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Abrechnung mit der „schamlosen Generation“

2011 wurde bei dem Journalist Sven Kuntze ein gutartiger Hirntumor diagnostiziert, nach dessen operativer Entfernung erlitt er eine partielle Gesichtslähmung 2011 wurde bei dem Journalist Sven Kuntze ein gutartiger Hirntumor diagnostiziert, nach dessen operativer Entfernung erlitt er eine partielle Gesichtslähmung
2011 wurde bei dem Journalist Sven Kuntze ein gutartiger Hirntumor diagnostiziert, nach dessen operativer Entfernung erlitt er eine partielle Gesichtslähmung
Quelle: Stephan Pick/C. Bertelsmann Verlag
Der frühere WDR-Journalist Sven Kuntze, von einer Tumor-OP gezeichnet, hat ein Buch über die „Fledderer der Zukunft“ geschrieben. Es ist eine niederschmetternde Abrechnung mit den 1940er-Geborenen.

Für den Mann, der jahrelang dem ARD-„Morgenmagazin“ sein Gesicht lieh, muss es brutal sein, der Kamera nur noch eine Wange hinhalten zu können. Seit einer Gehirntumoroperation im Sommer 2013 hat seine linke Gesichtshälfte die Fassung verloren. Sie hängt herab wie nach einem Schlaganfall. Nicht einmal Sven Kuntzes wohltemperierter Bariton kommt ohne Hilfestellung über die Lippen. Mit dem Mittelfinger der Linken schiebt er den Mundwinkel auf eine Höhe, die es erlaubt, Labiale und Zischlaute auszusprechen. Die Leute erkennen ihn nicht mehr.

„Altern wie ein Gentleman“ (2011) hieß Kuntzes Bestseller, in der er für Alters-WGs und für einen würdigen Freitod plädierte. 150.000 verkaufte Exemplare, mehr als 100 Lesungen. Das war seine Kragenweite. Nun hat das Altern ihn anders erwischt, als er es für möglich hielt. Seine Haltung ist eines Gentleman würdig.

„Das is nun so“, sagt der 72-Jährige Gästen, um ihnen Mitleid auszutreiben, passiert und nicht zu ändern. Und er redet (es) sich selbst gut zu. Manchmal sei er bitter, beleidigt, habe Rachegelüste wie jeder Mensch, dem ein solcher Gesichtsverlust widerfährt. „Aber ich habe etwas entdeckt, was in meiner Jugend schlechte Kritiken bekam: Verdrängung.“ Statt totaler Offenheit anderen und sich selbst gegenüber, die gnädige Lüge, das wohltuende Schweigen. „Die Fähigkeit ist eine der kostbarsten Eigenschaften“ sagt er nuschelnd, weil er den Finger etwas sinken ließ, „gerade im Alter“. Sven Kuntze ist ein belesener und lebenskluger Mann. Das attestieren ihm selbst jene, die ihn damals, als WDR-Korrespondent in New York und Washington, dann an der Morgenfront und nach der Wende im Hauptstadtbüro für zu ostentativ links hielten.

Der Zorn des Weltverbesserers Kuntze

Das Weltverbessern kann er nicht lassen; nur wendet er seine Kritik gegen die eigene Generation der „Vierziger“. Denen, die den Nachgeborenen eine „niederschmetternde Mängelliste hinterlassen“, überschuldete Haushalte, ruiniertes Klima und sich selbst an fetten Renten schadlos halten, will er am liebsten den Mund verbieten. Kuntzes Vierziger sind Abzocker, Fledderer der Zukunft ihrer Kinder und Enkel.

„Wir sollten den Mund halten und im Hintergrund bleiben“, rät er. „Das Beste an dieser Generation ist, dass sie abtritt.“ Noch nicht ganz. Und Kuntze denkt am wenigsten daran, den Mund zu halten (und dies ist kein zynisches Wortspiel). Sein Zorn verdient Respekt. Eine Menge Dinge, derer er sich und seine einst „skeptische Generation“ bezichtigt – Selbstverliebtheit, die Neigung zum Wasserpredigen und Weinverkosten, Prassen, als gebe es kein Morgen – sind wiederzuerkennen. Erstaunlich ist die Unversöhnlichkeit seiner Selbstbezichtigung. Vielleicht hat ihn der Kunstfehler, der ihm im Gesicht geschrieben steht, radikalisiert. Die Anklageschrift füllt 250 Seiten eines neuen Buchs: „Die schamlose Generation“.

„Soll ich mich Jahre mit dem Arzt herumärgern. Das bringt doch nichts“
Sven Kuntze

Über Kunstfehler will Sven Kuntze übrigens nicht reden. Eine Koryphäe in Tübingen operierte und war sicher, dass alles glattgeht. Der nie erkannte Tumor, der ihm zwei in der Berliner Charité fehldiagnostizierte Hörstürze eingetragen hatte, war zu groß, der Nerv wurde durchtrennt. „Aber soll ich mich Jahre mit dem Arzt herumärgern. Das bringt doch nichts.“ Alles sei Menschenwerk, auch die Medizin, er habe in seinem Beruf genug Fehler gemacht. Die Gelassenheit hat Züge von Zen. Der Mann hat Schopenhauer und Freud, Dahrendorf und Lenin nicht nur gelesen, sondern auch genügend begriffen, um seine Gedanken im Buch damit zu schmücken. In der Bibel ist er nicht so firm, er glaubte einmal an den Kommunismus. Er lacht sich längst dafür aus.

Leben wollen mit einer hohen Dosis an Verdrängung

Das Buch ist eine Generalabrechnung mit autobiografischen Einsprengseln. Er schaut auf Adenauer und den Rock ’n’ Roll – er verehrte den Schwarzen Little Richard, Elvis war White-Trash-Schmalz (in den Sechzigern teilten in ähnlicher Weise Stones- und Beatles-Fans die Welt in authentische und Pseudo-Rebellion). Der Auschwitzprozess, Theodor Adorno, von der Frauenbewegung erzwungene Männergruppen tauchen auf und wieder ab. Kuntze kann wunderbare Dialoge schreiben. Die Debatte der verunsicherten Genossen am Küchentisch ist eine Zierde für das Buch. Zugleich sind diese Szenen und Reminiszenzen kalkulierte Gegengifte zu langen Sachbuchpassagen über den Zeitgeist der „Vierziger“, die im Grunde „Achtundsechziger“ sein könnten, hielte die Kuntze nicht für eine Erfindung.

In Markus Lanz’ Show versprach er, er werde sein Leben vorzeitig beenden, wenn er es nicht mehr ertrage: „Vom 12. Stock eines Hauses hopsen.“ Die Flapsigkeit stand ihm nicht so gut. Der Mann will noch leben, mit einer guten Dosis Verdrängung. „Glücklich ist, wer vergisst …“, die Talkshowrunde tippte auf Lehar, meinte Strauss’ „Fledermaus“. Kuntze ist nicht unglücklich.

„Ungehörig“ fänden wohl manche sein Buch. Von den 20 oder 30 Kollegen, die mit dem neuen Buch bemustert wurden, habe er noch nichts gehört. Er sei nicht sicher, ob es irgendeiner lesen werde. Es muss den Fernsehprofi Kuntze manchmal anöden, dass er zu den Shows weniger wegen des Buches als wegen seines Leidens eingeladen wird. Wenn Sven Kuntze das „erbärmliche Erbe“ seiner Vierziger aufrechnet, die gescheiterte Ausländerintegration und Bildungsreform, das Leben auf Pump ohne „Ehrfurcht und Pflichtgefühl gegenüber Kindern und Enkeln“, lässt das Interesse nach. Fasziniert sind Talkmaster wie Gäste von der Tapferkeit und Coolness, mit denen er sein Gesicht wahrt. Sven Kuntze ist sein eigenes Thema.

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