Holstein Kiel, 1. Spieltag im Volksparkstadion. Hamburgs Spieler gehen nach dem Abpfiff über den Platz. Foto: Daniel Bockwoldt/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ 03.08.2018, Hamburg: Fußball 2. Bundesliga, Hamburger SV - Holstein Kiel, 1. Spieltag im Volksparkstadion. Hamburgs Spieler gehen nach dem Abpfiff über den Platz. Foto: Daniel Bockwoldt/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Hamburgs Spieler um den jungen Abwehrchef Rick van Drongelen (l.) gehen nach dem Abpfiff geschlagen vom Feld
Quelle: dpa
Obwohl der HSV erstmals in der Geschichte nur zweitklassig spielt, entstand im Sommer rund um den Klub eine wahre Euphorie. Nach dem verpatzten Start müssen die Fans nun mit Enttäuschungen umgehen.

Hamburg-Stellingen. Zwischen kargen Betonpfeilern und rissiger Asphaltdecke stapeln sich am Samstagmorgen Berge von Müll auf dem Bahnhofsvorplatz. Weggeworfene Bierbecher und Pappteller sind hier, einen Kilometer Luftlinie vom Volksparkstadion entfernt, die Überreste des ersten Zweitligaabends in der Geschichte des Hamburger SV.

Zerplatzte Flaschen wie stumme Zeugen der zerplatzten Hoffnungen vieler Fans. Euphorie hatte sich in den vergangenen Wochen beim Anhang des Bundesligaabsteigers breitgemacht und musste nach dem 0:3 (0:0) gegen Holstein Kiel am Freitagabend einmal mehr großer Enttäuschung weichen.

Der Hamburger SV verlor beim Debüt in der Zweiten Liga 0:3 gegen Kiel
Hamburgs Zugang Khaled Narey (M.) kann das 0:3 gegen Kiel kaum fassen
Quelle: dpa

Keine 24 Stunden zuvor hatte sich hier noch ein ganz anderes Bild gezeigt. Zwischen HSV-Kultkneipe „UnabsteigBAR“ und „Shuttle-Imbiss“ brachten sich Anhänger schon zur Mittagszeit mit viel Alkohol und großer Lautstärke in Stimmung. Wer hier die Zeit bis zum Spiel verbringt, ist nicht nur Fan. Wer hier feiert, lebt den HSV.

So wie Jörg und seine Kumpel von der „Krawattenfront“. Seit 30 Jahren besuchen sie die Spiele ihres Herzensvereins. Stilecht in Jeanskutten, deren Aufnäher von vielen Begegnungen mit anderen Fans und der Freundschaft zum BVB zeugen.

Jörg kosteten die vergangenen Jahre einen Teil seiner Gesundheit. Die schlechten Ergebnisse und die ständige Abstiegsangst – sie gingen Jörg ans Herz. „Das hat mich richtig runtergezogen. Ich musste Tabletten nehmen, um damit klarzukommen.“

HSV-Fan Jörg vom Fanclub "Krawattenfront" am Bahnhofsvorplatz Stellingen mit einem Kameraden
HSV-Fan Jörg vom Fanclub "Krawattenfront" am Bahnhofsvorplatz Stellingen mit einem Kameraden
Quelle: DW

Ausgerechnet der Abstieg Ende der vergangenen Saison war für ihn wie eine Erlösung. „Endlich war das Thema durch. Und weil unser Team am Ende sogar guten Fußball zeigte, konnten wir erhobenen Hauptes den Gang in die Zweite Liga antreten.“ Spontan beschlossen er und seine Kumpel, nach dem Abstieg ein Zeichen zu setzen und endlich offizieller Fanclub zu werden. Zufällig sogar der 1000. des HSV.

Dino mit Pflaster

Wie ihm und seinen Kameraden ging es in Hamburg vielen. Seit dem Abstieg vor drei Monaten durchlebte die Hansestadt eine faszinierende Transformation. Hatten Ultras am letzten Spieltag noch den Volkspark zum Brennen gebracht, entbrannte beim Volk nun die Leidenschaft für den HSV. Eine echte Euphorie entwickelte sich um den Klub. Knapp 8000 neue Mitglieder zählte der Verein in der Sommerpause. Überraschend positiv und mit einer gehörigen Portion Sarkasmus wurde die Zweitklassigkeit angenommen und aus der Not teilweise gar eine Tugend gemacht.

Das Maskottchen ist weiter ein Dinosaurier. Aber Hermann trägt jetzt ein Pflaster auf der Nase. Ganz nach dem Motto: Ja, wir haben einen Schlag abbekommen, aber umfallen werden wir deshalb nicht. Auch die Stadionuhr, die bis zur letzten Saison die ununterbrochene Bundesligazugehörigkeit des HSV symbolisierte, zählt nun einfach die Zeit seit Vereinsgründung am 29. September 1887.

HSV Kultkneipe "UnabsteigBAR" am Bahnhof Stellingen
HSV Kultkneipe "UnabsteigBAR" am Bahnhof Stellingen
Quelle: DW

Auch vor dem Stellinger Bahnhof hat diese Form der Verarbeitung mit einem Augenzwinkern Hochkonjunktur. Seit 2012 ist die „UnabsteigBAR“ vor, während und nach den Spielen des HSV für viele Fans der erste Anlaufpunkt. Tausende Fans mit der Raute auf der Brust gehen hier an einem Spieltag ein und aus, sagt Besitzer Mario Drifte. Auch nach dem Abstieg hat die Kneipe ihren Namen behalten. Mit dem kleinen Zusatz, dass ein Foto der letzten Zeit auf der Stadionuhr hinter den Namen geklebt wurde.

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Sonst läuft für ihn und seine Kunden alles wie immer. „Leider leben wir vielerorts in einer Wegwerfgesellschaft. Aber man muss doch zu seiner Liebe halten“, sagt Drifte. Und es gibt viele, die den HSV noch lieben, auch wenn der verpatzte Auftakt in die Saison ein „Megadämpfer“ ist, wie es HSV-Sportchef Ralf Becker am Samstag nach dem Auslaufen der Profis auf den Punkt brachte.

Auf dem Trainingsgelände neben dem Volksparkstadion waren die Spuren des Vorabends schon deutlich besser beseitigt als in Stellingen. Knapp 50 Fans hatten sich dort eingefunden, um einen Blick auf ihre Idole zu werfen. Sie zeigten sich mit ihrem Team noch relativ milde. Dass die Mannschaft so dermaßen eingebrochen sei und gleich 0:3 verloren habe, sei zwar ganz schön heftig, aber noch habe das mit durchschnittlich 22,9 Jahren jüngste Team im deutschen Profifußball Kredit. Genau wie oder gerade wegen Trainer Christian Titz.

Mit seiner sympathischen Art und seinem Fokus auf eigene Talente, die attraktiven Fußball zeigen, eroberte sich der 47-jährige Trainer zum Ende der Abstiegssaison einen Platz im Herzen der Hamburger Fans. T-Shirts mit der Aufschrift „I love big“ und dem Gesicht von Titz sind ein Renner. „Wäre Titz drei, vier Wochen früher für Hollerbach gekommen, wären wir nicht abgestiegen“, sagt auch Krawattenfrontler Jörg am Tag nach dem Spiel und wirbt dafür, dem 18. HSV-Trainer in den vergangenen zehn Jahren etwas mehr Zeit zu geben als dem einen oder anderen Coach zuvor. Auch wenn der ehemalige U21-Trainer im Profigeschäft noch relativ unerfahren sei.

Dass Titz mit seiner Aufstellung und seinem System Anteil an der Niederlage gegen Kiel habe, sei ihm klar. „Aber wir können doch nach einem Spiel nicht schon wieder alles infrage stellen. Titz ist ein junger Trainer mit einer Idee. Da muss doch auch mal ein Fehler erlaubt sein, ohne dass sofort nach einem neuen geschrien wird.“

„Nicht die echten HSV-Fans“

So geduldig wie Jörg und die Trainingsbesucher zeigten sich am Freitagabend nicht alle Fans. Schon nach 50 Minuten, beim Stand von 0:0, hallten die ersten Pfiffe durch den Volkspark. Spätestens nach dem 0:2 hatten einige Besucher schon wieder genug. Eine Viertelstunde vor Schluss waren etwa ein Fünftel der 57.000 Zuschauer im ausverkauften Stadion schon wieder gegangen.

„Dieses Eventpublikum gab es hier schon immer. Die denken, wenn sie ein Ticket kaufen, haben sie Anspruch auf einen Sieg. Das sind nicht die echten HSV-Fans“, sagt Jörg. Und tatsächlich: Ein Großteil der verbliebenen Zuschauer schenkte den Spielern auch nach dem Schlusspfiff noch lautstarken Applaus. Mehr als drei Jahrzehnte nach dem letzten großen Titelgewinn (DFB-Pokal 1987) sind die Ansprüche in Hamburg kleiner geworden. Ewig werden aber wohl selbst die treuesten Fans die sportliche Talfahrt des Klubs nicht mehr mitmachen.

Einer dieser Ur-Hamburger stapfte am Samstagvormittag bei glühender Hitze mit hochrotem Kopf, grauem Backenbart, pinkfarbenem HSV-Trikot und Lederweste über den vermüllten Bahnhofsvorplatz in Hamburg-Stellingen. Von seinem linken Ellenbogen zog sich eine getrocknete Blutspur bis zur Hand. „Ein Andenken an unser erstes Zweitligaspiel“, sagte der Mann namens Maik und fügte mit einem schiefen Lächeln hinzu: „Echte Fans bluten halt für ihren HSV.“

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